Vom Zeitgeist, dem Leben und dem ganzen Rest

Ein Neustart? Im Alter von 73 Jahren ist Marius zum Label Sony Music gewechselt und darf auf dem Cover des 23. Studioalbums wieder seinen kompletten Namen Marius Müller-Westernhagen tragen. Soll man jetzt sagen: Es ist ein Alterswerk? Ehrlich gesagt habe ich mir mit jedem Album des Düsseldorfers nach „Halleluja“ und „Jaja“ recht schwer getan. Texte und Refrains waren nicht mehr so eingängig. Charakteristische Merkmale sind bisweilen wegproduziert worden. Das war gewiss so gewollt, doch es hat viele langjährige Fans verprellt.

Vor acht Jahren gab es mit „Alphatier“ ein absolut respektables Album, das ich nach etwas Anlaufzeit sehr ins Herz geschlossen habe. Danach war zunächst einmal Vergangenheitsbewältigung angesagt: Ein „MTV unplugged“ feierte Hits aus mehreren Jahrzehnten und erweckte einige fast vergessene Klassiker zu neuem Leben. Auch „Das Pfefferminz-Experiment“ im Jahr 2019 schwelgte in uralten Zeiten und verpackte das Erfolgsalbum „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ in einen Sound aus Country und Blues. Sehr geil, aber nicht der Marius, den sich die Fans zurückgewünscht haben.

Jetzt gab es mit „Zeitgeist“ endlich mal wieder eine Single, die meinen musikalischen Nerv auf Anhieb getroffen hat. Ein starker Text – Westernhagen hat immer noch etwas zu sagen. Unverblümte Worte, die gesellschaftlich relevant sind. Mehr als viele der sogenannten neuen Deutschpoeten zu Papier bringen. Mit einer Bedeutung für mich und sicherlich viele Hörer. „Zeitgeist“ ist eine donnernde Ansage an eine laute Gesellschaft, die sich von einer Kultur der Oberflächlichkeit blenden lässt und die damit verbundenen Schattenseiten bereitwillig in Kauf nimmt. Die Single prangert eine zum Lebensprinzip erklärte Substanzlosigkeit an. Gnadenlos und mit starken Worten.

Das könnte ein positiver Ausreißer sein, doch das ganze Album ist aus diesem Holz geschnitzt! In “Das eine Leben” blickt Marius nicht nur auf seine ganz eigenen Erfahrungen in den letzten zwei Jahren zurück, sondern greift auch gesellschaftskritische Themen auf, die aus Sicht des Künstlers in der sogenannten Corona-Zeit noch radikaler freigelegt worden sind. Seine Sprache ist wieder deutlicher und klarer als auf früheren Alben, seine Texte zeigen seine Haltung und seinen ehrlichen Blick auf die Welt von heute.

Fotocredit: Olaf Heine

Der Opener „Ich will raus hier“ wird vielen aus der Seele sprechen, die sich lange genug ohne Ausweg im Hamsterrad der Pandemie bewegt haben. Und Westernhagens „Achterbahngedanken“ kann sicher jeder nachvollziehen, der bisweilen nächtliches Kopfkino hatte, wenn sich das Karussell aus Sorgen mal wieder endlos gedreht hat.

Das Album handelt von Liebe und Vergänglichkeit, von Angst und Überforderung, von Wut und Verzweiflung. Es verhandelt Politisches wie Privates, Beiläufiges wie Zwingendes. Elegant schlägt der Singer/Songwriter dabei immer wieder den Bogen vom Persönlichen zum Gesellschaftlichen. In „Ich will raus hier“ bekennt er zunächst freimütig: „Ich vermisse New York City, ich vermisse auch Paris, ich vermisse Rome so pretty, gottverdammte Pandemie.“ Als engagierter Ausnahmekünstler, der er ist, belässt er es aber natürlich nicht bei seinem ganz individuellen Verzicht. Sich auf exklusive Befindlichkeiten zu verlegen wäre ihm schlichtweg zu banal. Deshalb beklagt er schon wenige Zeilen darauf: „Ich vermisse Mitgefühl mit denen, die noch vielmehr leiden, die leben müssen arm, bescheiden für die Kultur der Prahlerei.“

