Bereits seit Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht Marcus Wiebusch Songs und Texte in verschiedenen Bandkonstellationen. Von Anfang an textet er so, dass die Worte etwas von den EmpfängerInnen verlangen – Keine Verklärung, keine Angepasstheit findet man je in den Zeilen, die eine unverkennbare Handschrift tragen. Denn egal ob thematisch zwischenmenschliche, gesellschaftliche oder immer auch politische Inhalte verhandelt werden, einen Wiebusch-Text erkennt man bereits am Klang der geschriebenen Zeile.
Während er als Sänger und Gitarrist der Hamburger Band Kettcar seit 2001 auf inzwischen sechs Studioalben und unzählige Konzerte im deutschsprachigen Raum zurückblickt, finden sich in seinem Katalog noch unzählige weitere bemerkenswerte Stücke, die seit Jahrzehnten nicht mehr, in manchen Fällen sogar noch nie, ihren Weg auf eine Bühne gefunden haben.
Im Frühsommer 2025 spielt Marcus Wiebusch unter dem Titel „Songs & Stories“ vier seiner seltenen Solo-Konzerte, um einige davon ins Licht zu führen. Und solo meint hier nicht unterstützt von einer Backing-Band, wie beim beachtlichen 2014er Solo-Album „Konfetti“, welches den Leuchtturmsong „Der Tag wird kommen“ beinhaltete, sondern wirklich ganz und gar allein auf der Bühne.
Bei den vier Konzerten in Worpswede, Köln, Langenberg und Wiesbaden darf also viel Unerwartetes erwartet werden: Über dreißig Jahre alte Songs vom „Hippiekacke“ Solo-Tape, denen teilweise auch heute eine Aktualität nicht abzusprechen ist, Stücke seiner zurecht legendär gehandelten Band „…But Alive“, die in nur acht Jahren Bestehen ein bis heute spürbares Vermächtnis hinterlassen hat, die Liebhaber-Nummern auf den Kettcar-Alben, die nie den Sprung vom Studio ins Live-Set geschafft haben, oder umarrangierte Songs des Solo-Albums, welches vor über zehn Jahren nur einmalig betourt wurde. Heimliche Hits und tiefe Cuts.
Die Konzertabende bieten außerdem Raum, um über Umstände, Entstehungsgeschichten und Erlebnisse zu sprechen – Denn dass Marcus Wiebusch maßgeblicher Motor und Kleber für die nationale wie internationale Punk- und Hardcore-Szene der 1990er war, mit anspruchsvollem Deutschpunk durch USA und Kanada tourte und viele wegweisende Bands als erster nach Europa holte – das sind nur ein paar der Geschichten, die man mal erzählen könnte.
Tickets für die „Songs & Stories“ Tour von Marcus Wiebusch sind ab Donnerstag, dem 27.02., ab 12:00 Uhr unter www.ghvc-shop.de erhältlich. Die Konzerte sind ausdrücklich nicht bestuhlt.
Es war ein recht nostalgischer Abend im Trierer Brunnenhof, direkt neben der altehrwürdigen Porta Nigra. KETTCAR waren endlich mal wieder in Trier und schwelgten (wie vermutlich viele Fans) in Erinnerungen ans Exhaus. Das Jugend- und Kulturzentrum wurde 2019 geschlossen und harrt seitdem vergeblich der längst fälligen Sanierung. Ob wirklich was draus wird? Man darf seine Zweifel haben, wenn man sich die marode Finanzsituation der ältesten Stadt Deutschlands anschaut.
Mit Blick aufs Publikum am 28. August waren da viele Menschen anwesend, die in den Jahrzehnten zuvor regelmäßig das Exhaus bevölkert und sicherlich ihre ganz eigene Geschichte mit Bands wie KETTCAR mitgebracht haben. Und es hatte viel Wahres, wenn Marcus Wiebusch rückblickend sagte, dass die Auftritte im Exhaus – beispielsweise ihr drittes Konzert ever als Support von TOMTE – Meilensteine in der Karriere der Band gewesen sind. Das ging den Anwesenden natürlich runter wie Öl und schaffte ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Hamburg und Trier.
