Die Katalogisierung des menschlichen Daseins
An Placebo werden sich weiterhin die Geister scheiden. Für die einen sind sie die genialste Band der Welt, für die anderen fehlt ihnen manchmal das Hitpotential. Trotz ihrer seit der Jahrtausendwende sehr hohen Chartplatzierungen in Deutschland und England stehen Placebo immer noch irgendwie auf der Schwelle zwischen Geheimtipp und Topact. Da ich beruflich seit Jahrzehnten in Luxemburg unterwegs bin, war mir der Bandname schon recht früh ein Begriff – gingen Brian Molko und Stefan Olsdal doch in eine Luxemburger Schule und sind so etwas wie die geheimen Ehrenbürger des kleinen Landes, was man bei den Konzerten dort immer wieder feststellen kann.
Die Legende sagt, dass beide sich zufällig an der Londoner U-Bahn-Station South Kensington kennen lernten und ihre musikalischen Gemeinsamkeiten entdeckten. Diese werden oft im Britpop vermutet, was die Bandmitglieder in der Regel jedoch vehement von sich weisen. Und hört man sich erst einmal in das Früh- und Spätwerk der Band ein, dann steht man den Red Hot Chili Peppers und den Kings Of Leon doch viel näher als etwas Oasis oder Blur.
Im Laufe von mehr als 25 Jahren und über 13 Millionen verkauften Alben haben sich Placebo als Meister der Katalogisierung des menschlichen Daseins erwiesen. Die einzigartige Weise, mit der die Band sowohl die Schwächen als auch die Schönheit des Menschen untersucht, hat sie lange Zeit zu einem Zufluchtsort für diejenigen gemacht, die das Gefühl haben, dass die Falle aus Tradition und Gleichschaltung eben genau das ist: eine Falle! Placebo beleuchten nach wie vor die Aspekte unserer Gesellschaft, die von einigen im besten Fall mit Skepsis, im schlimmsten Fall mit Hass betrachtet werden.
„Beautiful James“ ist mit der Zeile „Never Let Me Go“ der heimliche Titelsong des Albums und feiert die nicht-heteronormative Beziehung. „Surrounded By Spies“ thematisiert wie ein düsteres Mantra die Aushöhlung der bürgerlichen Freiheit und errichtet soundmäßig eine Mauer um den Hörer. „Try Better Next Time“ zeichnet eigentlich ein Endzeit-Szenario (und schlägt damit den Bogen zum Albumcover), ist aber trotzdem ein fröhlicher Song, beinhaltet die Titelzeile doch den Versuch, es beim nächsten Mal besser zu machen. Die vierte Single „Happy Birthday In The Sky“ singt mit eindringlichen und herzzereißenden Worten vom Verlust. Bei solchen Themen ist Molko ganz vorn mit dabei.
Fast eine Stunde nimmt uns das Duo mit in seine Welt, beginnend mit den elektronischen Klängen von „Forever Chemicals“ bis hin zur tröstlichen Ballade „Fix Yourself“. Kraftvoll und entschlossen klingen die Songs mit Molkos durch und durch charismatischen Vocals, die sich immer ein wenig gepresst anhören. Olsdal liefert mit seiner schrammelnden Gitarre das zweite Alleinstellungsmerkmal. So sind auch der dritte Labelwechsel seit „Meds“ und eine neunjährige Pause nach „Loud Like Love“ leicht zu verschmerzen.
Brian Molko wird wohl nie wirklich fröhliche Songs schreiben. Eine latente Unzufriedenheit und Melancholie ist immer vorhanden. Und dass ihre Songs recht selten im Radio auftauchen, darf man gerne mal als gutes Zeichen werten. Placebo geben wirklich jedem Song ihre ganz besondere Note mit und Molkos Stimme erzeugt ein wohlig-schwermütiges Gefühl.