NEAL MORSE in seinem Element: „Jesus Christ The Exorcist“
Nein, überraschend kommt es nicht, dass Neal Morse eine Rockoper zum Leben von Jesus Christus geschrieben hat. Es verwundert schon eher, wie lange er sich dafür Zeit ließ. Im Jahr 2008 hat Neal eine Aufführung von „Jesus Christ Superstar“ gesehen und kam zu der Erkenntnis, dass es ein weiteres Musical um die Geschichte des Jesus von Nazareth braucht. Und auch seine Version ist ein monumentales Epos geworden, das lupenreinen Progressive Rock mit klassischen Elementen verbindet. Über zwei Stunden dauert die emotionale Show, die erstmals beim Morsefest 2018 aufgeführt wurde und die auch auf Doppel-CD ihre phänomenale Wirkung entfaltet.
Dieser Schritt von Neal Morse ist absolut logisch und rundet seine Karriere im neuen Jahrtausend – die 2002 mit der Trennung von Spock’s Beard eine überraschende Wende erfuhr – gekonnt ab. Damals führte er religiöse Gründe an, um sich von der Stammband zu trennen und fortan eine Solokarriere zu gestalten. Ein Standbein sind Lobpreis-Sessions und christlich geprägte Alben. Doch die Progger mussten keineswegs auf ihren Neal verzichten: Neben seinem Engagement bei der Supergroup Transatlantic schrieb er fortan geniale Soloalben, die ganz dem Geist von Spock’s Beard folgten und zum Teil als Konzeptalben große religiöse Themen wie die Geschichte des Tabernakels, das Leben Martin Luthers und die Vertonung des Buchs „The Pilgrim’s Process“ behandelten.
All das kumuliert sich nun in dem neuen Werk. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Mitschnitt besagter Liveperformance. Neal hatte die Mitwirkenden (und es werden viele Solostimmen besetzt) ins Studio einbestellt, um eine formidable Version einzuspielen und einzusingen. Knapp zwei Stunden Musik, die alles enthalten, was sich Neal Morse in den letzten Jahrzehnten zu eigen gemacht hat. Sehr gute Arrangements, prägnante Gesangslinien, akustische und mehrstimmige Passagen, meisterhafte Instrumentalstücke, viel Bombast. In eindringlichen Worten wird die Geschichte Jesu erzählt und man spart nicht an emotionalen Szenen.
Es startet mit einer breit angelegten Einleitung und der Taufe durch Johannes sowie den ersten Wundern. Der Versuchung durch den Teufel wird auf CD 1 viel Raum gegeben. Allein diese Passagen könnten als eigenständiges Konzeptalbum stehen. CD 2 widmet sich dann der Leidensgeschichte, der Kreuzigung und der Auferstehung. Quasi parallel verläuft die Liebesgeschichte mit Maria Magdalena, die in „The Greatest Love Of All“ gipfelt.
Die Rollen sind perfekt besetzt. Da findet sich der jugendliche Elan von Ted Leonard in der Rolle des Jesus, während Nick D’Virgilio den Judas singt. Beides übrigens Nachfolger von Neal Morse am Mikro von Spock’s Beard. Es zeigt sich mal wieder, dass hier keine Rivalitäten vorherrschen. Im Gegenteil: Das Trio wirkt fantastisch zusammen, wenn Morse schließlich den Pontius Pilatus gibt. Auch die übrigen Rollen und die Instrumente sind perfekt besetzt.
Neal Morse hat hier wirklich ein Meisterwerk geschaffen – und das muss dem berühmten Musical in nichts nachstehen. Die Songs sind nicht so eingängig. Das war zu erwarten. Stattdessen bekommen wir eine rhythmisch vertrackte und solistisch verspielte Rockoper die alles zu bieten hat, was das Genre erwartet. Und noch viel mehr! Neal Morse ist auf dem Höhepunkt seines Schaffens.