Als Chris Cornell am 18. Mai 2017 seinem Leben im Alter von nur 52 Jahren ein selbstgewähltes Ende setzte, verlor die Musikwelt einen überragenden Musiker und Sänger und meine Generation eine weitere ihrer Galionsfiguren. Bis dahin hatte sich Cornell bereits mit seiner Stammformation Soundgarden, aber auch mit den kürzer oder länger andauernden Bandprojekten Temple Of The Dog und Audioslave sowie seinen vier Soloalben unsterblich gemacht. Welch ein begnadeter Künstler er war, zeigt sich nicht zuletzt auf „Songbook“, einem beeindruckenden Zeugnis seiner Live-Qualitäten. Ich selbst hatte die Ehre ihn zweimal, 1996 und 2012, auf einer Bühne zu sehen und zu hören. Nachdem Anfang Oktober in seiner Heimatstadt Seattle eine Statue von Chris Cornell enthüllt wurde, die seitdem im Museum Of Pop Culture zu sehen ist, folgt mit „Chris Cornell“ nun das fast schon überfällige Andenken an seinen musikalischen Nachlass. Universal Music hat uns zur Rezension freundlicherweise das limitierte 4-CD-Deluxe-Boxset zur Verfügung gestellt, auf dem 64 Songs vereint sind, davon elf bislang unveröffentlicht. Daneben gibt es noch die Standard-Version mit 17 Stücken und eine limitierte Super Deluxe-Edition, bestehend aus vier CDs, einer DVD, sieben LPs und allerlei anderem Schnickschnack.
Bei der Zusammenstellung arbeitete Cornell’s Frau Vicky stets in enger Absprache mit seinen Bandkollegen und Freunden. Als Produzenten holte sie Brendan O’Brien ins Boot. Pearl Jam-Bassist Jeff Ament war für das Design und das Packaging von „Chris Cornell“ verantwortlich. Wenig verwunderlich also, dass das Boxset bereits rein optisch der Hammer ist. Die vier CDs sind farblich sortiert und in einem stabilen Pappschuber untergebracht, der so ausgestanzt ist, dass er die Silhouette von Seattle abbildet. Dazu gibt es ein 54 Seiten starkes Booklet mit einem Haufen neuer und alter Fotos aus allen Dekaden und Linernotes von Cornell’s Wegbegleitern Kim Thayil, Matt Cameron, Tom Morello, Mike McCready und Brendan O’Brien, die über die üblichen Lobhudeleien weit hinausgehen. So erfährt man zum Beispiel, dass Chris Cornell um ein Haar Schlagzeuger statt Sänger bei Soundgarden geworden wäre.
Einen ersten Vorboten auf die Retrospektive gab es bereits Ende September mit der bis dato unveröffentlichten Single „When Bad Does Good“, die Cornell noch selbst produziert, aufgenommen und abgemischt hat. Ergänzt wird das Boxset von zehn weiteren unveröffentlichten Liveaufnahmen. Darunter finden sich echte Perlen. Etwa Cornell’s Duett von „Wild World“ mit Yusuf (formerly known as Cat Stevens) oder ein weiteres mit seiner Tochter Toni, mit der zusammen er Bob Marley’s Meilenstein „Redemption Song“ auf eine neue gesangliche Stufe hebt. Von der ersten offiziellen Temple Of The Dog-Tour 2016 anlässlich des 25-jährigen Bandjubiläums gibt es „Reach Down“ sowie den Mother Love Bone-Klassiker „Stargazer“ zu hören. Außerdem Chris Cornell’s Interpretation von „One“, in der er die Metallica-Lyrics zur Melodie des gleichnamigen U2-Songs singt, und „Show Me How To Live“ aus dem bahnbrechenden Kuba-Aufritt von Audioslave im Jahr 2005. Alleine das würde für eine Kaufempfehlung schon vollkommen ausreichen.
Aber es gibt noch weitere Highlights. Vor zwei Jahren trat Chris Cornell in der Londoner Royal Albert Hall auf. Aus diesem Konzert findet sich auf dem Boxset „A Day In The Life“ von den Beatles wieder. Dazu gibt es noch drei Live-Aufnahmen aus Schweden: „Wide Awake“, „All Night Thing“ und das Led Zeppelin-Cover „Thank You“ gehen auf den allerersten Abend vor zwölf Jahren zurück, an dem Cornell eine derartige Solo-Akustik-Performance präsentierte und damit gleichzeitig den Grundstein für seine extrem erfolgreichen „Songbook“-Tourneen legte. Ebenfalls vertreten sind seine zahlreichen Soundtrack-Beiträge wie etwa „Seasons“ aus Cameron Crowe’s Kultstreifen „Singles“ von 1992, „Sunshower“ aus „Great Expectations“ (1997) oder „You Know My Name“ aus dem James Bond-Film „Casino Royale“ von 2006. Dazu Kollaborationen mit Slash, Santana, dem Nu-Jazz-Duo Gabin oder Joy Williams. Es gibt so wahnsinnig vieles auf „Chris Cornell“ (neu) zu entdecken und ein ums andere Mal hat man einen Kloß im Hals, wenn man bedenkt, dass sich diese wundervolle und einzigartige Stimme nie mehr über die Musik erheben wird.
Abgerundet wird „Chris Cornell“ von weiteren Stücken aus seinem Solo-Backkatalog wie etwa der grossartigen Coverversion von Princes „Nothing Compares 2 U“, live mitgeschnitten vom Sender Sirius XM oder dem steinerweichenden „Ave Maria“ mit Eleven und natürlich Songs seiner drei Bands Soundgarden, Temple Of The Dog und Audioslave in chronologischer Reihenfolge. Möchte man alle vier CD’s am Stück hören, dann ist man satte fünf Stunden lang beschäftigt.
Wenn es überhaupt noch eines Beweises bedurft hätte, welchen wichtigen und umfangreichen Beitrag Chris Cornell zur Musikgeschichte im allgemeinen und der des Grunge im speziellen beigesteuert hat, dann liefert ihn die vorliegende Compilation auf eindrucksvolle Art und Weise. Eindrucksvoll auch deshalb, weil „Chris Cornell“ im Gegensatz zu vielen anderen vergleichbaren Veröffentlichungen sowohl optisch als auch musikalisch mit viel Liebe gestaltet wurde. Vicky Cornell hat uns damit einen wahren Schatz und ihrem Mann ein würdiges Andenken beschert. Ihr soll deshalb an dieser Stelle das letzte Wort gehören: „Ich hatte das Gefühl, dass es eine ganz besondere Kollektion geben sollte, die alle Facetten von ihm vereint – Chris als Freund, Ehemann, Vater, als Innovator und Musiker, der Risiken eingeht, als Dichter und Künstler. Seine Stimme hat so viele Menschen auf dieser Welt berührt und bewegt. Seine Stimme war seine Vision, in seinen Texten fand er seinen Frieden. Dieses Album ist für seine Fans“.