Ein Regentag muss in Hamburg natürlich dabei sein. In diesem Jahr war es der Donnerstag. Will aber auch heißen: Die übrigen Festivaltage glänzten mit strahlendem Sonnenschein. Also ist etwas niesliges Wetter mal für einen (halben) Tag verkraftbar.
Immerhin schien musikalisch die Sonne und es ging los mit Ellice am N-Joy Reeperbus. Der Radiosender bringt viele Acts des Festivals mit kleinen Gigs frei zugänglich an die Festivalbesucher. Ein kleines Interview und dann 3-4 Songs in akustisch reduzierter Form. Die 17jährige Newcomerin steht kurz vorm Abitur und lernt vermutlich im Tourbus für die Prüfungen. 2023 war sie im Finale von „The Voice Kids“. Inzwischen geht sie ziemlich souverän mit den technischen Problemen um, die so ein Auftritt zur musikalischen Konserve mit sich bringt. Bemerkenswert war ihre extrem hohe Stimmfarbe, wobei sie die Höhen erstaunlich gut beherrschte.
Im DOCKS lieferte Gizmo Varillas einen entspannten Sound, untermalt von Visual Arts für Reeperbahn Collide und aufgezeichnet von ARTE Concerts. Der in Großbritannien lebenden spanische Songwriter brachte Elemente von Latin-Grooves und Afro-Beats mit dem Feingefühl eines typischen Singer/Songwriters zusammen. Dazu Texte zwischen Leichtigkeit und Tiefgang. Das Publikum war begeistert.
Zum RBF gehört auch, dass es nicht nur musikalische Beiträge gibt. Selbst außerhalb des Konferenzprogramms finden Panels und Lesungen statt. Ich wollte jedenfalls Marina Buzunashvilli live erleben, die ich schon seit Jahrzehnten als Promoterin kenne. Sie las aus ihrer Biographie „Die Bossin“. Marina, 1981 in Wien geboren, wuchs als Tochter einer aserbaidschanisch-georgischen Familie in Berlin-Kreuzberg auf. 2004 begann sie in der Agentur Panorama3000 zu arbeiten, zuerst in der Buchhaltung, später dann in der Presse und im Künstlermanagement. 2012 gründete sie gemeinsam mit einer Agenturkollegin die Musik- und Filmagentur Musicism & Cinelove, aus der heraus 2017 DIE MARINA entstand, eine der einflussreichsten Künstleragenturen im deutschen HipHop. 2019 folgte der Wechsel zu Sony, wo sie zunächst als Head of PR und ab 2020 als Director of PR arbeitete, bevor sie sich 2024 erneut selbständig machte.

Marina gilt als eine der einflussreichsten Größen im deutschen Musikbusiness, ihr Weg an die Spitze aber war alles andere als leicht. Aufgewachsen in Kreuzberg, war ihr Umfeld geprägt von Gewalt und Verbrechen. Einzig ihre Liebe zur Musik ermöglichte ihr den Aufstieg, gegen alle Widerstände. Sie war maßgeblich daran beteiligt, den Deutschrap von Kool Savas, Xatar oder Haftbefehl groß zu machen und arbeitet regelmäßig mit Künstlern wie Robbie Williams und Adele zusammen. Erstmals erzählt sie jetzt ihre ganze Geschichte und teilt die zwanzig Rules, die sie zum Erfolg geführt haben. Sehr emotional las sie in der Prinzenpaar jeweils ein Kapitel vom Anfang und vom Ende des Buches. Eine starke Persönlichkeit, die ihr Publikum mit jedem Wort erreichte und berührte.
Dann ging es nochmal zum Reeperbus. Soffie brachte mit ihrer Energie und Songs wie „Räuber“ das Publikum zum Tanzen. Dabei hat dieses Stück einen durchaus ernsten Hintergrund, denn es geht um (Selbst-)Zweifel, die auch davon genährt werden, dass der Hit „Für immer Frühling“ von Rechtspopulisten stark angegriffen wird und Soffie sogar Gewaltdrohungen bekommen hat. Bezeichnend jedenfalls, dass sich überhaupt ein Mensch an solchen Textzeilen anstoßen kann, die Soffie dann auch trotzig und fröhlich zum Besten gab:
In das Land, in dem für immer Frühling istDarf jeder komm’n und jeder geh’n, denn es gibt immer ein’n Platz am TischRot karierter Stoff, keine weißen Flaggen mehrAlle sind willkomm’n, kein Boot, das sinkt im Mittelmeer

