Von der Punkkapelle zur Big Band: Die Toten Hosen „Alles ohne Strom“

2005 ließen Die Toten Hosen schon einmal ihre Verstärker ruhen und veröffentlichten mit „Nur zu Besuch – Unplugged im Wiener Burgtheater“ ein rein akustisches Konzert. Vierzehn Jahre und einige Aufführungen mit dem Symphonieorchester der Musikhochschule Düsseldorf später reifte dann innerhalb der Band die Idee ihren alten Stücken ein neues Gewand im Big Band Sound zu verpassen. Diesmal sollte es aber nicht nur um reduzierte, unverstärkte Versionen der eigenen Songs gehen, sondern vielmehr um das Einbringen neuer Instrumente und neuer Interpretationen des bekannten Materials. Das Ergebnis feierte schließlich im Sommer 2019 unter dem Motto „Mit Pauken und Trompeten“ bei zwei Auftritten in der Düsseldorfer Tonhalle seine Premiere, die es nun mit dem noch schöneren Titel „Alles ohne Strom“ in Form einer CD und DVD/Blu-ray (erhältlich ab dem 22.11.) auch für das heimische Wohnzimmer gibt.

Laut Campino wollten Die Toten Hosen von Beginn an eigentlich immer eine Big Band sein, was angesichts ihrer wilden Punkvergangenheit getrost als Scherz verstanden werden darf. Trotzdem sind sie dieser Idee vermutlich noch nie so nahe gekommen wie auf „Alles ohne Strom“. 21 Songs haben es auf den Live-Mitschnitt geschafft und bis auf den Uralt-Klassiker „Hier kommt Alex“ sind es allesamt Songs, die es auf der „Unplugged“-Scheibe von 2005 nicht zu hören gab. Klangqualität und –tiefe lassen keine Wünsche offen und ein geschmackvolles Artwork mit einem 28 Seiten starken Booklet im aufklappbaren Digipak runden die Geschichte auch optisch ab.

Musikalisch machen die 79 Minuten fast durchgehend Spass. Der beginnt mit dem A capella-mäßigen Opener „Entschuldigung, es tut uns leid!“ und endet mit einer intensiven Version des schon im Original intensiven „Tage wie diese“. „Hört her und öffnet eure Ohr’n, wir sind zurück wie neu gebor’n“, singt Campino in „Strom“ und die Zeile könnte gut als Überschrift über dem gesamten Album stehen. Neu sind auf jeden Fall die liebevoll-melancholische Hymne „Kamikaze“, „Sorgenbrecher (Auf Euch)“, in dem die Band die Freundschaft und die Liebe feiert, „Feiern im Regen“ und das aus Sicht einer Auschwitz-Überlebenden geschriebene „Schwere(-los)“. Man darf gespannt sein welches Stück davon sich auf dem nächsten regulären Hosen-Album wiederfindet. Bei „Kamikaze“ und „Schwere(-los)“ hätte ich nichts dagegen.

Hinzu kommen ein paar Coverversionen. „Ohne dich“ von Rammstein ist verzichtbar, „Politische Lieder“ von Funny van Dannen akzeptabel und „Everlong“ von den Foo Fighters eine gelungene Gotteslästerung. Musikalisch mit Violine und Bläsern durchaus ungewöhnlich interpretiert, kommt Campino gesanglich natürlich nicht an Dave Grohl heran. Aber wer schafft das schon? Ansonsten bildet sein kehliger Gesang, der nach Straße, Kippen und Bier klingt einen Kontrapunkt zu den oftmals warmen Songarrangements, wodurch „Alles ohne Strom“ durchgängig an Spannung gewinnt. Insgesamt stehen Die Toten Hosen als 17-köpfige Combo auf der Bühne und lassen sich von Jazzanleihen, Polkarhythmen und Ska durch ihre über 35-jährige Bandgeschichte treiben. An der ein oder anderen Stelle schielen sogar die Beatles und Bob Marley um die Ecke. Die Fans honorieren „Alles ohne Strom“ mit Sprechchören und Gesängen und man muss nicht erst die DVD/Blu-ray abwarten, um sich die grossartige Stimmung in der Tonhalle bildlich vorstellen zu können.

Im Grunde ist das, was Die Toten Hosen machen ja schon lange kein Punk mehr. Dennoch darf man an dieser Stelle den Hut vor der Experimentierfreude der Band ziehen. Bevor sie sich endgültig in Belanglosigkeiten und ewiger Wiederholung verliert, schafft sie es auf „Alles ohne Strom“ eine Spielfreude zu entwickeln, von der sich andere Kollegen gerne eine dicke Scheibe abschneiden dürfen.