Eine der großen Überraschungen des vergangenen Jahres war ohne Zweifel die Rückkehr von Neal Morse zu Spock’s Beard und die gemeinsame Aufführung des Konzeptwerks „Snow“, beispielsweise beim Night Of The Prog Festival auf dem Loreley-Felsen. Was für ein Fest, als er gemeinsam mit seinem ersten Nachfolger Nick D’Virgilio und dem jetzigen Frontmann Ted Leonard das Epos mit verteilten Rollen durchspielte und -sang. Jeder der drei Sänger ist auf seine Art gut, doch ich bewundere stets das Charisma, die klare Interpunktion und das Stimmvolumen von Neal Morse. Natürlich war das ein einmaliges Jahr – das nun damit endet, dass Neal sich wieder seinem Soloschaffen zuwendet.
In den letzten Jahrzehnten hat der Kalifornier vor allem durch eine unendliche Anzahl von Solo-Veröffentlichungen von sich reden gemacht. Schließlich verwöhnte er nicht nur die Progszene mit ausschweifenden, epischen Ergüssen, sondern er beglückte auch die christliche Gemeinschaft mit religiös geprägten Alben und fütterte zugleich die stetig anwachsende Fangemeinde mit speziellen Veröffentlichungen aller Art. Gar nicht so leicht, da den Überblick zu bewahren. Live gibt es zudem stets Auszüge aus dem großen Backkatalog als Leadsinger von Spock’s Beard und Transatlantic. Das Classic Rock Magazine zählt Neal Morse zu den „100 Greatest Frontmen Of Rock“ – und diesen Titel werden ihm wohl auch die vielen Kritiker zugestehen müssen, die sich über seine Hinwendung zu christlichen Texten mokieren und ihn gerne ironisch als „Propheten“ oder „Erlöser“ betiteln.
Das neue Album der Neal Morse Band ist ein Konzeptwerk auf zwei Silberlingen und trägt den Titel „The Similitude of a Dream“. Neal Morse berichtet dazu: „Es beruht auf dem Buch The Pilgrim’s Process (deutsch: Pilgerreise zur seligen Ewigkeit) von John Bunyan aus dem Jahr 1678. Dessen Originaltitel lautete ‚The Pilgrim’s Progress from this world to the that which is to come, delivered under the similitude of a dream‘ (in etwa … „in Anlehnung an einen Traum”). Das Buch ist die Chronik der spirituellen Reise eines Mannes, die in der Stadt der Zerstörung beginnt und an einen Ort der Erlösung führt.“
„Irgendjemand hatte mir mal den Vorschlag gemacht, auf Basis des Buches ein Konzeptalbum zu entwickeln, aber ich hatte das aus den Augen verloren. Als ich dann letzten Dezember begann, neue Songs zu schreiben, kam mir das Buch wieder in den Sinn. Ich hatte es nie gelesen, habe also die Rahmenhandlung gegoogelt und darauf Songteile und Instrumentals geschrieben. Diese Teile und die Ideen der anderen Bandmitglieder sind auf geradezu übernatürliche Weise explodiert und wurden zu diesem Doppelalbum. Amüsant ist eigentlich, dass es nur die ersten 75 oder 80 Seiten des Buchs abdeckt. Vielleicht hätten wir eine Fünfer-CD-Kollektion machen sollen? Wer weiß, vielleicht später!”
Überragend, welches Ideenfeuerwerk Neal Morse aus dieser Inspiration abfeuert. Und als kongenialen Partner hat er einmal mehr Mike Portney, den genialen Schlagzeuger und ehemaligen Mastermind von Dream Theater, dabei. Zudem hat Bassist Randy George sein glückliches Händchen mit im Spiel. Wenn die drei loslegen, bleibt kein Progger-Auge trocken. Ausufernde Gesangslinien mit polyphonen Passagen wie bei Spock’s Beard zu ihren besten Zeiten. Das ist ein unbeschreiblicher Genuss. Das verspielte Keyboard beherrscht viele Songpassagen – wie in der Lehre vom reinen Neoprog. Und immer wieder wechselt sich der Bombast ab mit feinen akustischen Parts, die Neal Morse ins Erzählen und Schwelgen bringen. Er hat eine Botschaft und will uns diese gesanglich vermitteln.
Das Werk ist als Ganzes angelegt und damit ein echtes Konzeptalbum. Man braucht also nicht die üblichen Longsongs oder gar radiotaugliche Kurz-Popper, weil es nun einmal um das komplette Album geht. Und das enthält alles, was die Genialität von Neal Morse ausmacht. Gerne auch mal chorisch angelegte Passagen, harte Gitarrenriffs oder vertrackte Schlagzeug-Rhythmen. Neal und Band spielen hier mit allen Elementen, die den modernen Prog ausmachen und eine Arena voller Fans zum enthusiastischen Ausklinken bringen können. 105 Minuten, die alles bieten, was Fans von Transatlantic, Spock’s Beard oder Flying Colors zu feiern wissen.