Ich habe mich vor dem Konzert riesig gefreut, Kettcar noch einmal live sehen zu können, bevor die Band sich in eine angekündigte Pause auf unbestimmte Zeit verabschiedet. Die Freude stieg und stieg aber von Song zu Song noch mehr an, denn so eine tolle Setlist hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können.
Schon vom Start in den Abend an ist alles super! Freundliche Sicherheitsleute, nette Begrüßung von allen Seiten und an der Gästeliste eine Spende für Sea Watch – herrlich! Das Düsseldorfer Stahlwerk erinnert mich vom Aussehen her sehr an den Lokschuppen in Bielefeld, wo ich kürzlich Thees Uhlmann gesehen habe. Nur der Außenbereich unterscheidet sich wie Tag und Nacht: Während der Lokschuppen in einem Industriegebiet liegt, kommt man auf dem Weg zum Eingang des Stahlwerks durch eine Beachbar, im Sommer ist es bestimmt richtig schön hier.
Schrottgrenze eröffnen den Abend pünktlich um 20 Uhr und begeistern das Publikum mit Songs wie „Am gleichen Meer“ und „Fotolabor“ vom Album „Château Schrottgrenze“ von 2006 sowie „Lied vom Schnee“, welches von ihrem 2004 erschienenen Album „Das Ende unserer Zeit“ stammt. Dadurch ist auch für Altbekannte etwas dabei, wobei die Band natürlich auch Songs ihres 2019 erschienenen Albums „Alles zerpflücken“ spielt, mit dem sie im letzten Jahr bis auf Platz 53 der deutschen Albumcharts geklettert sind. „Fernglas“ widmet die Band Kettcar, weil sie glauben, das sei Kettcars Lieblingssong von ihnen. So etwas finde ich eine viel schönere Geste als sich mit 10.000 Worten dafür zu bedanken, dass man als Vorgruppe mit auf Tour gehen darf.
Wer nun schon mehrere Reviews von mir gelesen hat, weiß vielleicht, dass ich gesellschaftspolitisch linke Konzerte und Ansagen auf Konzerten sehr schön finde. „Alles zerpflückt“ wird mit den Worten „Dear Ladies and Gentlemen and Anyone Inbetween!“ eingeleitet. Wunderbar! Unter den Voraussetzungen verwundert es vielleicht nicht, dass Schrottgrenze mich vor allem mit „Sterne“ vom 2017er Album „Glitzer auf Beton“ begeistern. Diesen Song spielen sie für die queere Community und all diejenigen, die sich als Alliierte zeigen. Dass ihre Musik die Vielfalt der Geschlechter über das binäre Geschlechtersystem hinaus proklamiert, zeigt sich auch im Text dieses Songs. Mit Herzchen in den Augen vor Begeisterung werfe ich um 20.40 Uhr einen Blick auf meine Uhr, denn da verlassen Schrottgrenze die Bühne.
Kettcar lässt uns haargenau 23 Minuten warten, bevor sie einen ungewöhnlich ruhigen Start mit „Volle Distanz“ vom Album „Du und wieviel von deinen Freunden“ von 2002 hinlegen. Doch dieser ruhigere Beginn tut der Stimmung keinen Abbruch, es wird gejubelt und spätestens beim zweiten Song „Money Left to Burn“ explodiert das Stahlwerk förmlich vor lauter freudiger Tanz-Energie. Diese wird ideal unterstützt von den „Fantastischen Drei“, wie Marcus Wiebusch die drei Blasmusiker, die die Band begleiten, nennt. Doch nicht nur „Money Left to Burn“, sondern auch die anderen Songs klingen durch die Blasmusik viel voller, gigantischer und es macht noch mehr Spaß dazu auf und ab und vor und zurück zu hüpfen.
