Be an Artist! Mother Tongue am 13.07.2016 im Kölner Underground
“Hey Chino”, sagt Davo Gould beim Betreten der Bühne, “can you put up the music for a while?”. Der Mann am Soundboard dreht die Musik vom Band wieder auf und Mother Tongue schauen nochmal in aller Ruhe nach der Technik, um sich anschließend einzugrooven und das Zeichen zu geben, dass sie jetzt soweit sind. Ganz entspannt. Und ganz auf den Punkt. “Burn Baby”! Ein Kracher zu Beginn.
Eine der besten Live-Bands überhaupt ist also wieder auf Tour. In relativ kleinen Clubs kann man die verhinderten Superstars der 90er Jahre erleben. Das Schicksal hatte etwas anderes mit ihnen vor, als es für Weggefährten wie die Chilli Peppers vorsah. Hier hadert aber niemand mit seinem Schicksal. Hier genießen alle eine intime und energiegeladene Show, in der es Schlag auf Schlag mit Hits wie “Damage” weitergeht. Im nicht ausverkauften Underground bittet Gould das Publikum auf seine unwiderstehliche Art noch näher an die Bühne zu rücken. Aber dort ist es es nicht ungefährlich. Ein wilder Moshpit hat sich gebildet. Zu “Casper” lädt Gould jeden einzelnen ein, dem Song einen eigenen Bezug zu geben, denn wir alle haben Verluste zu bewältigen. Everybody knows somebody dead that should be alive. True.
Wie immer gehen Mother Tongue durch den Abend ohne Setlist. Davo Gould spürt, welche Songkonstellation passen könnte. Seine Ideen und Impulse gibt er situativ an seine Band weiter, die sich ganz auf seinen Instinkt verlässt. Er sagt an, welcher Song der nächste ist. Live kann man hier einer Setlist bei ihrer Entstehung zusehen. Eine Band, deren Mitglieder nicht nur auf diese Art miteinander in Kontakt sind. Den Impuls für “Vesper” gibt er an seinen Kollegen Christian Leibfried weiter, der voller Inbrunst gemeinsam mit dem textsicheren Publikum den Part “We’re all slaves to the truth” raus haut. Dass diese Band drei fast gleichwertige Sänger hat, beweist auch Bryan Tulao vor allem mit “Venus Beach”. Besondere Aufmerksamkeit erhält der tätowierte Arm einer Besucherin in der ersten Reihe. Auf diesem sind die Dead Kennedys verewigt und Gould erinnert sich an ein Konzert jener Band in L.A. in einer frühen Phase seines Lebens, in der er sich in “Trouble” befand. Auch auf diese Weise lässt sich der Bassist spontan zu Songs inspirieren. Zu “Dark Side Baby” holt er sich zwei Jungs aus dem Publikum auf die Bühne und bittet das Publikum, sie sicher per Crowd Surfing durch den Club zu tragen. Nach kurzen fragenden Blicken springt der 16-Jährige in die Menge. Sein Mitstreiter benötigt zwei Versuche und schrammt knapp an den Scheinwerfern vorbei. Alles geht gut. Man passt aufeinander auf.
Welcher Hit bleibt eigentlich noch, um das Mainset würdig abzuschließen? Richtig, “Broken”. Leibfried dreht noch einmal richtig auf und “missbraucht” den Mikrofonständer als Bottleneck für sein Gitarrenspiel. Zur Zugabe klärt Davo auf, wer die Jungs mit Baseball Caps sind, die auf der Bühne immer wieder filmen. Es sind seine Söhne und es macht ihn sichtlich und zurecht stolz, dass sie Teil des Ganzen hier sind. Wer in einer Band spiele, solle weitermachen. Sich von Schwierigkeiten und Hindernissen nicht abhalten lassen. “Be an artist!” sagt er noch und leitet dann zu “In The Night Time” über. Noch einmal soll Chino am Soundboard an den Effektreglern drehen, so der Appell von Davo. Das darauf folgende Echo in seinem Gesang verfehlt seine Wirkung nicht. Die Frage nach dem Song, der jetzt noch diesen geilen Abend abschließen könnte, beantworte ich für mich mit “CRMBL” und werde nicht enttäuscht. Eine Hammer-Version, die einem Ritt durch alle Emotionen gleicht. Ständig zieht Drummer Sasha Popovic das Tempo an, verlangsamt an den richtigen Stellen und bietet seinem Frontmann den Raum für eindringliche Ansagen: “All things have crumbled,… in Dallas,… in Orlando,… in Syria…”. Alles bröckelt, zerfällt. Nur eines nicht, so scheint es. Eine Band namens Mother Tongue, die so viele Hindernisse zu überwinden hatte, so oft vor ihrem Ende stand und gar an ihrem Ende war. Ihr sollte das nicht wieder passieren. Um Abende wie diesen gemeinsam erleben zu können.