Der Donnerstag beim Reeperbahn Festival 2023 – Die Popmusik ist weiblich!
Während man ROCK AM RING immer wieder vorwirft, fast nur männliche Künstler auf der Bühne zu präsentieren, hat das REEPERBAHN FESTIVAL erneut eindrucksvoll bewiesen, dass es auch anders geht. Am Donnerstag durfte ich mit Senta, Wilhelmine, Antje Schomaker, Mathea und Lina eine grandiose Auswahl junger, deutschsprachiger Sängerinnen bewundern. Dazu war unter anderem die FLINTA*-Bühne im Club Indra geschaffen worden, wo das Musikhaus Thomann unter dem Motto „Here To Get Heard“ der Diversität einen Platz gab.
Startpunkt für mich war aber der Spielbudenplatz, wo die belgische Band Kids With Buns im Reeperbus auftrat. Das Duo Amber und Marie bezeichnet seine Musik als Bedroom Pop – und das trifft es wohl ziemlich genau. Es waren sehr melancholische Klänge, die da über den Platz hallten. Mit akustischen Gitarren wurde ein zweistimmiger Gesang begleitet, wobei eine der jungen Frauen stimmlich sehr kraftvoll unterwegs war, während man die leisen Töne der anderen kaum hören konnte. Dieser verträumte Indiepop mag in einem Club funktionieren, aber open air war die Geräuschkulisse des Publikums leider zu laut.
Der Club Indra ist ein geschichtsträchtiger Ort und es sind quasi „heilige Hallen“, die man betritt. Die Beatles traten dort erstmals am 17. August 1960 auf und spielten insgesamt 48 Nächte lang in der Location. Heute startete hier das Stelldichein starker weiblicher Stimmen mit der Berliner Sängerin Soukou. Gestartet ist die Künstlerin in ihrer Heimatstadt Bochum mit Gospel und Hip Hop, um dann ab 2007 mit zarten 19 Jahren die Clubs von Berlin als Ena Wild mit Techno und Elektrobeats zu erobern. Inzwischen hat sie wieder den Weg zum Soul zurück gefunden und überzeugte hier mit emotional kraftvollem Gesang, der von einem dominanten Schlagzeug begleitet wurde. Mit sympathischen Ansagen machte sie sich neue Freund*innen im Publikum.
Weiter ging es mit Senta, die manchen vielleicht noch unter dem Künstlernamen Oonagh bekannt sein könnte. Damals machte sie eher esoterische, fantasy-orientierte Musik, doch inzwischen hat sie die Metamorphose zum wohligen Pop geschafft. In der Setlist herrschte viel Melancholie und Nachdenklichkeit vor, doch es gab auch mitreißende, tanzbare Tracks. Stimmlich äußerst vielseitig sang sie von Müttern und Töchtern, interpretierte eine eingängige Hymne übers Frausein und erzeugte durchaus Mitsing-Stimmung im Indra. Der neue Titel „Hallo Angst“ wird im Oktober erscheinen. Interessante Idee, wie die Personifizierung der Angst zu ihrer Überwindung beitragen kann. Jedenfalls legte Senta hier einen beeindruckenden Auftritt hin, mit dem sie zeigte, dass sie sich als Künstlerin längst vom Oonagh-Projekt frei geschwommen hat.