Nun wird deutlich: Die Düsseldorfer*innen sind an diesem Sonntagabend nicht nur in Tanzlaune, sondern auch sehr textsicher, und zwar so textsicher, dass ich ganz hinten stehend hören kann, wie viele Leute da vorne mitsingen. Hut ab! Die Textsicherheit beschränkt sich allerdings eher auf die älteren Songs wie „Rettung“ oder „Im Taxi weinen“. Doch auch für Kettcar-„Neulinge“ haben die Hamburger etwas dabei: Von der letzten EP „Wir vs. Ich“ spielen sie „Palo Alto“, in dem es um die Probleme des digitalen Kapitalismus geht und von „Ich vs. Wir“ bekommen wir unter anderem „Benzin und Kartoffelchips“, „Sommer ‚89“, „Wagenburg“ und „Ankunftshalle“ zu hören. Bei dem Marcus Wiebusch Song „Nur einmal rächen“ bin ich gefühlt die einzige in meiner Umgebung, die sich die Seele aus dem Leib brüllt, doch das macht gar nichts, denn seit ich den Song vor einigen Jahren zum ersten Mal gehört habe, wünsche ich mir, ihn live erleben zu dürfen. Und ich wusste „Dieser Tag wird kommen“ – das hat Kettcar nämlich auch noch von Marcus Wiebuschs „Konfetti“ gespielt. Stillhalten ist bei diesem Song, der sich mit Homophobie im Männerfußball kritisch auseinandersetzt, praktisch unmöglich, was sich auch hier in Düsseldorf wieder zeigt. Der kaum enden wollende Applaus nach den letzten Tönen dieses Lieds hat mir doch noch Hoffnung gegeben, dass die Welt nicht ganz so verkorkst ist, wie befürchtet.
Immer wieder streut die Band Anekdoten in ihr Set ein, allerdings ohne die Musik durch zu viel Gerede zu überdecken. Sie erzählen von ihrem neuen Proberaum in Hamburg, der unter einem der größten Swinger-Clubs der Stadt liegt. In diesen hat Peter, wie Marcus Wiebusch die gute Seele des Gebäudekomplexes nennt, sie auch schon einmal eingeladen, ein Konzert zu spielen – interessante Vorstellung. Und diese Anekdote war lustigerweise in den „romantischen“ Song-Block des Abends eingelassen, zwischen „48 Stunden“ und „Balu“, wobei Marcus Wiebusch uns bittet den Applaus zu unterlassen, der ertönt, als er sagt, er wolle sich gar nicht vorstellen, wie es wäre „Balu“ dort oben im Swinger-Club zu spielen. Das Ganze bekommen sie aber so hin, ohne sich über Menschen lustig zu machen, die solche Orte legitimerweise besuchen – schön! Auch die Screens, die wir schon von der „Ich vs. Wir“-Tour kennen, kommen wieder zum Einsatz und zeigen Musikvideos zu den Songs, wo es denn welche gibt, ansonsten wird die Band gefilmt. Nur bei „Balu“ übertreiben sie es meiner Meinung nach ein wenig, als ein Sternenhimmel abgebildet wird. Etwas zu „romantisch“ für meinen Geschmack, aber das will ja nichts heißen. Später erzählt Reimer Bustorff eine Geschichte von seiner Tochter, die bei Fridays for Future mit-streikte, obwohl sie erst in der fünften Klasse ist. Er klingt sehr stolz und kündigt den Song „Den Revolver entsichern“ für all diejenigen, die sich engagieren, mit den Worten „Politisiert euch! Macht was!“ an. Also: Wer mal eine Aktivismus-Flaute hat, höre diesen Song. Klassischerweise endet das Main-Set mit „Landungsbrücken raus“, das immer und überall ein Knaller ist. Als Zugabe hören wir noch „Trostbrücke Süd“, „Kein Außen mehr“, „Deiche“ und „Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt“.
Wunderbar, wunderschön und wundervoll war es, dank dieser tollen Vorband Schrottgrenze und Kettcar als grandiosem Main-Act. Schöner hätte es kaum werden können – halt, doch: Liebe Konzertbesucher*innen, Social Media Plattformen sind ja ganz toll und es ist auch schön, wenn man seine Erlebnisse teilt (tue ich ja gerade auch), aber Hand auf‘s Herz: Wer schaut sich denn wirklich euer Drei-Minuten-super-verwackeltes-schief-mitgesungenes-Konzertvideo an? Also lasst eure Handys doch in den Taschen und genießt den Augenblick, denn wie Kettcar nochmal betonen, kommen sie so schnell leider nicht wieder.