Marcus und Reimer waren in bester Erzähllaune und kabbelten sich von Beginn an mit ihren Ansagen wie ein altes Ehepaar. Start war bereits um 20 Uhr ohne Vorgruppe, das die Location in der Altstadt ein Ende für 22 Uhr vorschrieb. Diese zwei Stunden wurden aber perfekt genutzt. Für Musik – aber auch, um über den Mut der Stadt zu staunen, im Wohnhaus von Karl Marx einen 1-Euro-Shop zuzulassen. Da der Brunnenhof auch in Rufweite der Karl-Marx-Statue liegt, wird der alte Herr sicher ein wenig über diese Bemerkung geschmunzelt haben.
Wiebusch erzählte gern von seiner Mama und ihrem vermeintlichen Einfluss auf die Band. Ihr wart lange nicht in Trier? Man hat euch nicht gefragt? Dann wart ihr vermutlich nicht gut genug. „Klarheit vor Harmonie“ benannte Marcus das Familienmotto. Und als es um den Song „München“ ging, wurde nochmal die Mutter herangezogen. Sollen wir so politisch werden? Ja, seid der Sand im Getriebe der Welt!
Ich liebe die fantastischen Ansagen. Mal voll skurriler Geschichten, wenn Marcus vom Proberaum unterm Swingerclub erzählt und wie er sich manchmal vorgestellt hat, dort „Balu“ auf der Minibühne zu singen, oder melancholisch, wenn es zu „Landungsbrücken raus“ immer wieder heißt: „In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung“. Ja, alte Hansestadt – bewahre dir diese Hoffnung.
Was die Setlist angeht, will ich gerne auf meinen Bericht zum Konzert in Saarbrücken hinweisen. Das ist gerade mal vier Monate her und auch damals stand das aktuelle Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ im Mittelpunkt. Lest HIER die komplette Review.
Kaum eine Band schafft es, über Jahrzehnte textlich so scharf und tiefgründig zu bleiben wie KETTCAR. Oft kommen mir deren Album wie eine Sammlung von Sinnsprüchen vor, ohne dabei irgendwie platt zu wirken. Darum hier jetzt mal eine etwas andere Setlist zum Konzert am 28.8.2024 im Brunnenhof Trier mit mir ganz subjektiv wichtigen Textzeilen wiedergeben:
Es gibt keine coole Lösung, wenn man selber das Problem ist (Auch für mich 6. Stunde) Nicht schlafen bevor wir hier heute Nacht das Meer sehen (Benzin und Kartoffelchips) Guten Morgen, Liebe meines Lebens (Rettung) Und da sah ich das Heer der leeren Flaschen auf dem Balkon verteilt (Balkon gegenüber) Nein, Werk und Autor bleiben jetzt mal schön beisammen (Kanye in Bayreuth) Du gehst tränenreich in eine höhere Liga (48 Stunden) Mein Herz ist ein totgeschlagenes Robbenbaby (München) Er nahm seinen alten Ford Granada und ward nie mehr gesehen (Sommer ’89) Frieden ist wenn alle gleich sind (Balu) Du weißt nicht wie das ist, wenn man immer eine Maske trägt (Der Tag wird kommen) Zeig mir einen dem das egal ist und ich zeig euch einen Lügner (Money Left to Burn) Zu erkennen, dass man glücklich ist, ist Kunst (Anders als gedacht) Lieber peinlich als authentisch (Kein Außen mehr) Wie aus romantischen Komödien entsprungen (Ankunftshalle) In deinem ausgesuchten Leben, vollgestopft mit Privilegien (Ein Brief meines 20-jährigen Ichs) Es ist auch nur die Angst, die bellt, wenn ein Königreich zerfällt (Im Taxi weinen) Ein letztes mal winken und raus (Landungsbrücken raus) Und nicht alle in Hamburg woll’n zu König der Löwen (Einkaufen in Zeiten des Krieges) So lang die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende (Ich danke der Academy) Nur weil man sich so dran gewöhnt hat, ist es nicht normal (Deiche) Und am besten auf dich reimt sich immer noch mich (Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt)
„Gute Laune ungerecht verteilt“, so lautet der Titel des neuen Kettcar-Albums. Am Donnerstag aber war von Ungerechtigkeit kaum etwas zu bemerken, sind doch die Fans einfach glücklich, dass die Hamburger Band nach langer Pause endlich wieder ein Album auf dem Markt hat (das sogar Platz 1 der deutschen Charts enterte) und sich zurzeit auf ausgiebiger Tour befindet. So war die Garage in Saarbrücken schon seit Monaten ausverkauft und es tummelte sich allerlei Publikum im großen Rund, das auch ältere Semester mit einschloss. Kettcar waren von Beginn an – seit 2001 – eine Band für alle Generationen.
