Max Giesinger: „Vier“ plus 7 macht 19 – oder „Vier Einhalb“

Es gab eine Zeit, da habe ich es immer bemängelt, wenn Künstler nicht genügend Material für ein neues Album hatten und den Fans eine „Extended Version“ des noch laufenden Studioalbums vorsetzten. Ja – das ist nervig. Und ja – man zieht damit der Fangemeinde das Geld aus der Tasche, wenn man sie zum „Zweitkauf“ nötigt. Aber irgendwie ist das heutzutage nicht mehr so schlimm. Grund ist die (in meinen Augen) allgemeine „Unsitte“, keine physischen CDs mehr zu kaufen, sondern das ganze aktuelle Material von diversen Portalen zu streamen. Da macht es ja nichts, wenn plötzlich ein paar Songs mehr dabei sind.

Nebenbei erzieht diese Vorgehensweise das junge Publikum dazu, keine kompletten Alben mehr zu hören, sondern nur noch die radiotauglichen Hits. Gerade bei Max Giesinger ist das sehr schade und ein absoluter Fehler, da seine Alben meist starke Konzeptwerke sind – aber das nur nebenbei. Max bietet immerhin gleich sieben (!) brandneue Songs für das erweiterte Album, das er wie in einem hübschen Abzählreim mit „Vier Einhalb“ betitelt hat. So entsteht doch ein Mehrwert, bei dem selbst CD-Käufer nicht meckern müssen. Anderes Popstars hätten diese gut 20 Minuten vielleicht mit drei Remixen aufgepeppt und als fünftes Studioalbum verkauft. Also in dem Sinn alles gut.

Was habe ich beim ersten Erscheinen vor einem halben Jahr geschrieben?

Im Prinzip folgen bisher alle Alben einem musikalischen Konzept, wobei sie aufeinander aufbauen. Das ist umso schöner in einer Zeit, da sich das Musikgeschäft vor allem auf Singlehits und Streamingerfolge stürzt, dabei aber das episch erzählende Format immer mehr aus den Augen verliert.

Bisher sang Max Giesinger stets vom Sichbewegen und Unterwegssein. “Laufen lernen”, “Der Junge, der rennt” und “Die Reise” hießen die Alben. Jetzt scheint Max irgendwie angekommen zu sein. Nicht an einem bestimmten Ort, aber bei sich selbst. Er hätte das neue Werk auch “Ankunft” nennen können, aber “Vier” passt ebenso gut.

Die Songs sind sehr persönlich. Das Album ist ein Blick nach innen – und es strahlt dabei Ruhe und Gelassenheit aus. Mir gefallen die sanften Stücke, mit denen Max seine Welt beschreibt. Aber auch die vorwärts treibenden Songs mit rhythmischen Beats passen in dieses introvertierte Schema, wenn er sich bei “Irgendwo da draußen” in einen anderen Menschen versetzt oder in “Der letzte Tag” ein stimmungsvolles Bild des Weltenendes zeichnet (“Wird uns dann klar, was eigentlich wichtig ist?”).

Natürlich sind die Songs zum größten Teil radiokompatibel, doch man nimmt Max Giesinger durchaus ab, dass er sie eigentlich gar nicht auseinander reißen will. Dass er eine Geschichte erzählt, die an einem bestimmten Punkt angekommen, aber noch lange nicht zu Ende erzählt ist. Der mahnende Abschluss “Das letzte Prozent” macht deutlich, dass Stillstand nicht die Lösung ist. Es lebe das Albumformat!

Eben. Die Geschichte ist nicht zu Ende erzählt. Und weiter geht’s:

„Taxi“ ist einer der neuen Songs, einer, der wie eine gute Clubnacht klingt und auch die entsprechenden Beats mitbringt. Es ist Musik, die man beinahe riechen kann. Und ein Vorgeschmack auf eine Jahreszeit, die viel verspricht und hoffentlich noch mehr hält. Wenn’s nach Max geht, kann der Sommer kommen.

Der eingängige Lovesong „Was morgen ist“ funktioniert im Duett mit Mia Aegerter. Und das ist nicht die einzige Kollabo. Die wundervolle Madeline Juno darf mit ihrer zerbrechlichen Ausnahmestimme einen zweiten Song auf dem Album beitragen: „Nur kurz glücklich“ heißt die melancholische Ballade. Die Zusammenarbeit mit Quarterhead namens „Nichts mehr zu sagen“ ist hingegen ein echter rhythmischer Dancefloor-Track und schließt das Album ab.

Die zweite aktuelle Single heißt „Pulverfass“ und ist eine berührende Ansprache an unsere Kinder. Es ist ein Stück über Giesingers Gefühl, dass wir uns alle sehenden Auges unsere Existenzgrundlage unter den Füßen wegziehen. Max erzählt in einer gar nicht so fernen Zukunft seinem zukünftigen Kind davon, wie wir alles zugrunde gerichtet haben werden. „Wir haben das alles gewusst“, singt er im Refrain. Doch was, wenn die Apokalypse ausbleibt? Mit dem poppigen „Stell dir vor es wird gut“ stellt er dem düsteren Szenario auch eine positive Prognose entgegen. Und „Bis ich bei dir bin“ bringt uns natürlich den radiotauglichen Max Giesinger zurück, der ganz persönliche Geschichten erzählt.

Die sieben zusätzlichen Stücke sind zu 100 Prozent er, und das meiste davon ist bislang ungehört. Max Giesinger hat eine logische Fortführung für „Vier“ geschrieben – wie den erweiterten „Director’s Cut“ für einen wirklich guten Film. Vor allem seine Vielseitigkeit und der Ideenreichtum beeindrucken mich immer wieder. Max schreibt keine 08/15-Alben wie viele Kollegen. Er geht unbeirrt seinen Weg und erzählt, was es zu erzählen gibt. Natürlich bleibt die Höchstwertung für dieses Ausnahmealbum eines gereiften Künstlers – in der Hoffnung, dass ihm die Ideen nicht ausgehen und Album Nummer 5 möglichst bald folgt.

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