Reeperbahn Festival 2023 – der Mittwoch mit Brockhoff und Paula Hartmann
Leider kam ich so knapp in Hamburg an, dass ich die Opening Show im Stage Operettenhaus verpasst habe. Ohnehin dauert es jedes Jahr aufs Neue seine Zeit, bis man sich im Gewimmel auf dem Heiligengeistfeld und dem Spielbudenplatz zurecht gefunden hat. Hamburg wird in diesen Tagen jedes Mal zu einer Stadt voller Musik. Die Karte mit den Clubs und Spielstätten ist auf der App übersichtlich angeordnet, doch trotzdem kann das schon in eine ordentlich Rennerei ausarten. Zwischen Elbphilharmonie und Indra gibt es immerhin fast 500 Konzerte von gut 400 Künstler*innen aus 46 Nationen. Da kann man leicht den Überblick verlieren und sich trotz der Nutzung von S- und U-Bahnen die Schuhsohlen durchlaufen. Aber es lohnt sich! Schon am ersten Abend konnte ich mit Brockhoff endlich eine Künstlerin sehen, die schon lange auf meine Liste stand. Und auch die übrigen Acts waren absolut sehenswert.
Ich startete meine Runde im Imperial Theater bei Annahstasia. Die Künstlerin aus Los Angeles hatte sich in der Kulisse des Krimi-Theaters platziert, wo normalerweise Stücke von Edgar Wallace gespielt werden. Eine gemütliche Wohnzimmer-Atmosphäre also vor großer Bücherwand. Annahstasia Enuke war allein mit Gitarre auf der Bühne. Ihr meditativer Songwriter-Folk erinnerte bisweilen an Tracy Chapman und war sehr melancholisch, bisweilen gar (im absolut positiven Sinne) weinerlich. Für sie war es – nach eigenen Worten – der Bühnentest für ihr kommendes Album: „Wenn die Songs euch gefallen, kommen sie drauf“. Annahstasia sang von Träumen, von New York und vom Freundlichsein. Das Stück „Power“ interpretierte sie komplett a cappella und überzeugte mit ihrer großartigen Stimme.
In der St. Pauli-Kirche gab es das musikalische Projekt von Moritz Krämer und Francesco Wilking unter dem Namen Artur & Vanessa. Die Musik war ebenso ungewöhnlich wie das Ambiente des Konzertraums. In der evangelischen Kirche hatte man hinten eine ordentliche Bar aufgebaut. „Refugees Welcome“ gehört wohl auch zum Credo des Gotteshauses, was ich sehr sympathisch fand. Die große akustisch ausgerichtete Band erzählte mit einfühlsamen Lyrics und sehr entspanntem Sound die konzeptionell angelegte Geschichte von Artur und seinen großen Plänen: Er will mit Vanessa einen Freizeitpark für alle gründen, denen ein neues Leben vorschwebt. Die Geschichte wurde grandios umgesetzt – mit Musikern an Violine und Querflöte, Saxofon und Trompete. Es gab verschiedene Sänger*innen und mehrstimmigen Gesang. Absolut passend für die Location. Und die Story zwischen Naivität und Leichtigkeit ist es absolut wert, auf diese Art erzählt zu werden. Indiepop vom Feinsten!
Für Brockhoff ging es dann in den Bahnhof Pauli. Der Club ist einer U-Bahnstation nachempfunden und wie geschaffen für eine organisch starke Performance. Die Sängerin aus Hamburg wird bald ihre zweite EP herausbringen. Laut und rockig lieferte die Band starke Riffs und Lina Brockhoff sang dazu mit melodischer Stimme. Absolut grandios, welche Power sie in ihren Auftritt legte. Das Publikum feierte vom ersten Song an und ließ sich auch von einer Ballade wie „Japanese Garden“ (inspiriert vom Hamburger Park „Planten un Blomen“) nur kurzzeitig zur Ruhe bringen. Das Heimspiel ist definitiv gelungen und sie hat das Festival im Sturm erobert.
Auf dem Spielbudenplatz gab es dann open air die elektronischen Klänge von Aera Tiret. Absolut groovy in ihrem extravaganten Mix, aber auf Dauer dann doch zu eintönig. So zog es mich eher zurück ins Imperial Theater, wo Sophie May inzwischen auf der Bühne war. Mit ihrem Folkpop ist die 23jährige Sängerin währen Corona zum Tik Tok Star avanciert. Die melancholischen Songwriter-Stücke lieferte sie allein an der Gitarre. Es gab den grandiosen Coversong „I Wish I Was A Single Girl Again“ und einen sehr skurrilen eigenen Text, der von einem Traum handelt, in dem Sophie ihren Bruder küsst. Musikalisch erinnerte sie mich an die guten Tage von Kate Nash. Dabei sang sie mit sehr feiner und melodischer Stimme.
Paula Hartmann hatte mittags schon für einen Secret Gig und zur Präsentation ihrer neuen Single einige „Schwarze SUVs“ auf die Reeperbahn gebracht. Ein Auftritt der so furios war wie ihre Performance nach Mitternacht im Mojo Club. Die Musik der 22-Jährigen Berlinerin ist trotz ihrer Verortung im Urban Pop sehr vielschichtig und dicht. Sie erzählt Großstadtgeschichten mit Rap und Dancefloor Beats. Zurecht wurde sie hier von Amazon Music als Breakthrough Artist präsentiert. Das Publikum feierte sie vom ersten Song an gewaltig ab. Sie trat ohne Band auf – der Sound kam vom DJ Pult – doch das tat der Stimmung keinen Abbruch. Sie lieferte aggressive Songs („Du hast uns kaputt gemacht“) und emotionale Ansprachen zu einer Zeit, in der es ihr nicht so gut ging. Paula Hartmann ist es schon mit wenigen Veröffentlichungen gelungen, sich vom deutschen Einheitspop zu emanzipieren: Ausgehend von ihrer Debütsingle „Nie verliebt“ zeichnet sie mit ihrer Musik und mit ihren Texten ein in sich geschlossenes Bild vom Durcheinander der Gefühle, der Sehnsucht nach Liebe und Nächten im Rausch. Damit war sie im Mojo goldrichtig.