Christopher John Boyle ist eine Legende. Allerdings nicht unter seinem ursprünglichen Namen, sondern als Christopher, kurz Chris Cornell. In den achtziger und neunziger Jahren war er die treibende Kraft hinter Soundgarden, die 2010 ihre Re-Union erlebten und mit „King Animal“ eine fast schon triumphale Rückkehr feierten. Beim Kurzzeitprojekt Temple Of The Dog gab er gemeinsam mit Pearl Jam-Frontmann Eddie Vedder den Einsamen und Gestrandeten eine Stimme und prägte so nachhaltig die Grunge-Ära. Seit 1999 ist der 51-Jährige vorwiegend solo unterwegs, wenn man von dem Abstecher zu Audioslave mal absieht. In dieser Zeit hat Chris Cornell vier respektable Alben veröffentlicht. Vier? Na ja, eher drei. Die Kollaboration mit Timbaland auf „Scream“ von 2009 sorgt in Fankreisen heute noch wahlweise für ungläubiges Kopfschütteln oder spontane Magenentleerungen.
Auf „Higher Truth“ sind derartige Ausfallerscheinungen nicht zu erwarten. Das Album überzeugt zwar nicht durchgängig (zumal es in der uns vorliegenden Deluxe Edition über eine Stunde Spielzeit und fette sechzehn Songs umfasst), aber alleine die Zusammenarbeit mit Star-Produzent Brendan O’Brien bürgt schon für ein gewisses Maß an Klasse. Hinzu kommt, dass sich Chris Cornell wieder auf seine eigenen Songwriterqualitäten besonnen und mit Gitarre, Bass, Mandoline und hier und da ein wenig Percussion fast das gesamte Instrumentarium gleich selbst eingespielt hat. Von seiner einzigartigen Gesangsarbeit, die nach wie vor durch ihr großes Ausdrucksspektrum, technische Brillanz und die charakteristische warme Tonlage besticht, ganz zu schweigen. Dass da auch immer ein kleines bißchen Pathos mitschwingt, lässt sich leicht verschmerzen.
Musikalisch ist „Higher Truth“ ein tendenziell eher ruhiges und zurückgezogenes Album geworden. Allerdings eines, das viele interessante Spannungsbögen zu bieten hat (bestes Beispiel: „Murderer Of Blue Skies“). Dadurch erschließt es sich nicht auf Anhieb, sondern braucht einige Hördurchgänge, bis der Funken zündet. Teilweise verlässt sich Cornell dabei ganz auf seine Stimme und die auf Gitarre, Piano und sogar Streicher reduzierte Begleitung („Josephine“, „Higher Truth“, „Let Your Eyes Wonder“ oder „Only These Words“). Von ein paar Ausreißern abgesehen („Before We Disappear“ und das zu poppig geratene „Our Time In The Universe“) wirkt das aber weder eintönig noch angestrengt. Im Gegenteil. „Higher Truth“ könnte auch der Soundtrack zu einem dieser alten Roadmovies über die unglückliche Liebe in einer Halbstarken-Gang sein, in denen es von weichkernigen Jungs nur so wimmelt, die in ihren abgeschnittenen Jeansjacken durch die Gegend stolzieren und am Ende dann doch alleine mit sich und ihrem aufgemotzten Chevy über die staubige Straße in Richtung Sonnenuntergang brettern. Von den vier Bonustracks rechtfertigt übrigens nur das sakrale „Wrong Side“ den Kauf der Deluxe Edition. Ganz am Schluss gibt es nochmal einen Remix von „Our Time In The Universe“, was den Song aber auch nicht unbedingt besser macht. Kurz beschleicht einen dabei sogar das Gefühl, als könnte Timbaland tatsächlich wieder aus der Hip-Hop-Hölle auferstanden sein.
Im Ergebnis nimmt „Higher Truth“ in Chris Cornell’s Diskografie sicherlich einen der vorderen Plätze ein. Dadurch, dass er seine Rock-Wurzeln nicht verleugnet, schafft er hier eine gelungene Verbindung zwischen Minimalismus und Bombast. Dazu gibt es im Booklet erfreulicherweise alle Texte zum Mitlesen oder -singen. Mein Tipp: Legt euch mit dem Album auf’s Sofa und während draußen der kalte Wind an den Fensterscheiben rüttelt, macht ihr es euch unter einer Decke und mit viel Glühwein gemütlich.
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