Von Pflegekräften, Einkaufswelten und der Götterdämmerung
Erstaunliche sechseinhalb Jahre ist es schon her, dass Kettcars letztes Studioalbum „Ich vs. wir“ erschien. Erstaunlich vor allem deshalb, weil es immer noch in Endlosschleife meine Playlist bereichert. Die EP-Resteverwertung „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit“ hat mich dann 2019 nicht so ganz überzeugt, während die Live-CD „…und das geht so“ im selben Jahr eine absolute Offenbarung war.
Jetzt ist auch das schon fast fünf Jahre her und es wurde an der Zeit, die Band um Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff aus dem selbst gewählten Winterschlaf zu wecken. „Kreative Pause“ mag man das nennen. Und wenn dann ein solch geniales Album dabei heraus kommt, darf die Pause gerne mal etwas lang werden. „Gute Laune ungerecht verteilt“ bietet die ganze schöpferische Kraft eines grandiosen Kettcar-Albums. Die Lyrics sind so stark, dass man sie umgehend in den eigenen Zitatenschatz aufnehmen möchte. „Unser politischstes Album seit… Oh bitte, ich bin ganz kurz eingeschlafen“ heißt es da schon so kraftvoll im Opener „Auch für mich die 6. Stunde“. Es geht um aktuelle Ereignisse und den damit einhergehenden Zynismus: „Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot“. Besser kann man nicht erklären, warum unsere Welt kaputt ist.
„München“ erzählt mit eindringlichen Hardcore-Einwürfen von Chris Hell (Fjørt) von einem Menschen, der in München geboren ist und doch für immer Ausländer bleiben wird. Die Erzählung aus der Sicht zweier Protagonisten beherrschen Kettcar aus dem Effeff – und es bringt eine persönliche Geschichte wie so oft ganz nah.
„Doug & Florence“ beschäftigt sich mit der Situation von Krankenpfleger*innen und Paketzusteller*innen, den Helden einer Pandemie, die ansonsten aber in der Klassengesellschaft untergehen. Auch „Blaue Lagune, 21:45 Uhr“ beschäftigt sich mit unterschiedlichen sozialen Schichten von der Grundschule bis zum Tankstellenraub.
„Cancel Culture“ ist ein kontroverses Thema, das Kettcar in „Kanye in Bayreuth“ behandelt. Die Sammlung ist umfangreich von R. Kelly über Kevin Spacey bis Michael Jackson. Kann man Werk und Autor trennen? Werden alle den grünen Hügel raufgejagt? Die Antwort bleibt schwammig im Sprechgesang und am Ende doch eindeutig: „Gegen Wagner ist jedes Arschloch ein Pausenclown / Das ist subjektiv, meine Meinung, scheißegal“.
Tröstlich kommt „Was wir sehen wollten“ um die Ecke – und doch tieftraurig, wenn der Bettnachbar im Krankenhaus mit Blick aus dem Fenster das Paradies beschreibt, obwohl er nur in den kargen Hinterhof blickt. Auch „Einkaufen in Zeiten des Krieges“ erzählt eine solche Anekdote, wobei es hier um das tägliche Blutbad im Supermarkt geht und die zusammenfassende Weisheit „Nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen / Und es ist alles schon gesagt, aber noch nicht von jedem“.
Kettcar haben sich wieder selbst übertroffen und ich freue mich auf die Liveumsetzung ab nächster Woche. Produktionstechnisch ist das Album erste Sahne, mit musikalischen Feinheiten zwischen Indierock, Sprechgesang und alternativen Pophymnen. Der Album-Closer stellt ein Zwiegespräch zwischen Marcus Wiebusch und seinem jüngeren Ich dar. Schonungslos geht er im Text mit sich selbst ins Gericht und kommt zum Schluss „Du hast immer noch die gleiche Angst wie ich“.
KETTCAR – Tour 2024
Supports: *Kochkraft durch KMA, **Shitney Beers, ***Christin Nichols
05.04. Helgoland, Nordseehalle (mit Thees Uhlmann)
08.04. Köln, Luxor (ausverkauft)
11.04. Saarbrücken, Garage* (ausverkauft)
12.04. Wiesbaden, Schlachthof* (ausverkauft)
13.04. Oberhausen, Turbinenhalle 2* (ausverkauft)
14.04. Bremen, Pier 2*
16.04. Hannover, Capitol** (Restkarten)
17.04. Leipzig, Haus Auensee**
18.04. München, Tonhalle**
19.04. Köln, Palladium**
20.04. Berlin, Columbiahalle***
21.04. AT – Wien, Arena*** (ausverkauft)
23.04. Erlangen, E-Werk** (ausverkauft)
24.04. Stuttgart, Im Wizemann** (Restkarten)
25.04. Bielefeld, Lokschuppen***
26.04. Dresden, Alter Schlachthof***
27.04. Hamburg, Sporthalle*** (Restkarten)
Die Tour wird im Sommer fortgesetzt!