Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod
Crystal Palace wurden Anfang der 90er Jahre in Berlin gegründet. Das einzige verbliebene Gründungsmitglied ist heute Yenz Strutz, der ursprünglich nur am Bass auftrat. Anfang 2000 übernahm Yenz auch die Gesangsrolle. Aufgrund der sehr guten Zusammenarbeit zwischen den Musikern wurde viel herausragendes Material geschaffen, so dass die Band Anfang 2013 mit der Aufnahme des Albums “The System of Events” beginnen konnte. 2016 wurde das bis dahin erfolgreichste Album der Band namens “Dawn Of Eternity” veröffentlicht. Damit erreichte man Platz 17 in den internationalen AOR-Charts. Das nächste Album “Scattered Shards” erschien im Frühjahr 2018. Diesmal blieb die Besetzung von Crystal Palace dieselbe, aber die Band wechselte das Label und entschied sich für Progressive Promotion Records. Dort erscheint nun auch „Still There“ – das erste echte Konzeptalbum der Berliner Band.
Konzeptalben spielen gerne mal eine Schlüsselrolle im Katalog einer Progband. Man nehme nur „Brave“, das Marillion nach dem Wechsel des Frontmanns Anfang der 90er Jahre den ersten Kick für neue Höhenflüge gab. Und der Vergleich zu „Brave“ kommt auch bei „Still There“ gar nicht von ungefähr. Beide Alben wurden nämlich von einem Bericht über den Selbstmord einer jungen Frau inspiriert. Die Songwriter machten sich Gedanken um die Hintergründe und woben daraus eine spannende Geschichte.
Bei Yenz und Crystal Palace geht es um den Tod einer jungen Engländerin im Jahr 2014 am Berliner Müggelturm. Diese hatte beim Hinaufsteigen die Worte „Still There“ an eine Wand geschrieben und Yenz hatte die Inschrift gesehen, ohne zu diesem Zeitpunkt etwas vom Tod der Frau zu ahnen. Das sind bewegende Eckpfeiler, um daraus eine spannende Geschichte zu weben und diese in sphärische Musik zu packen. Es gibt einen imaginären Freund, einen Abschiedsbrief an die Mutter, viele Emotionen. Letztlich sieht die Protagonistin keinen Platz mehr für sich im Leben und wählt das Ende.
Das Album bietet starke Melodien und ausufernde Soli. Man braucht sich nur die Titelliste (siehe unten) anzuschauen, um der dramatischen Geschichte zu folgen. Schon im Eröffnungssong geht es um die 126 Stufen, die den Turm hinaufführen. Dabei ist das Album absolut nicht songorientiert. Vielmehr ist es eine große Suite, in der die einzelnen Tracks oft ohne Übergang aufeinander treffen.
Crystal Palace sind in dieser Besetzung einfach eine Urgewalt der deutschen Progressive Rock Szene. Sicher nicht mehr die jüngsten, aber voller musikalischer Kreativität. Gitarren und Keyboard sprechen von viel Erfahrung. Und die Rhythmusfraktion ist allererste Sahne. Mit großer Leidenschaft wird eine ausufernde, 76minütige Geschichte erzählt. Lyrics und Musik greifen perfekt ineinander – man nehme nur den inneren Dialog, den die unverstandene Tochter in „Dear Mother“ mit ihrer Mutter führt. Solche Momente machen die Story überaus lebendig und halten den Hörer bei der Stange. Auch wenn man sich mal in epischen Passagen und sphärischen Klängen verliert, wird die Erzählung doch nie aus den Augen gelassen.
Ich bedaure ernsthaft die jungen Menschen, deren musikalisches Geschehen sich auf eine um Einzelsongs wachsende Playlist dreht. Sie werden nie erfahren, wie stark und bewegend es sein kann, eine philosophisch anmutende Geschichte über ein Konzeptalbum näher gebracht zu bekommen. Crystal Palace haben hier definitiv ihr Meisterstück abgeliefert. Elegisch und filigran!
Tracks Listing
1. 126 Steps
2. Leaving This Land
3. A Plan You Can‘t Resist
4. Winter‘s End On Water
5. Dear Mother
6. Planned Obsolescence
7. Orange Popsicle Sky
8. Shadows
9. A Scream From The Wall
10. These Stairs
11. The Unquite Window
12. Still There
Line-up
– Nils Conrad / guitars
– Frank Köhler / keyboards
– Jens Uwe Strutz / bass, vocals
– Tom Ronney / drums
– Roxy Köhler / Erzähler