Metallica zertrümmern auf „72 Seasons“ ihre inneren Dämonen

Geschlagene sieben Jahre sind seit dem letzten Metallica-Album „Hardwired… To Self-Destruct“ ins Land gegangen. Im Grunde nichts besonderes bei dem Quartett aus Los Angeles, lagen doch zwischen „Hardwired…“ und dessen Vorgänger „Death Magnetic“ sogar acht Jahre schöpferische Pause. Trotzdem war es eine die Metalwelt elektrisierende Nachricht, als Universal Music Ende November 2022 ein neues Album aus der Schmiede von James Hetfield, Lars Ulrich, Kirk Hammett und Robert Trujillo ankündigte. Nun ist „72 Seasons“ unter allerlei Promo-Tamtam erschienen und markiert somit Album Nummer 12 in der über 40-jährigen Geschichte von Metallica.

Das passt, denn „72 Seasons“ haut mit seinen zwölf neuen Songs (Achtung Wortspiel!) voll auf die Zwölf. Ohne Gnade. 77 Minuten lang. Der Opener und Titeltrack beginnt mit einer kaputten Kreissäge, die irgendwann von den auf Krawall gebürsteten Gitarren gnadenlos zermalmt wird. Ein fiebriger und wütender Auftakt, der für den Rest des Albums die Richtung vorgibt. Atempausen sind dabei nicht vorgesehen. Das anschließende „Shadows Follow“ macht ebensowenig Gefangene und spätestens nach „Screaming Suicide“ wird einem so langsam der Nacken steif vom vielen Headbanging (jedenfalls in meinem Alter).

Stimmlich ist James Hetfield nach wie vor eine Urgewalt. Dabei zertrümmert er seine inneren Dämonen mit der Metalaxt und lässt seine Ängste auf dem Altar aus Stakkato-Riffs und gnadenlosen Sololäufen um Gnade winseln. Er singt über Selbstmordgedanken und mentale Gesundheit. Der inzwischen 59-Jährige arbeitet sich in den Songtexten an seiner Kindheit ab und lässt uns teilhaben an den persönlichen Prägungen, die sein Leben bis heute positiv wie negativ beeinflussen. Er selbst hat seine Intention so erklärt: „72 Seasons – 72 Jahreszeiten. Die ersten 18 Jahre unseres Lebens, in denen unser wahres oder falsches Selbstbild geprägt wird. Der Gedanke, dass unsere Eltern es waren, die einem erzählten, ‘wer man ist’. Welche Schubladen möglich und passend sein könnten für die Persönlichkeit, die man hat. Richtig spannend daran finde ich, wie sich diese Auseinandersetzung mit den eigenen Grundüberzeugungen darauf auswirkt, in welchem Licht wir die Welt um uns herum heute wahrnehmen. Denn ein Großteil dessen, was wir als Erwachsene erleben, ist entweder eine Wiederholung dessen oder eine Reaktion auf eben diese Kindheitserfahrungen. Gefangene der eigenen Kindheit – oder Befreiung von den Fesseln, die wir tragen.“

Nicht umsonst zeigt das Cover von „72 Seasons“ ein verkohltes Kinderbett, aus dem jemand ausgebrochen zu sein scheint. Wer auch immer es war, der Ausbruch war erfolgreich, denn die 12 Stücke strotzen nur so vor Energie. Wann klangen Metallica zuletzt so hart, brachial und düster? Da muss man lange zurückdenken. Vielleicht bis zu „…And Justice For All“. Dennoch: Bei aller Qualität und Authentizität ist „72 Seasons“ am Ende vielleicht um zwei Songs zu lang geraten. Aber wer „Too Far Gone?“ und „Room Of Mirrors“ geschafft hat (was beileibe keine Strafe ist), der wird mit dem eigentlichen Höhepunkt des Albums, dem elfminütigen Epos „Inamorata“ mehr als reichlich belohnt. In der Mitte hält „Inamorata“ mal für ungefähr 60 Sekunden die Luft an. Es ist die einzige ruhige Passage auf dem gesamten Album. Nicht umsonst nuschelt am Ende jemand „That’s the best one“ ins Mikro.

Metallica untermauern ihren Status als größte Metal-Band der Welt mit „72 Seasons“ auf eindrucksvolle Art und Weise. Am 27. April starten die Vier also quicklebendig ihre Welttournee in Amsterdam und werden dabei am 26. und 28. Mai 2023 auch in Hamburg gastieren sowie im kommenden Jahr für zwei Konzerte nach München kommen. Im Rahmen ihrer „M72 World Tour“ werden sie in jeder Stadt, in der sie Halt machen, an je zwei Abenden spielen. Das unmissverständliche Motto „No Repeat Weekend“ verspricht dabei zwei komplett unterschiedliche Sets. Für die „M72 World Tour“ setzt die Band auf ein revolutionäres neues Bühnendesign, dessen Kernstück der berüchtigte Metallica Snake Pit sein wird, in dem das Publikum die kreisförmige Bühne von allen Seiten einrahmt. Ein Teil der Einnahmen aus dem Ticketverkauf fließen übrigens an die von der Band gegründete All Within My Hands Foundation. Chapeau!