Bruce Springsteen wirft auf „Letter To You“ einen Blick in den Spiegel
Bruce Springsteens einzigartige Karriere erstreckt sich mittlerweile über mehr als vierzig Jahre, angefangen mit dem 1973 erschienenen Album „Greetings From Asbury Park, NJ”. Seitdem hat der Boss achtzehn weitere Alben veröffentlicht, mal solo, mal zusammen mit der E Street Band. Dabei ist er stets der gleiche hemdsärmelige Kumpeltyp geblieben, der den Träumen, Sehnsüchten und stillen Triumphen des “kleinen Mannes” eine Stimme gibt und nicht aufhört, den Mächtigen dieser Welt seine Meinung mitzuteilen. Trotz seines immensen Erfolges wirkt der seit kurzem 71-Jährige noch immer bodenständig und authentisch.
Im Juni 2019 beendete Springsteen mit „Western Stars“ eine fünfjährige schöpferische Pause. Das vorhergehende Album „High Hopes“ von 2014 war zugleich sein bisher letztes mit der E Street Band, welches jedoch nur ältere Stücke enthielt, die bei den Produktionen der Vorgängeralben übriggeblieben waren. Danach sah man ihn noch im Rahmen der „The River“-Tour 2016 gemeinsam mit Nils Lofgren, Steven Van Zandt, Garry W. Tallent, Roy Bittan, Max Weinberg und seiner Frau Patti Scialfa auf der Bühne. Das war’s. Gerüchte um eine erneute Zusammenarbeit hielten sich seitdem hartnäckig.
Als im September mit „Ghosts“ plötzlich ein neuer Song auftauchte, erhielten die Gerüchte weitere Nahrung. Besonders weil Springsteen „Ghosts“ in einem Interview als Ausdruck einer besonderen musikalischen Magie beschrieb: „Diese Magie, diesen Soul, dieses Herzblut spüren wir gemeinsam in der E Street Band.“ Kurz darauf wurde die Gerüchteküche endgültig geschlossen. Sony Music kündigte die Veröffentlichung von „Letter To You“ für Ende Oktober an. Zusammen mit der E Street Band (verstärkt durch Charlie Giordano und Jake Clemons) hatte Springsteen das Album in nur fünf Tagen in seinem Home Studio in New Yersey eingespielt. Es enthält zwölf neue Songs. Wobei es bei genauerer Betrachtung eigentlich nur neun neue Songs sind, denn drei Stücke sind Neu-Aufnahmen von bislang unveröffentlichten Kompositionen aus den Siebziger Jahren. Begleitet wird „Letter To You“ von einer Dokumentation auf Apple TV, die einen Blick hinter die Kulissen dieses kreativen Prozesses erlaubt.
Erstes Ergebnis ist der Opener „One Minute You’re Here”, ein leiser und emotional intensiver Einstieg. Springsteens Gesang umarmt den Hörer wie eine weiche Decke. Stimmlich hat er nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Der Titelsong „Letter To You” rockt dann in bester Springsteen-Manier los. Die E Street Band zeigt erstmals ihr ganzes Können und Max Weinberg hält den Song mit seinem Schlagzeug zusammen. Das folgende „Burnin’ Train” schließt da nahtlos an und klingt tatsächlich wie ein Zug, der unter Volldampf durch eine Landschaft aus Blues und Rock stampft, mit Nils Lofgren und seiner Gitarre im Führerhaus.
„Janey Needs A Shooter” ist die erste der drei bereits erwähnten Altkompositionen. Das Stück wirkt im Vergleich eher schwermütig, allerdings im positiven Sinne und hätte nicht nur wegen des typischen Mundharmonika-Parts bestens auf „Born To Run“ von 1975 gepasst. Wo wir gerade dabei sind: Das mit über sechs Minuten fast schon epische „Song For Orphans” haut in die gleiche Kerbe. Der dritte „Oldie“ im Bunde, „If I Was The Priest”, fügt sich ebenso nahtlos in die Reihe auf „Letter To You“ ein, was den Schluss zulässt, dass sich Springsteen im Jahr 2020 wieder mehr seiner musikalischen Wurzeln besonnen hat. Und das ist gut so.
Demgegenüber steht das ausgelassen durch die Luft tanzende „Last Man Standing”, bei dem Jake Clemons zeigen darf, was er von seinem 2011 verstorbenen Onkel Clarence gelernt hat. Auch „The Power Of Prayer” präsentiert Springsteen und die E Street Band in Hochform. Das Zusammenspiel von Saxophon, Gitarre, Schlagzeug und Klavier zaubert auch Stunden später noch ein Dauergrinsen ins Gesicht. „House Of A Thousand Guitars” verlässt sich zunächst ganz auf Springsteens Stimme und Roy Bittan’s Piano, bevor der Rest der Band einsetzt und den Song auf eine Ebene mit den Stücken von „Born In The U.S.A.“ erhebt. Dazu passt auch „Ghosts”, das von der Freude handelt, in einer Band zu spielen, was man dem Song deutlich anhört. Das Stück dürfte auf der nächsten Stadion-Tour ein Mitklatsch- und Mitsing-Favorit sein. Zu „Ghosts“ gibt es übrigens auch ein Video mit Ausschnitten aus den Recording Sessions in Springsteens Home Studio sowie Videosequenzen aus seinen Anfangstagen, u.a. mit seiner ersten Band The Castilles zu Beginn der 70er Jahre. Bleiben noch „Rainmaker”, das mit einem klagenden Gesang glänzt und „I’ll See You In My Dreams” als gutgelaunter Abschluss, der Springsteen nochmal in seiner ganzen Vitalität und Frische zeigt. Altes Eisen klingt eindeutig anders.
Bruce Springsteen hat die Produktion von „Letter To You“ im Nachhinein als eines der größten Aufnahmeerlebnisse bezeichnet, die er je hatte. Das will was heißen bei einem Mann, der sich schon zwanzig Grammys, einen Oscar und einen Tony Award an sein Revers heften durfte und der 1999 in die „Rock And Roll Hall Of Fame“ aufgenommen wurde. Vielleicht liegt es auch daran, dass er sich in den neuen Songs weniger politischen und gesellschaftlichen Themen widmet, von denen es zur Zeit ja mehr als genug gäbe. „Letter To You“ ist vielmehr als ein Blick in den Spiegel zu verstehen. Bruce Springsteen schreibt die Briefe darauf gewissermaßen an sich selbst. Und so klingt das Album dann auch: Mal nachdenklich und sentimental, mal befreit und enthusiastisch. Eben eines voller Magie, Soul und Herzblut.