Bevor aber Marcus Wiebusch & Co. loslegten, waren Kochkraft durch KMA als Support gefragt. Der Bandname ist schwer zu merken aber leicht zu googeln. Die Band um Sängerin Lana Giese stammt aus dem Großraum Köln und feiert sich mit interessanten Wortschöpfungen. So sehen sie sich als Vertreter*innen der „Neuen Deutschen Kelle“, einer Neuinterpretation von NDW. In diesem Sinne gibt es Punk mit Sprechgesang, schnell, laut und elektronisch.
Das neuste Album „Alle Kinder sind tot“ erschien bereits vor fast zwei Jahren. Die aktuelle Single „Mein Hund heißt wie Du!“ wurde gemeinsam mit Team Scheisse aufgenommen und beim Kettcar-Label Grand Hotel van Cleef veröffentlicht. So kamen die dynamische Frontfrau und ihr agiles Team vermutlich zu der Rolle als Support, die sie in 40 Minuten Konzertlänge glänzend ausfüllten. Viele werden Kochkraft durch KMA vermutlich an die laute Rockband erinnert haben, die Kettcar noch vor 23 Jahren waren.
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Pünktlich um 21 Uhr waren die Hamburger am Start. Aus der lauten Rockband ist eine nachdenkliche Truppe geworden, die mit ihrem Politpunk immer noch wichtige Geschichten erzählt, den Fokus aber mehr aufs Erzählen als aufs eingängige Abfeiern legt. Es war der offizielle Tourstart nach Clubkonzerten auf Helgoland und im Kölner Luxor. Und die Garage war der perfekte Ort dafür, konnten Marcus und Reimer doch von unzähligen Gigs in der Region schwelgen, beginnend mit dem kultigen Start 2003 im P-Werk Blieskastel.
„Auch für mich die 6. Stunde“ eröffnete den Set. Es geht darin um aktuelle Ereignisse und den damit einhergehenden Zynismus: „Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot“. Besser kann man nicht erklären, warum unsere Welt kaputt ist. Dann „Benzin und Kartoffelchips“ vom Album „Ich vs. Wir“, das bald schon erschreckende sieben Jahre alt wird. Wiebusch lud zu einer kleinen Zeitreise ein von „Money Left To Burn“ (2001) über „Balkon gegenüber“ (2002) und „48 Stunden“ (2005), was der bislang höchste Charteinstieg der Band war. Grund genug, auch den Radiosender SR2 zu loben, der das Saarbrücker Konzert mitgeschnitten hat und es demnächst in verkürzter Form senden wird.
Weiter ging es politisch mit „Sommer 89“ und dem grandiosen „München“, das nach Meinung von Reimer Bustorff auch den Titel „Saarbrücken-Dudweiler“ tragen könnte, geht es doch um einen Menschen, der in Deutschland geboren ist aber für immer Ausländer bleiben wird. Die Setlist war insgesamt ausgewogen und – meiner Meinung nach – absolut großartig. So gab es die Ballade „Balu“, allein mit Gitarre und Piano begleitet, und „Doug & Florence“ gegen die liberale Zumutungspolitik.
Ob Musik etwas bewirken kann, wird Marcus oft gefragt – und kann es nicht mehr hören. Er sagt seine Meinung und schreit sie bisweilen laut heraus. So kann er Momente genießen wie die Performance seines formidablen Solosongs „Der Tag wird kommen“ über einen homosexuellen Fußballstar. Auch dieser fand seinen Platz im Set und verursachte mir und vielen anderen Gänsehaut – wie immer, wenn man das dazu gehörige Video sieht, das auch hier im Hintergrund ablief. Klar befindet man sich in einer Meinungsblase, aber das daraus entstehende Zusammengehörigkeitsgefühl kann jeden stärken.