Die in Brooklyn lebende Singer-Songwriterin Mei Semones gehörte dieses Jahr zu den Nominierten für den Anchor Award. Zu Recht, denn bei ihrem Auftritt im Mojo überzeugte sie mit einem ganz eigenen Sound und verspielten Arrangements. Zum besonderen Klangerlebnis trugen neben Meis warmen, aber auch vielseitigen Stimme vor allem ein Geiger und ein Bratschenspieler in ihrer Live-Band bei, die ihren Instrumenten teilweise ungewohnte Töne entlockten.
Ein bisschen schade, dass die auf der Bühne eher zurückhaltend wirkende Künstlerin auch mit ihren Ansagen sehr sparsam war. Ein paar Hintergrundinfos hätten zum Verständnis der teilweise auf japanisch gesungen Stücke beigetragen. So blieb den Zuhörern hauptsächlich das musikalische Erlebnis – dieses aber durchaus beeindruckend und auf hohem Niveau! Mei hat übrigens den ANCHOR Award am Ende auch gewonnen, der mit einem Voucher für Technik-Equipment in Höhe von 20.000 Euro dotiert ist.

Zu den Highlights am Donnerstag gehörte definitiv der Auftritt von Kelvin Jones, der im Docks sein aktuelles Projekt Mupani präsentiert. Der in Zimbabwe geborene, in London aufgewachsene und inzwischen in Deutschland lebende Künstler verbreitete vom ersten Song an gute Laune und brachte den ganzen Club zum Tanzen und Mitsingen! Auch optisch war der Auftritt etwas Besonderes, da die digitalen Hintergründe extra für dieses Projekt von den Visual Artists PFA Studios x Alessa Müller gestaltet wurden.

Mit einem kleinen Akustik-Block, den Kelvin Jones an der Gitarre mitten zwischen seinen Zuhörer*innen performte, wurde die Partystimmung kurzzeitig von einer sehr berührenden Atmosphäre abgelöst. Denn der Künstler kehrte hier nicht nur musikalisch zu seinen Wurzeln zurück, sondern verkündete auch, dass er mit diesem Projekt zu seinem Geburtsnamen Mupani zurückkehrt, unter dem er künftig auftreten wird. Die Setlist mit Songs wie „Piano“, „Call You Home“ und dem Lost Frequencies Kracher „Love To Go“ war jedenfalls einzigartig und mein magisches Highlight für diesen Konzerttag.

Ein weiteres Beispiel für wirklich ungewöhnliche Locations ist die Tatsache, dass selbst die Filiale der Hamburger Sparkasse (Haspa) zur Konzertlocation wurde. Hier hatte es sich der Hamburger Fredrik gemütlich gemacht, dessen EP „Verlernt zu fühlen“ Punkt Mitternacht erscheinen sollte. Grund genug also mit Stolz in der Heimatstadt zu performen. Fredrik tritt vielleicht so auf wie der junge Marius, lieferte aber in Tracks namens „Rotweinlippen“ und „Alle meine Lieder“ einen kraftvollen Sound, der vor allem die junge Generation und Fans von Urban Pop begeisterte.
Zurück im Imperial Theater gab es zum Abschluss Matilda Mann. Die junge Songwriterin aus London überzeugte mit modernem Indie-Folk. Ihr Debütalbum „Roxwell“ liefert unkonventionelle Klänge, wahlweise zum Tanzen oder zum Träumen. Einen Teil des Publikums hielt es trotz vorgerückter Stunde nicht auf den Sitzen. Und die akustische Ballade „The DayThat I Met You“ war ein wundervoller Abschluss für den zweiten Festivaltag.
(c) alle Fotos: Julia Nemesheimer











