Boy George ist zurück und überraschend vielseitig
Es ist das erste Album von Boy George And Culture Club seit 20 Jahren – allein das ist schon eine Sensation. Allerdings sollte man nicht verschweigen, dass der Brite in der Zwischenzeit durchaus als Künstler aktiv war. Er hat ein Plattenlabel gegründet, ein Musical geschrieben, versuchte sich in Mode (ebenfalls mit eigenem Label) und hat vor fünf Jahren ein leidlich erfolgreiches Soloalbum veröffentlicht.
Was ist also das wirklich Überraschende, wenn ein umtriebiger Sänger die Reunion seiner Stammband mit einem neuen Album vorantreibt? Auf jeden Fall ist es die Vielseitigkeit des Werks – und dass man Boy George stimmlich kaum wiedererkennt. Nicht etwa, weil er’s nicht mehr drauf hat, sondern weil er so viele vokale Facetten zeigt, dass man nur staunen kann. Die kurzfristig per Computer entfremdeten Vocalparts seien mal geschenkt. Danach wird es auf jeden Fall stark: von Soul über Reggae und Gospel bis hin zu weltmusikalischen Elementen, die den Bandnamen Culture Club endlich wieder rechtfertigen, ist alles dabei.
Als erste chartrelevante Band mit Musikern verschiedener Nationalitäten und einem Frontmann, der ganz offen mit seiner Homosexualität umging, brachen Culture Club unzählige Rekorde und zementierten ihren Ruf als eine der aufregendsten und beliebtesten Formationen innerhalb der englischen Popkultur. Inzwischen klingt Boy Georges Stimme düster und romantisch – viel rauer, als man dies noch aus den 80er Jahren gewohnt ist.
„Meine Songs sind schon immer hinterfragt worden. Nicht nur von anderen, von mir selbst natürlich auch“, so Boy George. „Man verewigt in einem Stück eine bestimmte Erfahrung oder ein bestimmtes Gefühl; im Moment des Entstehens ist dieser Song für dich das Wichtigste auf der ganzen Welt. Ein Album ist eine mächtige, kraftvolle Sache. Ich glaube, ich lebe heute mehr im Augenblick und bin mir dessen so bewußt, wie nie zuvor. Das muss auch einen Effekt darauf haben, wie ich heute schreibe. Das Album transportiert eine Art von positivem Denken, das ich als fröhlichen Zynismus charakterisieren würde.“
So verhandelt er auf dem eindringlichen funky Lead-Track „God And Love“ die universellen Themen Liebe und den Glauben an eine allmächtige Kraft. Der Song „Bad Blood“ dagegen beschäftigt sich auf dunkle-atmosphärische Art mit Abhängigkeiten und dem Drang, sich als berühmte Persönlichkeit mit Menschen mit einem negativen Einfluss zu umgeben. Auf „Human Zoo“ verbinden sich fröhliche Soca-Elemente mit ungewöhnlichen afrikanischen Rhythmen zu einer weiteren universellen Botschaft: nämlich dass es einen passenden Partner für jeden Menschen gibt. Eine Erkenntnis, die sich in ähnlicher Form auch auf dem nach vorne gehenden Reggae-Track „Let Somebody Love You“ fortsetzt: Nur, wenn du dich selbst liebst, wirst du auch von anderen geliebt.
Auf dem bedeutungsschwangeren „What Does Sorry Mean“ kombinieren Culture Club zwei Gegensätze zu einem berührenden Ganzen: Zu entspannten Reggae-Klängen, die vor dem inneren Auge ein Kopfkino von paradiesischen Stränden erzeugen, entfesselt Boy George verstörende Lyrics über häusliche Gewalt. „A Different Man“ entstand nach dem Lesen eines Interviews mit dem amerikanischen Musiker Sly Stone, der damals in seinem Auto lebte. Ursprünglich handelte der Song komplett von Stone, entwickelte sich aber schließlich zu einem Stück darüber, wieder auf die Beine zu kommen. Mit „More Than Silence“ tritt Boy George den Beweis an, dass sich Gegensätze zwar anziehen, aber nicht unbedingt zusammen gehören. Den Titeltrack des Albums „Life“ hat George an sich selbst gerichtet. Ein positives Stück mit der Botschaft, dass die Dinge nur besser werden können.
Boy George ist weiterhin ein exzentrischer Künstler, der auffallen will – aber das ist ja heutzutage nichts Besonderes mehr. Viel stärker wirkt, was er musikalisch abliefert. Und das ist ein erstaunlich vielseitiges Album, das fest auf der Erde steht und deutlich in die Gegenwart passt.