Eine Premiere feierte der Song „Blaue Lagune, 21.45 Uhr“ den es bisher noch nirgends live gab. Als letztes im regulären Set folgte um 22.30 Uhr das umjubelte „Landungsbrücken raus“. Der Zugabenblock dehnte dann das Konzerte auf lockere zwei Stunden aus. Mein Highlight? Wie immer „Trostbrücke Süd“. Ein atmosphärischer Song über die Verlorenen im Frühbus, der in einem skurillen Moment an der Endstation gipfelt, wenn alle verbliebenen Fahrgäste auf ihre Sitze steigen und dem Busfahrer skandieren: „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser“. Wie geil ist das denn? Und wie perfekt wirkt dieser Song in später Konzertkulisse? „Auf den billigen Plätzen“, „Ich danke der Academy“ und „Deiche“ beendeten das grandiose Comeback-Konzert.
Wer Kettcar in der Region Trier nochmal live sehen will, hat dazu am 28. August Gelegenheit, wenn die Band den Brunnenhof neben der Porta Nigra mit guter Musik erfüllen wird. Die kompletten restlichen Tourdaten 2024 findet ihr ganz unten in diesem Text.
Setlist KETTCAR, Garage Saarbrücken, 11. April 2024
Auch für mich 6. Stunde
Benzin und Kartoffelchips
Money Left to Burn
Balkon gegenüber
48 Stunden
Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
München
Rettung
Notiz an mich selbst
Balu
Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)
Erstaunliche sechseinhalb Jahre ist es schon her, dass Kettcars letztes Studioalbum „Ich vs. wir“ erschien. Erstaunlich vor allem deshalb, weil es immer noch in Endlosschleife meine Playlist bereichert. Die EP-Resteverwertung „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit“ hat mich dann 2019 nicht so ganz überzeugt, während die Live-CD „…und das geht so“ im selben Jahr eine absolute Offenbarung war.
Jetzt ist auch das schon fast fünf Jahre her und es wurde an der Zeit, die Band um Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff aus dem selbst gewählten Winterschlaf zu wecken. „Kreative Pause“ mag man das nennen. Und wenn dann ein solch geniales Album dabei heraus kommt, darf die Pause gerne mal etwas lang werden. „Gute Laune ungerecht verteilt“ bietet die ganze schöpferische Kraft eines grandiosen Kettcar-Albums. Die Lyrics sind so stark, dass man sie umgehend in den eigenen Zitatenschatz aufnehmen möchte. „Unser politischstes Album seit… Oh bitte, ich bin ganz kurz eingeschlafen“ heißt es da schon so kraftvoll im Opener „Auch für mich die 6. Stunde“. Es geht um aktuelle Ereignisse und den damit einhergehenden Zynismus: „Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot“. Besser kann man nicht erklären, warum unsere Welt kaputt ist.
„München“ erzählt mit eindringlichen Hardcore-Einwürfen von Chris Hell (Fjørt) von einem Menschen, der in München geboren ist und doch für immer Ausländer bleiben wird. Die Erzählung aus der Sicht zweier Protagonisten beherrschen Kettcar aus dem Effeff – und es bringt eine persönliche Geschichte wie so oft ganz nah.
„Doug & Florence“ beschäftigt sich mit der Situation von Krankenpfleger*innen und Paketzusteller*innen, den Helden einer Pandemie, die ansonsten aber in der Klassengesellschaft untergehen. Auch „Blaue Lagune, 21:45 Uhr“ beschäftigt sich mit unterschiedlichen sozialen Schichten von der Grundschule bis zum Tankstellenraub.
„Cancel Culture“ ist ein kontroverses Thema, das Kettcar in „Kanye in Bayreuth“ behandelt. Die Sammlung ist umfangreich von R. Kelly über Kevin Spacey bis Michael Jackson. Kann man Werk und Autor trennen? Werden alle den grünen Hügel raufgejagt? Die Antwort bleibt schwammig im Sprechgesang und am Ende doch eindeutig: „Gegen Wagner ist jedes Arschloch ein Pausenclown / Das ist subjektiv, meine Meinung, scheißegal“.