Auf Wilhelmine hatte ich mich ganz besonders gefreut. Seit ich sie 2022 beim RBF im Club „Uebel und gefährlich“ gesehen habe, bin ich überzeugter Fan ihrer Musik – und natürlich enttäuschte sie nicht. Schon mit elf Jahren schrieb sie erste Songs. Sie trat als Straßenmusikerin in einer Coverband auf und machte recht früh in eigenen Liedern ihr Coming Out zum Thema. Die Performance im Indra war als „Secret Gig“ sehr kurzfristig angekündigt. Sie trat in kleiner Bandbesetzung ohne Schlagzeug auf. Wilhelmine gelang es, ihre Stücke wie eine aufmunternde Umarmung klingen zu lassen. Sie war authentisch und sang mit sanfter, klarer Stimme von den „Kleinen Dingen“ im Leben, vom „Schwarzen Renault“ der sie verfolgt und von Selbstliebe. Viele Songs wurden am Piano begleitet, was ihnen hohe Intensität verlieh. „Feuervogel“ mischte sie lyrisch mit „Du trägst keine Liebe in dir“ von Echt. Sehr gelungen! „Mein Bestes“ wurde der Frau gewidmet, die Wilhelmine groß gezogen hat ohne ihre leibliche Mutter zu sein, die neue Single „Paula“ für eine Freundin aus Kindheitstagen wurde zelebriert und ja, auch ihre Homosexualität war in manchen Songs Thema. „Nie wieder wegrennen“ ist eine selbstbewusste Standortbestimmung und der Coming-Out-Song „Meine Liebe“ wurde gemeinsam mit Sängerin AYMZ interpretiert, was auch für Wilhelmine ein besonderer Moment war. Im Rausgehen konnte ich zwei junge Frauen um die 20 hinter mir hören – eine mit Tränen in den Augen. „Was war das denn? Wie toll! Wie gut, dass wir geblieben sind.“ Absolut richtig.
Nebenan in der Großen Freiheit 36 war es dann Zeit für Antje Schomaker, eine alte Bekannte beim RBF. Nach dem hitzigen Indra war die Große Freiheit angenehm klimatisiert. Gut so, denn Antje brachte genügend heiße Atmosphäre mit. Sehr cool im Rüschenrock hatte sie eine formidable Rockband dabei und präsentierte viele Songs, die vom neuen Album (VÖ: 6.10.) stammen. In „Die Zeit heilt ’n Scheiß für mich“ ging es um Stalking und eine toxische Beziehung, in „Irgendwohin“ um eine spontane Fahrt ans Meer. Antje Schomaker verstand es, ihre Gefühlswelt perfekt auszudrücken und zu vermitteln. Zunächst war die Menge entspannt am Schwofen, doch mit dem Peter-Fox-Cover „Alles neu“ verwandelte sie den Club in einen wahren Hexenkessel.
Dann schnell zurück ins Indra, den hier war Sängerin und Rapperin Mathea aus Salzburg angesagt, die kurzfristig für Luna eingesprungen war. Das stand erst sein drei Tagen fest, was man der Performance absolut nicht anmerkte. Ein denkwürdiges Bühnenbild mit großem M auf der Bühne, das wie eine Maske wirkte. Und dann diese energische Performance. Mathea reappte und schrie ihre Zeilen, sang in tiefem Österreichisch für ein „Oaschloch“, konnte aber auch ganz ruhig werden, wenn es in einer Ballade um die Verliebtheit in den besten Kumpel ging. Das Triple Wilhelmine, Antje Schomaker und Mathea war in dieser Form einfach gigantisch. Das kann man nur auf dem „W-Festival“ erleben – oder aber beim RBF.
Und damit war ja noch nicht genug der starken Stimmen. Im Chikago Club durfte zu sehr später Stunde noch Lina von sich überzeugen. Sicherlich keine leichte Aufgabe, hat sie doch eigentlich ein recht junges Zielpublikum. Tatsächlich waren die ersten beiden Reihen auch von Teenagern eingenommen, die auf Linas Auftritt hin fieberten und das definitiv jüngste Publikum des Festivals bildeten. Lina hat im März ein sehr erwachsenes Album voller Urban-Pop-Elemente vorgelegt, das sie selbst als ihr musikalisches Tagebuch bezeichnet. Mit Mitte 20 tut sie ihr Bestes, um sich eine neue Zielgruppe zu erschließen und die mitgewachsenen Fans nicht zu verlieren. Dazu lieferte sie Songs wie „Lost Kids“, die mit viel Charisma durch eine autobiografisch angehauchte Geschichte führten. Neben den neuen Stücken gab es auch Klassiker wie „Ego“ und mit dem rockig-aggressiven „Lina was ist los mit dir“ und dem melancholischen „Wasser“ zwei sehr persönliche Songs zum Abschluss. Nach so viel geballter weiblicher Energie an einem Tag durfte man getrost den Weg ins Hotel antreten.