Tim Linde und sein Gespür für schöne Melodien

Man kann sich schon Sorgen machen, wenn Liedermacher wie Reinhard Mey und Konstantin Wecker die 70 überschreiten und Hannes Wader gar seinen Abschied von der Bühne ankündigt. Wer wird ihnen nachfolgen und die Szene neu beleben? Im politischen Kabarett kann man Bodo Wartke und Cynthia Nikschas nennen, die da sehr gut aufgestellt sind. Aber es gibt ja auch noch die sogenannte „leichte Muse“. Songs, die das Herz ansprechen.

Seit über drei Jahren ist Tim Linde hier ganz vorn dabei. Vor allem im hohen Norden hat der Hamburger sich ein treues Publikum erspielt und sich mit Songs wie „Wasser unterm Kiel“ in den WDR und NDR Hörercharts eingenistet. Dabei helfen ihm seine charismatische Stimme, die hervorragenden Arrangements seiner Stücke und die intelligenten Texte. Diese erinnern mich beim Hören zum einen an Reinhard Mey, der gerne mal Alltags-Begebenheiten zum Inhalt seiner Lieder machte, aber auch an Purple Schulz, der sich vor allem auf seinen jüngeren Werken Themen widmet, die sonst in der Popkultur keinen Platz finden.

Tim Linde nennt sein zweites Album „Freigeister“ und macht damit deutlich, dass er sich keine Grenzen auferlegen lassen will. Der Titelsong ist eine rebellische Hymne mit schönem Harmoniegesang. Meiner zehnjährigen Tochter gefällt er daher besonders gut. So spricht man also junge Menschen an. Mir hingegen hat es „Brief an meine Eltern“ auf Anhieb angetan. Mit rhythmischer Gitarre und schöner Melodielinie singt Tim hier ein Dankeschön für eine glückliche Kindheit.

Überhaupt hat der Hamburger ein untrügliches Gespür für schöne Melodien. Da gibt es auf diesem Album keine Ausfälle, außer vielleicht bei „Hart aber herzlich“, das mit seinem Gute-Laune-Intro und den Einwürfen („Willkommen im Norden“) ein wenig nach überzogener Werbe-Jingle klingt.

Tim Linde scheint seine Heimat sehr zu lieben und bringt dieses Gefühl gut rüber. Dabei wird in „Großes Land“ mit melancholischen Worten die Vielfalt in Deutschland gewürdigt und zugleich an die Verantwortung appelliert: „Wer stark ist muss auch gut sein, hat Pippi Langstrumpf schon erkannt. Darum sei ein starker Freund.“ Solche Worte berühren sehr. Ebenso wie „Es braucht das ganze Dorf“, das sich der Kindheit in modernen Zeiten mit kritischen Worten widmet. Ganz zum Schluss folgt nochmal die Hymne „Wasser unterm Kiel“, die schon vor drei Jahren für Furore sorgte.

Hinzu kommen witzig aufgemachte Zeitgeist-Themen: „Im siebten Himmel“ berichtet eingängig von der digitalen Partnervermittlung, „Wir haben jetzt Hühner“ nimmt den Bio-Wahn auf die Schippe und „Der Zirkus zieht nicht weiter“ hat das Ende eines Wanderzirkus zum Thema.

All diese Lieder könnten sich auf Stimme und akustische Gitarre beschränken und würden gut funktionieren. Doch Tim Linde macht hier keine halben Sachen und nutzt eine große musikalische Bandbreite wie ein Saxofon-Solo und Streicher bei „Ein neuer Tag beginnt“, bisweilen eine melancholische Pianobegleitung oder eine kraftvoll eingesetzte, rockige E-Gitarre.

Nachdem das Album seit zwei Wochen immer wieder den Weg in meinen Player findet – und auch meine Familie inzwischen infiziert ist – will ich gern meine Empfehlung aussprechen. „Freigeister“ ist ein wunderschönes Singer-/Songwriter-Album alter Schule, das zugleich mit brandaktuellen Themen aufwartet und sich selbstsicher in die Gehörgänge einschleicht. Mein bisheriges Highlight im Jahr 2018.

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