Kindheitserinnerungen und ein musikalischer Held

Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson hat mit „From Afar“ sein bisher persönlichstes Album auf den Markt gebracht. Das wird schnell klar, wenn man die Entstehungsgeschichte betrachtet. Das Album nahm im September 2021 Gestalt an, als Ólafsson einen seiner Lieblingskomponisten traf, den „Meister der wenigen Töne“ György Kurtág. Dessen „Aus der Ferne“ hallt wider im Titel der neuen Aufnahme. Weil Ólafsson nicht die richtigen Worte fand, um Kurtág für die Begegnung zu danken, die ihn so „leicht und froh“ gemacht hatte, suchte er stattdessen nach der richtigen Musik. „From Afar“ ist ein „Brief an einen Freund“, wie Ólafsson sagt. Originalminiaturen und Transkriptionen des ungarischen Komponisten hat er ausgewählt, verwebt sie mit isländischen und ungarischen Volksliedern sowie Stücken von Schumann, Brahms und Thomas Adès – Musik, die das Leben des Pianisten durchzieht.

Abseits der Klassik und im modernen Pop würde man „From Afar“ vermutlich als musikalisches Mixtape bezeichnen, in dem der Interpret seine Lieblingssongs und -melodien zu einer Einheit durchmischt und thematisch miteinander verbindet. Das ist ihm absolut gelungen und man kann stimmungsvoll in die klassischen Welten bekannter und weniger bekannter Komponisten eintauchen. Der junge Pianist aus Island entpuppte sich in der Vergangenheit schon mehrfach als hochintelligenter und innovativer Klangforscher, der das klassische Genre neu definiert. Dabei komponiert er nicht – wie viele seiner Zeitgenossen – selbst, sondern beschränkt sich auf filigrane Interpretationen bestehender Werke.

Hier gibt es aber noch eine zweite Besonderheit: Víkingur Ólafsson hat das komplette Album zweimal eingespielt: auf einem Steinway-Flügel und auf einem Klavier, dessen Klang durch eine Filzdecke auf den Saiten gedämpft wird. Zwei Klangwelten öffnen sich durch die verschiedenen Instrumente – farbenreich und atmosphärisch. Damit entsteht ein Kontrast, der ebenfalls mit Kindheitserinnerungen des Künstlers einher geht. Da die Eltern auch Musiker waren, hatte man zwar einen großen Flügel zuhause, der aber oft einfach besetzt war. Víkingur musste also oft auf ein einfaches Klavier ausweichen und weiß seitdem beides zu schätzen.

Der Hörer kann hier auf verschiedene Formen in Ólafssons intime Welt eintauchen. Als Empfänger einer spannenden Liebeserklärung an den musikalischen Helden und als Entdecker zweier unterschiedlicher Arten filigraner Interpretation. Fazit: absolut gelungen!