Tröstlich kommt „Was wir sehen wollten“ um die Ecke – und doch tieftraurig, wenn der Bettnachbar im Krankenhaus mit Blick aus dem Fenster das Paradies beschreibt, obwohl er nur in den kargen Hinterhof blickt. Auch „Einkaufen in Zeiten des Krieges“ erzählt eine solche Anekdote, wobei es hier um das tägliche Blutbad im Supermarkt geht und die zusammenfassende Weisheit „Nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen / Und es ist alles schon gesagt, aber noch nicht von jedem“.
Kettcar haben sich wieder selbst übertroffen und ich freue mich auf die Liveumsetzung ab nächster Woche. Produktionstechnisch ist das Album erste Sahne, mit musikalischen Feinheiten zwischen Indierock, Sprechgesang und alternativen Pophymnen. Der Album-Closer stellt ein Zwiegespräch zwischen Marcus Wiebusch und seinem jüngeren Ich dar. Schonungslos geht er im Text mit sich selbst ins Gericht und kommt zum Schluss „Du hast immer noch die gleiche Angst wie ich“.
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Ich habe mich vor dem Konzert riesig gefreut, Kettcar noch einmal live sehen zu können, bevor die Band sich in eine angekündigte Pause auf unbestimmte Zeit verabschiedet. Die Freude stieg und stieg aber von Song zu Song noch mehr an, denn so eine tolle Setlist hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können.
Schon vom Start in den Abend an ist alles super! Freundliche Sicherheitsleute, nette Begrüßung von allen Seiten und an der Gästeliste eine Spende für Sea Watch – herrlich! Das Düsseldorfer Stahlwerk erinnert mich vom Aussehen her sehr an den Lokschuppen in Bielefeld, wo ich kürzlich Thees Uhlmann gesehen habe. Nur der Außenbereich unterscheidet sich wie Tag und Nacht: Während der Lokschuppen in einem Industriegebiet liegt, kommt man auf dem Weg zum Eingang des Stahlwerks durch eine Beachbar, im Sommer ist es bestimmt richtig schön hier.
Schrottgrenze eröffnen den Abend pünktlich um 20 Uhr und begeistern das Publikum mit Songs wie „Am gleichen Meer“ und „Fotolabor“ vom Album „Château Schrottgrenze“ von 2006 sowie „Lied vom Schnee“, welches von ihrem 2004 erschienenen Album „Das Ende unserer Zeit“ stammt. Dadurch ist auch für Altbekannte etwas dabei, wobei die Band natürlich auch Songs ihres 2019 erschienenen Albums „Alles zerpflücken“ spielt, mit dem sie im letzten Jahr bis auf Platz 53 der deutschen Albumcharts geklettert sind. „Fernglas“ widmet die Band Kettcar, weil sie glauben, das sei Kettcars Lieblingssong von ihnen. So etwas finde ich eine viel schönere Geste als sich mit 10.000 Worten dafür zu bedanken, dass man als Vorgruppe mit auf Tour gehen darf.
Wer nun schon mehrere Reviews von mir gelesen hat, weiß vielleicht, dass ich gesellschaftspolitisch linke Konzerte und Ansagen auf Konzerten sehr schön finde. „Alles zerpflückt“ wird mit den Worten „Dear Ladies and Gentlemen and Anyone Inbetween!“ eingeleitet. Wunderbar! Unter den Voraussetzungen verwundert es vielleicht nicht, dass Schrottgrenze mich vor allem mit „Sterne“ vom 2017er Album „Glitzer auf Beton“ begeistern. Diesen Song spielen sie für die queere Community und all diejenigen, die sich als Alliierte zeigen. Dass ihre Musik die Vielfalt der Geschlechter über das binäre Geschlechtersystem hinaus proklamiert, zeigt sich auch im Text dieses Songs. Mit Herzchen in den Augen vor Begeisterung werfe ich um 20.40 Uhr einen Blick auf meine Uhr, denn da verlassen Schrottgrenze die Bühne.
