Warten auf das Ende des Sturms
Viele werden wie ich überrascht sein, dass Ian Andersson doch noch ein Jethro Tull-Album herausbringt. Unverkennbar entpuppt sich der Sound dem blinden Hörer nach wenigen Sekunden als neues Tull-Werk. Vorab war mir der Titelsong „The Zealot Gene“ vom eclipsed-Sampler bekannt. Er ist für mich auch der stärkste Song auf dem Album. Was nicht heißt, dass die restlichen Songs nur dahinplätschern. Wenn ich das Album mit den Vorgängern vergleiche, ähnelt es für meinen Geschmack noch am ehesten „Stormwatch“, Ende der 70er. Einen total neuen Stil entdecke ich nicht, das erwartet aber auch kein Fan ernsthaft.
Wie eine „Stormwatch“ gestaltete sich auch die Entstehung des Albums. Als die Band zu Anfang der Pandemie noch vor dem ersten Konzert ihre Tournee abbrechen musste, zog sich Andersson in sein Haus zurück und wartete dort zunächst auf „das Ende des Sturms“ ab. Das Warten zog sich in die Länge und so entstanden Songs, die die Konfrontation mit dem Unerwarteten atmen. Die Wut und Verzweiflung, Traurigkeit, nicht auftreten zu dürfen, spiegelt sich in den Kompositionen wider. So überraschend das Album für die Fans kommen mag, war es das wohl längste, an der die Band arbeitete – und schwierigste, konnte man sich doch seltener zum Proben treffen, als über digitale Kanäle den Output auszutauschen.
Andersson selbst sagte in einem Interview, dieses Album sei über eine längere Zeit wie ein Whisky gereift. Eine gewisse Religiosität ist in den Songtexten erkennbar, aber die Botschaft ist eher, dass sich in religiösen Geschichten auch immer die Hässlichkeit wiederfindet. Die Texte sind weder auf Eiferer zugemünzt noch auf Hasser. Dennoch besteht die Gefahr, dass polarisierende Ansichten die gemäßigten übertönen.
Die 12 Titel haben eine Länge von 47 Minuten. Neben dem Titelsong gefielen mir noch der Einstieg „Mrs Tibbets“ und die beiden Songs am Albumende, „In Brief Visitation“ und „The Fisherman of Ephesus“. Ob das Mitwirken von Michael Barre an dem Album vermisst wird oder auffällt, mögen die Fans, die alle Alben, an denen er mitgewirkt hat, kennen, besser zu beurteilen wissen. Für mich klingt es jedenfalls nicht weniger nach Tull als andere Alben.