Ein Experiment, das für die 40-jährige Bandgeschichte steht
Nein, es ist nicht das langersehnte 15. Studioalbum von U2. Nach „Songs of Innocence“ (2014) und „Songs of Experience“ (2017) nun also „Songs of Surrender“. 40 Songs, verteilt auf vier CDs. Und nein, U2 steht das Wasser noch nicht bis zum Hals, wie auf dem Foto zu sehen ist. Warum covert die Band, die immer mehr Zeit zwischen zwei Alben verstreichen lässt, also sich selbst? Gehen U2 die Ideen aus? War man dem Plattenlabel noch eine CD schuldig?
Nichts da! Im Booklet erklärt es The Edge selbst. Er ist übrigens der Einzige des Quartetts, der darin ein Statement abgibt. Ansonsten sind von vier Farbfotos und den Porträtfotos der vier in Schwarzweiß abgesehen nur die üblichen Kredits und die Lyrics der 40 Songs abgedruckt. The Edge: „Wenn sich ein Song einprägt und weithin bekannt ist, verbindet man immer eine bestimmte Stimme damit. Aber was passiert, wenn sich eine Stimme über die Jahre hinweg entwickelt?“ Ihre bekanntesten Songs haben Bono und The Edge als junge Männer geschrieben und (Bono) gesungen. Die Bedeutung dieser Songs ist heute für die Band eine andere als damals. Heute würden sie diese Songs anders arrangieren, Tempo, Instrumentierung und Stimme variieren, weil sich in den Jahrzehnten auch die Emotionen geändert haben, die sie damit ausdrücken wollen.
In der Tat klingt das Album nicht wie eine Coverband, die wie U2 klingen will. U2 erfinden sich selbst neu. Die Band liefert weder ein reines Akustikalbum noch ein Unplugged-Album ab. Es erklingen neue Instrumente, Hektik und Pathos weichen stillen Passagen und in einigen Stücken gar chansonartigem oder sessionartigem Stil. Die stilprägende Gitarre von The Edge gerät im Gros der Songs völlig in den Hintergrund. Bono wird zum Liedermacher. Der Klavieranteil ist stärker als in den Originalen. Sogar an einigen Songs haben sich die Jungs an den Text gewagt und ihn stellenweise verändert. Das mag mithin ein Grund sein, warum alle bekannten Songtexte im Inlay wieder abgedruckt sind.
Was zunächst als Experiment gedacht war, artete sich zu einer Manie aus. Gleich 40 Songs kamen so zustande, die für die 40-jährige Bandgeschichte stehen. (Als sie mit dem Experimentieren begannen, feierte das erste Album „Boy“, 1980, gerade 40-Jähriges!) U2 haben sich charakterlich und natürlich altersmäßig entwickelt und das drückt sich in den Neuinterpretationen der 40 Songs aus. Dieser Sound ist der intimste, den U2 bislang gewagt hat.
Mit diesem Album überraschen U2 all ihre Fans und trösten darüber hinweg, dass sie sich in den letzten Jahren so rar machen. Ein kleiner Beigeschmack bleibt. Verabschieden sich U2 mit diesem 4-CD-Album von der großen Musikbühne? Oder was darf man noch von dieser Ausnahmeband erwarten?
Das Porträtfoto von Bono im Inlay ist übrigens identisch mit dem Coverfoto seiner ebenso außergewöhnlichen Biografie „Surrender“. Die 40 Songs bringen es auf eine Spielzeit von 2 Stunden und 46 Minuten. Da sind die 34 Euro, die ich hierfür gelatzt habe, gut angelegt (es kursieren auch Deluxe-Versionen, die wesentlich teurer sind).
Anspieltipps: Beautiful Day, Walk on, Who’s gonna ride your wild Horses?, Electrical Storm, Desire, Peace on Earth, Cedarwood Road.