Kettcar lässt uns haargenau 23 Minuten warten, bevor sie einen ungewöhnlich ruhigen Start mit „Volle Distanz“ vom Album „Du und wieviel von deinen Freunden“ von 2002 hinlegen. Doch dieser ruhigere Beginn tut der Stimmung keinen Abbruch, es wird gejubelt und spätestens beim zweiten Song „Money Left to Burn“ explodiert das Stahlwerk förmlich vor lauter freudiger Tanz-Energie. Diese wird ideal unterstützt von den „Fantastischen Drei“, wie Marcus Wiebusch die drei Blasmusiker, die die Band begleiten, nennt. Doch nicht nur „Money Left to Burn“, sondern auch die anderen Songs klingen durch die Blasmusik viel voller, gigantischer und es macht noch mehr Spaß dazu auf und ab und vor und zurück zu hüpfen.
Nun wird deutlich: Die Düsseldorfer*innen sind an diesem Sonntagabend nicht nur in Tanzlaune, sondern auch sehr textsicher, und zwar so textsicher, dass ich ganz hinten stehend hören kann, wie viele Leute da vorne mitsingen. Hut ab! Die Textsicherheit beschränkt sich allerdings eher auf die älteren Songs wie „Rettung“ oder „Im Taxi weinen“. Doch auch für Kettcar-„Neulinge“ haben die Hamburger etwas dabei: Von der letzten EP „Wir vs. Ich“ spielen sie „Palo Alto“, in dem es um die Probleme des digitalen Kapitalismus geht und von „Ich vs. Wir“ bekommen wir unter anderem „Benzin und Kartoffelchips“, „Sommer ‚89“, „Wagenburg“ und „Ankunftshalle“ zu hören. Bei dem Marcus Wiebusch Song „Nur einmal rächen“ bin ich gefühlt die einzige in meiner Umgebung, die sich die Seele aus dem Leib brüllt, doch das macht gar nichts, denn seit ich den Song vor einigen Jahren zum ersten Mal gehört habe, wünsche ich mir, ihn live erleben zu dürfen. Und ich wusste „Dieser Tag wird kommen“ – das hat Kettcar nämlich auch noch von Marcus Wiebuschs „Konfetti“ gespielt. Stillhalten ist bei diesem Song, der sich mit Homophobie im Männerfußball kritisch auseinandersetzt, praktisch unmöglich, was sich auch hier in Düsseldorf wieder zeigt. Der kaum enden wollende Applaus nach den letzten Tönen dieses Lieds hat mir doch noch Hoffnung gegeben, dass die Welt nicht ganz so verkorkst ist, wie befürchtet.
Immer wieder streut die Band Anekdoten in ihr Set ein, allerdings ohne die Musik durch zu viel Gerede zu überdecken. Sie erzählen von ihrem neuen Proberaum in Hamburg, der unter einem der größten Swinger-Clubs der Stadt liegt. In diesen hat Peter, wie Marcus Wiebusch die gute Seele des Gebäudekomplexes nennt, sie auch schon einmal eingeladen, ein Konzert zu spielen – interessante Vorstellung. Und diese Anekdote war lustigerweise in den „romantischen“ Song-Block des Abends eingelassen, zwischen „48 Stunden“ und „Balu“, wobei Marcus Wiebusch uns bittet den Applaus zu unterlassen, der ertönt, als er sagt, er wolle sich gar nicht vorstellen, wie es wäre „Balu“ dort oben im Swinger-Club zu spielen. Das Ganze bekommen sie aber so hin, ohne sich über Menschen lustig zu machen, die solche Orte legitimerweise besuchen – schön! Auch die Screens, die wir schon von der „Ich vs. Wir“-Tour kennen, kommen wieder zum Einsatz und zeigen Musikvideos zu den Songs, wo es denn welche gibt, ansonsten wird die Band gefilmt. Nur bei „Balu“ übertreiben sie es meiner Meinung nach ein wenig, als ein Sternenhimmel abgebildet wird. Etwas zu „romantisch“ für meinen Geschmack, aber das will ja nichts heißen. Später erzählt Reimer Bustorff eine Geschichte von seiner Tochter, die bei Fridays for Future mit-streikte, obwohl sie erst in der fünften Klasse ist. Er klingt sehr stolz und kündigt den Song „Den Revolver entsichern“ für all diejenigen, die sich engagieren, mit den Worten „Politisiert euch! Macht was!“ an. Also: Wer mal eine Aktivismus-Flaute hat, höre diesen Song. Klassischerweise endet das Main-Set mit „Landungsbrücken raus“, das immer und überall ein Knaller ist. Als Zugabe hören wir noch „Trostbrücke Süd“, „Kein Außen mehr“, „Deiche“ und „Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt“.
