Von Chinatown bis zum Mars

Als ausgebildeter Sexualpädagoge beschäftige ich mich allein von Berufs wegen schon mit Fragen der Diversität und sexuellen Vielfalt. Und da ist mir doch mit „Last Night At The Telegraph Club“ ein wundervoller Roman ins Haus geflattert, der mich von Beginn an gefesselt hat. Er fällt in den Bereich der Jugendliteratur, doch auch ältere Erwachsene können sich hier sehr gut in die packende und emotionale Geschichte einfinden.

Zum Inhalt zunächst der Klappentext: Die siebzehnjährige Lily wächst Mitte der 50er Jahre in der chinesischen Community von San Francisco auf. Als sie bei einem Schulprojekt Kathleen kennenlernt, wird ihr klar, dass sie anders ist – und anders fühlt – als die anderen Mädchen. Die beiden freunden sich an und besuchen nachts heimlich eine verbotene Lesbenbar, den Telegraph Club. Hier taucht Lily in eine Welt ein, die sie maßlos fasziniert. Und ihr wird klar, dass sie mehr für Kath empfindet. Doch das Amerika des Jahres 1954 ist kein sicherer Ort für zwei Mädchen, die sich verlieben, schon gar nicht in Chinatown. Als ihre nächtlichen Besuche des Telegraph Club auffliegen, hat dies Folgen für Lilys Familie. Dennoch kann und will sie ihre Liebe zu Kath nicht aufgeben.

Damit ist schon viel gesagt, doch der Wert des Buches auf vielen Ebenen noch lange nicht gewürdigt. Zunächst geht es um das Coming Out einer jungen Frau in einer Zeit, da jedes Abschweifen vom Normalen geächtet und sogar bestraft wurde. Die Beschreibung der zerrissenen Gefühlswelt ist absolut gelungen und die Protagonisten um die Hauptperson bekommen schnell ein Gesicht. Man kann sich in alle Seiten sehr gut einfühlen.

Dabei geht es nicht nur um Homosexualität. Auch das Leben von immigrierten Chinesen in den USA wird historisch genau beleuchtet Als Mittel dienen dazu Zeitsprünge, in denen die Eltern von Lily in ihrem Ankommen und ihren Gefühlen beschrieben werden, die Auswirkungen bis in die Gegenwart des Romans haben. Hinzu kommt die verbreitete Angst vor dem Kommunismus in den 50er Jahren und die Auswüchse und Anfeindungen, die daraus entstehen.

Der Roman ist packend bis zum Schluss und man wünscht der jungen Handlungsträgerin ein glückliches Ende – inmitten von Menschen, die es gut mit ihr meinen, die sie lieben, die sie bevormunden, die ihre Persönlichkeit nicht akzeptieren oder sie verändern wollen. Die Autorin Malinde Lo gibt ihre Motivation zur Geschichte folgendermaßen an: „Zwei Bücher haben mich zu Lilys Geschichte angeregt. Zum einen ›Rise of the Rocket Girls‹. Der andere Titel stammt von Nan Alamilla Boyd und heißt ›Wide-Open Town. A History of Queer San Francisco to 1965‹. Sie gaben mir Einblicke in die Geschichte der Chinese Americans und ich begann mich zu fragen, wie das Leben eines queeren amerikanischen Mädchens mit asiatischen Wurzeln verlaufen sein mochte, das in den 50ern aufwuchs und von Raumschiffen träumte.“

Malinda Lo wurde im chinesischen Guangzhou geboren und wuchs in Colorado auf, nachdem ihre Familie in die USA emigrierte. Sie hat also zum Teil selbst erlebt, worüber sie schreibt, wenn auch in liberaleren Jahren. Ihr historischer Jugendroman ist ein packendes Meisterwerk mit vielen spannenden Elementen. Wer sich darauf einlässt, kann in eine Welt entfliehen, die zugleich märchenhaft und grausam wirkt. Viele Jugendliche scheinen das Buch momentan über TikTok zu entdecken. Endlich wird mir mal klar, wozu dieses Portal gut sein kann.