John Neumeier: Das „Ghost Light“ brennt – auch in Zeiten leerer Theater

Das „Ghost Light“ ist eine einzelne Lampe, die die Bühne auch dann beleuchtet, wenn Proben und Vorstellungen beendet sind. Realistisch gesehen ist diese Tradition wohl entstanden, um Unfälle zu vermeiden, die in einer unbeleuchteten Theaterstätte passieren können. Doch es gibt auch eine mystische Erklärung: Die in den Theatern wirkenden Geister verstorbener Schauspieler sollen sich in den Nächten austoben, um am Tag die Proben und Aufführungen nicht zu stören.

Während der Covid-Pandemie bekam das „Ghost Light“ eine neue Bedeutung: Es gilt als Hoffnungszeichen, dass die gebeutelten Spielstätten nach Beendigung der coronabedingten Einschränkungen wieder öffnen werden und in altem Glanz erstrahlen. Es zeigt aber auch die Einsamkeit der wartenden Räumlichkeiten, die sehnsüchtig auf die Rückkehr des Publikums hoffen.

Diese Idee hat John Neumeier zu einem Ballett inspiriert, für das er Pianostücke von Franz Schubert verwendet. Das Hamburg Ballett war international eine der ersten Kompanien, die nach der Abriegelung in ihre Studios zurückgekehrt ist – mit der Uraufführung von John Neumeiers Choreographie „Ghost Light“ mit Soloklaviermusik von Franz Schubert, live auf der Bühne gespielt vom Starpianisten David Fray.

John Neumeiers neues Ballett erforscht die Möglichkeiten des Tanzens unter den Beschränkungen, die sich aus der Covid 19 Pandemie ergeben. Es ist in Fragmenten entwickelt mit mehr oder weniger flüchtigen Eindrücken aus dem Alltag der Tänzer. „Ghost Light ist ein Ensemble-Ballett, das ich in Fragmenten entwickle. Es ist vergleichbar mit einzelnen Instrumental-Stimmen einer Symphonie […] Wie die einzelnen Teile sich letztlich zu einem Werk verbinden, wird von dem Moment abhängen, an dem wir uns auf der Bühne wieder nahe kommen dürfen“, sagt Neumeier zum Entstehungsprozess.

Die hier auf DVD und im Blu-Ray-Format vorliegende Aufnahme entstand im Schauspielhaus Baden-Baden vor einem den damals geltenden Abstands- und Hygieneregeln entsprechend verteilten Publikum. Das abstrakte und reduzierte Bühnenbild ist ganz auf das „Ghost Light“ als Requisite ausgerichtet. Die Tänzer*innen agieren in unterschiedlichen Gruppierungen. Erst beim Schlussapplaus sieht man, wie viele Menschen dort auf der Bühne unterwegs waren.

Die Musik von Franz Schubert ist emotional interpretiert und passt perfekt zu der mystischen Geschichte, die in Zoom-Trainings und kleinen Gruppentrainings mit 6-7 Tänzer*innen erarbeitet wurden. John Neumeier hat das „Ghost Light“ als perfektes Symbol für diese seltsamen und aufwühlenden Zeiten entdeckt. Die Protagonisten erzählen ihre Geschichte zwischen Hoffnung und Verzweiflung so berührend und intensiv, wie man sich das nur vorstellen kann.

„Ghost Light“ ist ein Sinnbild für diese schwierigen Zeiten, für das Fehlen von Kultur in der öffentlichen Wahrnehmung, für das Hadern mit politischen Entscheidungen und medizinischen Notwendigkeiten, für die oft unerträgliche Situation der Künstler. Mit der Klaviermusik Schuberts, der sehr wohl wusste, was Verzweiflung und Niedergeschlagenheit bedeuten, könnte dieses Ballett zum Werk für die Ewigkeit werden. In der Hoffnung, dass es von einer Episode des Theaterlebens erzählt, die aus dem Nichts kam und im Nichts wieder verschwand.