Chris Cornell’s letztes Vermächtnis: „No One Sings Like You Anymore“
Vor fast genau vier Jahren, am 18. Mai 2017, starb Chris Cornell im Alter von 52 Jahren dem Polizeibericht zufolge durch Suizid in einem Hotelzimmer im MGM Grand in Detroit. Um zu verstehen, welch einen immensen Verlust sein Tod für die Musikwelt darstellte, reichen drei Bandnamen: Soundgarden, Temple Of The Dog, Audioslave. Zwischen 1988 und 2012 veröffentlichte er mit diesen Formationen zehn Alben. Hinzu kommen vier Studio- und ein Live-Album als Solokünstler. Mit seiner begnadeten Stimme drückte Chris Cornell jedem einzelnen Song seinen unverwechselbaren Stempel auf. Sie verlieh den Stücken gleichzeitig eine tiefe melancholische Traurigkeit und eine euphorische, ja nahezu kindliche Freude. Zwischen diesen beiden Polen schwankte wohl auch Chris Cornell sein gesamtes Leben lang, bevor im Mai 2017 die Melancholie siegte. Er galt schon immer als still und introvertiert und war nie die Art von Frontmann, die auf der Bühne hin und her rennt und die Leute animiert. Er wollte sie lieber mit seiner Musik berühren. Eine Musik, die uns in wunderbare und oft unbekannte Welten entführte. Sein Tod machte uns in mehrfacher Hinsicht sprachlos.
2016 nahm Chris Cornell zehn Coverversionen von Künstler*innen auf, die er sehr schätzte und die ihn inspirierten. Alle Instrumente wurden von ihm selbst und von Brendan O’Brien eingespielt, der das Album auch produzierte und final abmischte. Die beiden hatten schon bei Cornell’s vorherigem Album „Higher Truth“ zusammengearbeitet. Im Dezember des vergangenen Jahres wurde die Songsammlung unter dem bezeichnenden Titel „No One Sings Like You Anymore“ bereits digital veröffentlicht. Chris Cornell‘s Tochter Toni erinnert sich: „When my dad was making this album, it was so fun – I remember waking up in the morning, having breakfast with him and going with him into the studio. We would take our piano lessons there, and Christopher would play video games with Brendan and my dad. We got to experience so much with him and have so many amazing memories. I’m really happy to be sharing this album. We love you, daddy”. Nun folgt die Veröffentlichung von „No One Sings Like You Anymore“ auf CD und Vinyl, versehen mit dem Zusatz „Volume One“, was auf zukünftige weitere Ausgrabungen aus der Cornell’schen Schatzkammer hoffen lässt.
Die Version des Guns N‘ Roses-Klassikers „Patience“ erschien bereits an Chris Cornell‘s letztjährigem Geburtstag und verschaffte ihm posthum zum ersten Mal überhaupt einen Platz 1 in den Billboard Mainstream Rock Charts. Dazu gibt es ein sehr bewegendes Video (das ihr am Ende dieser Rezension findet), in dem die Kamera durch ein Meer von Polaroid-Fotos fliegt, die Chris Cornell so zeigen, wie wir ihn in Erinnerung haben: Als liebevollen Vater und Ehemann, vertrauten Freund und grossartigen Musiker. Axl Rose, Duff McKagan, Izzy Stradlin, Slash und Steven Adler stehen im Geiste Spalier und verneigen sich.
„No One Sings Like You Anymore“ beginnt mit „Get It While You Can“, im Original von Janis Joplin. Cornell macht daraus einen poppigen Beat, der ein wenig an seine „Timbaland-Phase“ erinnert, mit dem er 2009 das Album „Scream“ aufnahm, der einzige wirkliche Aussetzer in seiner Karriere. Die Neuinterpretation kann seiner stimmlichen Ausdruckskraft damals wie heute zum Glück jedoch nichts anhaben. Danach galoppiert „Jump Into The Fire“ (Harry Nilsson) durch die Gehörgänge und verbreitet die fröhliche Nachricht auf den Dancefloors dieser Welt: „We can make each other happy“. Ein Song zum Dauergrinsen. Es folgt „Sad Sad City“ von Ghostland Observatory, den Cornell als wippenden Countryblues interpretiert, der ihm wunderbar viel Raum lässt, um seine gesanglichen Fähigkeiten in allen Facetten zu zeigen. Das bereits erwähnte „Patience“, nur begleitet von einer Akustikgitarre und einem sparsamen Schlagzeug, rundet die erste Albumhälfte ab.
Noch spartanischer fällt seine Version des Prince-Hits „Nothing Compares 2 U“ aus. Von allen Coverversionen, die dieses Stück bereits erfahren hat (oder erfahren musste), ist diese mit Sicherheit die gefühlvollste, was auch an den eingestreuten Streichern liegen mag. Wie schön kann Musik eigentlich sein? „Watching The Wheels“ von John Lennon klingt bei Chris Cornell nach einem Picknick auf einer sonnenüberfluteten Blumenwiese, nach unbeschwerten Sommertagen und der unschuldigen Fröhlichkeit eines Kindes. Carl Hall‘s „You Don’t Know Nothing About Love“ steckt er in ein Blues-Gewand und man sieht ihn dabei förmlich in einem feinen Anzug auf einer verrauchten Bühne im Chicago der 50er Jahre stehen. „Showdown“ (Electric Light Orchestra) ist ein vor sich hin stampfender Ausflug in Industrial-Gefilde, bevor das Album mit Terry Reid‘s „To Be Treated Rite“ auf die Zielgerade einbiegt. Wieder nur Chris Cornell und seine Akustikgitarre. Er hört sich an wie ein Indianer, der das ganze Leid seines Volkes in diesen einen Song gelegt hat: „We are what we are when we’re prayin‘“. Den Abschluss bildet „Stay With Me Baby“, im Original von Lorraine Ellison, das vom Grundton melancholisch bleibt, zwischendurch aber immer wieder in einem Bombast explodiert, der Queen alle Ehre gemacht hätte. Allerspätestens jetzt ist klar, welchen grandiosen Musiker wir am 18. Mai 2017 verloren haben.
„No One Sings Like You Anymore“ ist deshalb mehr als „nur“ ein Vermächtnis. Es ist vor allem nicht der Versuch aus einem grossen Namen Kapital zu schlagen, wie Chris Cornell’s Ehefrau Vicky verschiedentlich vorgeworfen wurde. Nein! „No One Sings Like You Anymore“ ist die angemessene Würdigung und liebevolle Hommage für einen Ehemann, Vater und Ausnahmekünstler, dem die Welt viel mehr zu verdanken hat, als ihm zu Lebzeiten vermutlich selbst bewusst war.