Und wieder leuchten die Augen der Vinyl-Liebhaber

Im Jahr 1979 gründeten die Brüder Jon und Chriss Oliva in Florida die Band Avatar. Zwei Jahre später nannte man sich in Savatage um und schuf schon mit dem Debüt „Sirens“ (1983) einen wahren Klassiker der Metalgeschichte. Savatage sind bekannt für ihre großen Konzeptalben und die Longtracks, mit denen umfangreiche Geschichten erzählt werden. Schon zu Beginn ging es um die griechische Mythologie und den Holocaust. Später behandelten sie Hexen, Drogenmissbrauch und die Apokalypse. Ein Höhepunkt war definitiv die Rockoper „Streets“ um einen Drogendealer in New York, die wie ein rockiges Musical daherkam und sich auch religiösen Themen widmete.

Mitte der 1980er-Jahre traf die Band auf den versierten Produzenten Paul O’Neill und schon bald wurde ihr progressiver Metal-Sound durch eindringliche Orchestrierungen und eine starke melodische Komponente, gepaart mit eingängigen Melodien und komplexen Arrangements, definiert. Savatage erweiterten nicht nur ihre künstlerische Bandbreite von Album zu Album, sondern auch die allgemeinen Grenzen des Heavy-Rock-Genres selbst.

Zur Freude aller Vinyl-Liebhaber startete im August 2021 die umfangreiche Wiederveröffentlichung des gesamten Studioalbum-Backkatalogs in chronologischer Reihenfolge auf hochwertigen 12″-LPs via earMUSIC: „Sirens“, „The Dungeons Are Calling“, „Power Of The Night“, „Fight For The Rock“, „Hall Of The Mountain King“, „Gutter Ballet“ und „Streets – A Rock Opera“ kehrten bereits nach und nach auf feinstem Vinyl zurück in die Plattenläden. Aktuell wird die sorgfältig kuratierte Vinyl-Reissue-Serie mit der gleichzeitigen Veröffentlichung von zwei weiteren starken Alben fortgesetzt: „Edge of Thorns“ (1993) und „Handful of Rain“ (1994).

Dass diese beiden Schicksals-Alben der Band als Double veröffentlicht werden, ist wirklich passend. Im Jahr 1993 hatte man gerade das geniale „Streets“ hinter sich – aber dann musste Mastermind Jon Oliva wegen stimmlicher Probleme auf seinen Platz am Mikro verzichten und sich auf einige Keyboardparts beschränken. Er wurde am Gesang ersetzt durch Zak Stevens, der ebenfalls einen hörbar guten Job machte und dessen Vocals auch mit den Bandklassikern harmonierten. Das Album „Edge of Thorns“ bietet gewohnt bombastische Arrangements mit einer durchweg melodischen Linie. Harte Gitarrenriffs treffen auf feine Soli und kurze Pianostücke. Das Ergebnis ist nicht so orchestral wie manche Vorgänger, hat aber doch die Alleinstellungsmerkmale eines Savatage-Albums. Ganz vorne: Die wundervolle Gitarrenarbeit von Chriss Oliva, der sich charismatisch durch die Songs spielt. Keiner konnte ahnen, dass er ein halbes Jahr später an den Folgen eines Verkehrsunfalls sterben sollte. Und mit ihm der individuelle und einzigartige Sound einer großen Metalband.

Trotz der tiefen Veränderungen im Bandgefüge erschien schon 1994 das Album „Handful of Rain“. Für viele Fans waren es nicht mehr Savatage, da in der Stammband kein Mitglied der Urbesetzung mehr dabei war, aber seien wir ehrlich: Auch „Handful of Rain“ ist noch ein überaus starkes Powermetal-Album, das die klassischen orchestralen Elemente gekonnt mit hervorragender Gitarrenarbeit verbindet. Chriss fehlte – ohne Frage – doch die Band machte einen klasse Job. Zak sang sich wieder die Seele aus dem Leib und Gitarrist Axel Skolnick (Testament) wandelte zielsicher durch Riffs und Melodien. Es gibt fantastische Songs wie den Titeltrack und „Castles Burning“, doch das Herz geht mir vor allem bei den a-cappella-Passagen von „Chance“ auf. Der Achtminüter bietet filigrane Melodien, orchestralen Bombast, leise Piano- sowie Gitarrenakkorde und am Ende einen Chor zum Niederknien. Für mich ist „Handful of Rain“ trotz der traurigen Umstände ein geniales Album.

Bei der Vinyl-Neuauflage wurden die Cover zum Glück nicht angetastet. Vor allem das verträumte Fantasymotiv von „Edge of Thorns“ muss man einfach im LP-Format bewundern. Das Motiv von „Handful of Rain“ ist da eher bodenständig gehalten, versprüht aber viel Energie. Für jeden Release gibt es ein 12seitiges Booklet in LP-Größe. Die informativen Liner Notes stammen von Clay Marshall.