Martin Kohlstedt: „Flur“ – Piano und Naturmomente

Wenn ich so an dieses unsägliche Jahr 2020 zurück denke, hatte ich im Sommer doch unerwartet noch einige schöne und intensive Konzertmomente. Da war zum Beispiel das „My Urban Piano“ Festival in Trier mit Tastenkonzerten von Tobias Schmitz (ehemals Von Brücken, jetzt EINS.), dem europaweit bekannten Luxemburger Künstler David Ianni und dem kalifornischen Weltstar Kit Armstrong. Und man hatte sich schnell dran gewöhnt, dass alles im Freien stattfand – Nebengeräusche aller Art inklusive. Sei es das Martinshorn eines Rettungswagens, Geplätscher einsetzenden Regens, Vogelgezwitscher oder gar eine brummende Drohne im Nachthimmel.

Die Geräusche der Natur gepaart mit Musik schaffen eine besondere Atmosphäre – Vögel, Wind und Regentropfen natürlich mehr als Fahrzeuge und Fluggeräte. Und Martin Kohlstedt macht daraus eine Tugend! Das neue Album geht wieder weg von elektronischen Experimenten. Die letzten Werke „Strom“ und „Ströme“ enthielten nicht nur rein akustische Klavierstücke, sondern mehrschichtige Kompositionen mit Chören und Elektronikkomponenten.

Im stillen Jahr 2020 gibt es eine Rückkehr zum Einfachen und Besinnlichen. Er nahm das Album zurückgezogen in seiner Dachgeschosswohnung auf, mit Blick auf Weimar, mit all den heimeligen Naturmomenten, dem Licht, mit der Geometrie und Tiefe, die diese Tage begleiteten und sich nun auf „Flur“ wiederfinden. Man hört die Pianoläufe – mal nachdenklich, mal fließend. Dazu ganz dezente Rhythmus-Elemente. Und man spürt und fühlt, wie Martin Kohlstedt am offenen Fenster sitzt und die Atmosphäre einfängt.

Das Ergebnis ist alles andere als Pianogeplätscher. Vielmehr liefert uns „Flur“ eine spannende Reise, die mal wie ein langsamer Fluss, mal wie ein schneller Spaziergang klingt. Ein Trip durch die Lichtung des Waldes oder wahlweise durch die Lichtung zwischen den Häusern einer Großstadt.

„Lichtung“ ist auch der Titel des Gemäldes des Leipziger Malers David Schnell, das Martin Kohlstedt sah und sofort wusste, dass er das Albumcover gefunden hatte, ohne danach suchen zu müssen. Weil Schnells Werk das in Form fasst, was „Flur“ für Kohlstedt ist: Ein Raum ohne Zeit. Und so ist dieses Album auch ein bewusstes Statement. Für das Klavier als Protagonist. Für den Verzicht auf Filter. Für Empathie, für Nähe, das Intuitive. Dafür die Türen zu öffnen.

Es war genau der richtige Zeitpunkt für den Pianisten, zu seinen Wurzeln zurück zu kehren. Und das neue Album ist ein virtuoses Meisterwerk. Einfach wunderschön in seiner Schlichtheit und den erzählenden Melodien.