Ein waschechter Krimi ohne übersinnliche Elemente

Die Privatermittlerin Holly ist erklärtermaßen eine der Lieblingsfiguren des Gruselmeisters Stephen King. Sie hat bereits in der Billy Hodges-Trilogie eine gewichtige Rolle gespielt, war in „Der Outsider“ ganz vorn mit dabei und erlebte in der Novelle „Blutige Nachrichten“ ihr erstes Solo-Abenteuer. Wen das jetzt abschreckt, sich an den neuen Band zu wagen ohne die anderen Stories zu kennen, den kann ich beruhigen: Man kann „Holly“ getrost ohne Hintergrundwissen lesen. Die Geschehnisse der Vorgängerbände werden zwar bisweilen kurz erwähnt oder angedeutet, doch das ist nur marginal relevant und spielt für die neue Geschichte keine Rolle.

Darum geht’s: Privatermittlerin Holly Gibney steckt in einer Lebenskrise, da erhält sie einen Anruf: »Meine Tochter Bonnie ist vor drei Wochen verschwunden, und die Polizei unternimmt nichts.« Ihre Nachforschungen führen Holly zu einer weit zurückreichenden Liste ungelöster Vermisstenfälle. Alle spielen im Umfeld eines inzwischen emeritierten Ernährungswissenschaftlers mit dem Spitznamen »Mr. Meat«. Holly hat schon gegen grausame Gegner bestanden, aber hier begegnet sie dem schlimmsten aller Ungeheuer: dem Menschen in seinem Wahn.

Und damit sind wir schon mitten in Kings Metier. Was er am besten kann, sind Figuren zum Leben zu erwecken und den Leser in den Strudel der Ereignisse zu ziehen. Dabei handelt es sich hier (ausnahmsweise) nicht um einen Kampf mit dem Übersinnlichen, sondern es ist tatsächlich ein klassischer Kriminalfall. Schon früh werden die Zusammenhänge klar und der Leser folgt in wechselnden Erzählperspektiven den Opfern, den Tätern und der Ermittlerin. Ein wirkliches Rätselraten findet also nicht statt, doch das tut der Spannung keinen Abbruch.

Die Haupthandlung ist klar und strukturiert erzählt, auch wenn es verschiedene Zeitebenen gibt. Man kann den Protagonisten hervorragend folgen, ihre Erlebnisse mitfiebern und den Guten im Kampf gegen die offensichtlich Bösen die Daumen drücken. Holly ist eine überaus sympathische Person mit Ecken und Kanten, die klar benannt und ausgespielt werden. Lieb gewonnene Charaktere aus den früheren Bänden, allen voran Bill, Jerome und Barbara, bekommen ebenfalls ihren Platz. Schön, wie vor allem Barbaras Leben weiter erzählt und ihre Persönlichkeit immer stärker wird.

Eine weitere Hauptrolle spielt die Covid-Pandemie. Ein Phänomen, das zu den Werken von Stephen King einfach dazu gehört. Der Autor aus Maine atmet stets den Zeitgeist und beschreibt die Konflikte der Gegenwart in seinen Werken. So wird hier die gespaltene Gesellschaft der USA zwischen Coronaleugnern, Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern, Impfbefürwortern, Maskenträgern und sich regelkonform verhaltenden Bürgern eindrucksvoll und plastisch aufgezeigt. Wo der Autor selbst steht, wird auch deutlich erkennbar – ein Fan von Donald Trump ist King sicher nicht.

Stephen King wurde vor kurzem 76 Jahre alt. Zwischenzeitlich hieß es mal, er wolle beim Schreiben kürzer treten, doch davon ist zum Glück nichts zu bemerken. Er hat noch viele Geschichten in sich und betritt – wie der vorliegende Band zeigt – auch gerne neue Gefilde abseits des Genres „Horror“. Und damit wir uns nicht missverstehen: Was King hier in „Holly“ an menschlichen Abgründen beschreibt, steckt viele Horrorklassiker in punkto Schrecken und abgründiger Bosheit locker in die Tasche. Ich fand den Roman spannend bis zum Schluss. Mal wieder schafft es der Meister, uns in seine Welt mitzunehmen und erst mit dem Nachwort wieder daraus zu entlassen. Einfach großartig!