Anyone’s Daughter – ein Lebenszeichen aus der Zukunft
„Living The Future“ heißt das neue Album von Anyone’s Daughter. Und bei den älteren Herrschaften klingelt da doch was: Progressive Rock aus deutschen Landen! Während Pink Floyd, Genesis und Marillion die internationale Szene beherrschten, gab es auch in Stuttgart eine Band, die dieser Musikrichtung frönte. 1972 gegründet wurden sie spätestens mit dem Album „Adonis“ (1979) einem größeren Publikum bekannt. Die Vertonung von Hermann Hesses „Piktors Verwandlungen“ war ihr Meisterstück im Jahr 1981. Danach wurde es erheblich ruhiger, als man sich an den Erfolg der Neuen Deutschen Welle dran hängen wollte. 1986 folgte die (vorerst) endgültige Auflösung.
Zur Jahrtausendwende wurde Anyone’s Daughter um die Gründungsmitglieder Uwe Karpa und Matthias Ulmer reaktiviert. Inzwischen ist Keyboarder und Sänger Ulmer die letzte Konstante seit Anfangstagen. Im Gegensatz zu vielen anderen Bands, die einfach nur ein Revival hinlegen und ihre schon Jahrzehnte zuvor gespielten Songs wieder aufleben lassen, wollten die neu gegründeten Anyone’s Daughter nicht im alten Stil weitermachen, sondern ihren persönlichen musikalischen Reifungsprozess in ihr kreatives Schaffen einfließen lassen. Neue Studioalben kamen auf den Markt, das letzte 2006. Von der Ausrichtung her gab es eine ausgewogene Pop-Rock-Richtung. Und Andre Carswell kam als Sänger hinzu, dessen Gesang sehr Soul-orientiert war.
„Living The Future“ bietet Songs mit feinsinnigen Texten aus der Feder des renommierten Songschreibers Michael George Jackson-Clark, passend geschrieben zu den starken Kompositionen von Matthias Ulmer. Herausgekommen ist genau das, was eben herauskommt, wenn man sich Zeit für künstlerisches Schaffen und neue Ideen lässt – ein stimmiges, reifes musikalisches Gesamtkunstwerk. Die epischen Keyboardpassagen sind geblieben. Und es gibt starke Gitarrenläufe von Uwe Metzler, den man aus dem Umfeld des Allrounders Ray Wilson kennt.
Die Songs sind kürzer geworden und verzichten auf ausschweifende Instrumentalpassagen. Stattdessen gibt es feine Rocktitel mit Tiefgang. „The Race Is On“ beschäftigt sich mit unserer leistungsorientierten Welt, in der häufig nur der Stärkere gewinnt. Ein anderes Stück trägt den Titel „She’s Not Just Anyone’s Daughter“ und beschreibt im Kern das gute, stille Wirken Einzelner – hier einer selbstlosen Frau – in einer anonymisierten Welt. Ein dreisprachiger Song in Englisch, Deutsch und Türkisch findet sich ebenfalls auf dem Longplayer: „One World We Are Living In“. Bei diesem Lied haben die Musiker Heinz Rudolf Kunze, Tayfun Ünlü und Dani Suara sowohl textlich als auch stimmlich mitgewirkt.
Sehr stimmig finde ich auch John Vooijs am Gesang. Er stieß erst im vergangenen Jahr zu der Band. Die Stimme des Niederländers, der sich auch im Musical-Fach („Tarzan“) einen Namen gemacht hat, ist eine Bereicherung für Anyone’s Daughter.
Ehrlich gesagt musste ich mich zunächst innerlich davon verabschieden, dass Anyone’s Daughter noch die Band sind, die man aus der Zeit der 80er Jahre kennt. Als ich begann, Prog zu hören, waren sie ohnehin von der Bildfläche verschwunden. Aber sie haben sich in der Gegenwart neu erfunden und können mit soliden Rocksongs und Anleihen an dem Sound alter Zeiten sicherlich alte und neue Fans für sich gewinnen.