Doch es geht nicht nur um die vermaledeite Pandemie. „Schnee von gestern“ ist ein starkes Statement der Vergangenheitsbewältigung, das zugleich einen Blick auf die Gegenwart wirft: „Jedem, dem in diesen Zeiten noch ein Hirn geblieben, kann sich nur nur besaufen und alle Menschen lieben.“ Und mit „Spieglein, Spieglein an der Wand“ kann er sich zum einen selbst meinen, wenn es sich um Überheblichkeit und Selbstüberschätzung, um Macht und Größenwahn dreht, doch vielmehr geht es wohl um Menschen wie seinen ehemaligen Freund Gerhard Schröder, dem manche Zeilen auf den Leib geschneidert scheinen: „Die Frucht des Deals hast du genossen / man hat halt nur das eine Leben / wenn’s Plündern anfàngt wird geschossen“.

In „Die Wahrheit“ (einer von Piano und Streichern getragenen Ballade) geht es sehr in die Tiefen der eigenen Philosophie und „Dunkle Phantasien“ sind eine durchaus düstere Ansprache an die dunkle Seite der eigenen Persönlichkeit. Kann man mit 73 gerne mal offen aussprechen. Der letzte Song „Wenn wir über den Berg sind“ spinnt die Gedanken weiter in eine mystische Zukunft – und die Hoffnung, dass das ganze Leben nicht eine einzige Lebenslüge war.

Lange hat man auf ein neues, wirklich krasses und bewegendes Liebeslied von Marius gewartet. Dass er das kann, hat sich durch die ganzen Veröffentlichungen der 80er gezogen. Jetzt ist es mit „Ich werde dich lieben bis in den Tod“ endlich wieder soweit.Schaurig schön mit seiner schnoddrigen, verlebten Stimme. Und da fällt auch das „Abschiedslied“ ein, das keineswegs ein Abgesang auf die eigene Karriere ist, sondern ein weiterer Lovesong.

Für die Aufnahmen ist Westernhagen mal wieder eigens in die USA gereist. Dort ging er mit einer Handvoll Musiker um den Grammy-prämierten Produzenten und Multi-Instrumentalisten Larry Campbell ins Studio. Es ist nicht das erste Mal, dass Westernhagen mit Campbell gemeinsame Sache macht. 2009 lernten sich die beiden bei den Aufnahmen zu Westernhagens Blues-Album „Williamsburg“ kennen. Und auch beim Pfefferminz-Experiment arbeiteten sie zusammen. Campbell, der jahrelang für Bob Dylan spielte, gilt als einer der besten Gitarristen der Welt. Und weil er sich niemandem mehr beweisen muss, spielt er ausschließlich für den Song – und damit ganz in Westernhagens Sinne: „Gute Musiker spielen mit Demut und Bescheidenheit. Das ist einfach berührender und ehrlicher.“

Und so ist „Das eine Leben“ mehr als eine reine Momentaufnahme, mehr als Westernhagens ganz persönliches Covid-Tagebuch. Es ist das musikalische Psychogramm eines Ausnahmekünstlers, dessen Einzigartigkeit für sich steht und dessen Werk mit seinem Anspruch auf Relevanz über jeden Zweifel erhaben ist. Wir haben den alten Marius zurück, der sich nicht den Konventionen des Musikgeschäfts unterordnen muss. Die abwehrende Haltung auf dem Albumcover spricht Bände. Er setzt sich nicht in Pose. Da gibt es keine Eitelkeiten, keinen Armani-Rocker, keinen affigen Hut mit Krempe. So will ich meinen Marius – mit charismatischer Stimme, die mit 73 Jahren so stark und verlebt erklingt wie damals Ende der 70er. Mit einer Begleitband, die den Bluesrock lebt und eine fantastische Produktion an den Tag legt!

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