Wunderbar, wunderschön und wundervoll war es, dank dieser tollen Vorband Schrottgrenze und Kettcar als grandiosem Main-Act. Schöner hätte es kaum werden können – halt, doch: Liebe Konzertbesucher*innen, Social Media Plattformen sind ja ganz toll und es ist auch schön, wenn man seine Erlebnisse teilt (tue ich ja gerade auch), aber Hand auf‘s Herz: Wer schaut sich denn wirklich euer Drei-Minuten-super-verwackeltes-schief-mitgesungenes-Konzertvideo an? Also lasst eure Handys doch in den Taschen und genießt den Augenblick, denn wie Kettcar nochmal betonen, kommen sie so schnell leider nicht wieder.
„Liebe ist das, was man tut“: Mit solchen Textzeilen und dem Song „Rettung“ starten Marcus Wiebusch und Kettcar ihr neues Livealbum „…und das geht so“. Es war das 2017er Werk „Ich vs. Wir“, das die Band zu den größten Konzerten ihrer Geschichte führte. Und weil man aufhören (oder zumindest Pause machen) soll, wenn es am schönsten ist, veröffentlichen die Hamburger einen Konzertmitschnitt, um die Pause von noch undefinierter Länge einzuläuten. Bleibt zu hoffen, dass es nur eine kurzes Verschnaufen sein wird, denn Kettcar waren in den vergangenen zwei Jahren nicht nur so gut wie immer – sie waren noch besser!
„Ich vs. Wir“ ist schnell zu einem meiner Lieblingsalben der letzten Jahre avanciert. Und (sozusagen als „Spätberufener“) wurde das erste Kettcar-Konzert, das ich erleben dürfte, zu einer Art Erweckungserlebnis. Wenn Wiebusch anfängt, seine in Songs gepackten Anekdoten und Geschichten auf der Bühne auszuleben, führt dies zu magischen Momenten. An „Sommer ’89“, „Benzin und Kartoffelchips“ sowie „Trostbrücke Süd“ kann ich mich gar nicht satt hören. Doch es sind nicht nur die neuen Stücke – die Band um Wiebusch und Reimer Bustorff gibt hier einen karriereumspannenden Überblick. 21 Titel, die sinnbildlich für die Emotionen, die Ideen, die Philosophie und die anklagende Attitüde der Band stehen.
Foto: Andreas Hornoff
„…und das geht so“ zeigt uns, wie’s geht. Der Mitschnitt wird zum unverwechselbaren Liveerlebnis. Mit knappen aber vielsagende Ansagen („Humansimus ist nicht verhandelbar“). Mit starken Arrangements, erweitert um ein kongeniales Bläsertrio, das den Songs neuen Drive verleiht. Die perfekte Setlist enthält auch Wiebuschs Solosong “Der Tag wird kommen” über einen homosexuellen Fußballstar. Der verursacht mir jedes Mal Gänsehaut. Gegen Ende folgt das umjubelte „Landungsbrücken raus“, das Marcus Wiebusch mit den Worten „In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung“ einläutet. Zu „Deiche“ und dem uralten Kracher „Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt“ kommt ein letztes Mal Feierstimmung auf.
Wie soll man das alles zusammenfassen? „…und das geht so“ ist für mich die perfekte Liveplatte zum Immer-wieder-hören. Sie weckt Erinnerungen an ein wundervolles Konzerterlebnis, kann aber auch für sich stehen. Wichtige Songs, keine Lückenfüller, eine Atmosphäre, wie sie nur Meister ihres Fachs schaffen können. Man kann Anfang 2020 die Band noch auf wenigen Konzerten live erleben. Bleibt zu hoffen, dass die angekündigte Pause nicht zu lange dauert.