Reeperbahn Festival 2021 – Fotos von Haevn, Fortuna Ehrenfeld, C’est Karma
Reeperbahn Festival 2021 – unsere Fotos von Haevn, Fortuna Ehrenfeld, C’est Karma
Reeperbahn Festival 2021 – unsere Fotos von Haevn, Fortuna Ehrenfeld, C’est Karma
“Wissenschaft ist eine Meinung, die muss jeder sagen dürfen.” Besser kann man die Misere der Gegenwart vermutlich nicht beschreiben. Der Opener des Albums “Popmusik” mit fröhlichen Synthiemelodien ähnelt der Melodie eines Gameboy-Spiels. Voll Naivität und gehirnschmalzfressend. Unterstützt wird Grebe bei diesem Song von Martine Bechler (Fortuna Ehrenfeld), der seit vielen Jahren Pop und Poesie höchst originell vereint.
Dem folgt Grebe nun großspurig nach. der Liedermacher und Kabarettist aus Köln hat sich auf die Spuren der Leichtigkeit begeben. Pop oder nicht? Letztendlich kann man sich solche Definitionsfragen schenken. Denn Rainald Grebe ist ja im Grunde schon längst ein Popstar – zumindest, wenn man in der Währung namens Erfolg rechnet. Denn seine Auftritte sind regelmäßig ausverkauft und ziehen immer mehr Zuschauer an
Modern und frisch klingen seine Songs, die er mit gewohnt lakonischer Stimme vorträgt. Aber auch nostalgisch: “Der Klick” widmet sich dem Online-Bestell-Wahn in Form eines rhythmischen NDW Songs im minimalistischen Dada-Stil von Trio. “Flugbegleiterin” erzählt eine epische Geschichte und artet in Pauken und Trompeten aus. Überhaupt liebt Rainald die großen Töne. “Die Rose” wird kompetent eingesungen vom Männergesangverein “Harmonie” aus Lürsen. Schmachtend und pathetisch, wie es dem Song gebührt.
Von Theodor Storm zu Bismarck. Von Jennifer Lopez zu Billie Eilish. Die Welt, aus der Grebe seine Themen schöpft, ist reichhaltig und groß, aber verloren geht er darin nie. Und auch wenn die Form eine andere ist und er musikalisch mit „Popmusik“ neue Wege begeht, inhaltlich hat sich bei ihm kaum etwas verändert. Grebe bleibt unverkennbar Grebe: Ein Chronist mit Haltung, der sich gerade macht in einer Welt, die wahnsinnig unübersichtlich und unübersichtlich wahnsinnig ist. Die mal zum Lachen, mal zum Weinen, meist aber alles auf einmal ist.
Die Frage ist falsch gestellt. Viel eher müsste man fragen: Was macht Rainald Grebe eigentlich nicht?
Denn die Felder, auf denen sich Grebe in den vergangenen 20 Jahren einen Namen gemacht hat, sind zahlreich. Klar, es geht ihm immer um die Kunst und die Bühne und den Ausdruck. Das ist der gemeinsame Nenner. Aber was er dann zum Besten gibt, ist mit „multitalentiert“ noch unzureichend beschrieben. Grebe ist Kabarettist und Chansonnier, er ist Schauspieler und Regisseur, ein hellwacher Kommentator und ein leicht irrer Zauberer, der aus seinem Hut flauschige Kaninchen holt oder Zyankalikapseln. Er macht Lieder, er macht Witze, er macht Kunst. Mal steht er ganz alleine im Rampenlicht, mal holt er sich für ein Konzert 300 Beteiligte auf die Bühne. Heute sieht man ihn vor einem Millionenpublikum im Fernsehen, morgen in einem der renommiertesten Theater des Landes. So vielseitig und gleichzeitig so erfolgreich bespielt kaum ein anderer die deutschen Bühnen. Im Grunde, könnte man meinen, hat er doch schon alle Möglichkeiten durchgespielt, die sich ihm und seiner Kunst bieten. Doch Grebe sieht das anders. Eine Sache gibt es da noch, hinter der er für sich noch keinen Haken gemacht hat: Die große, weite, bunte Welt des Pop.
Und da er ein Macher ist, der Ideen lieber in die Tat umsetzt, als ewig auf ihnen herumzuträumen, kann man hier verkünden: Rainald Grebe macht jetzt „Popmusik“. Das steht groß auf dem neuen Album drauf, und das ist so ernst gemeint, wie es bei ihm nur geht. Und tatsächlich, so hat Grebe noch nie geklungen: Modern, frisch, stellenweise fast tanzbar, mit Refrains und Hooklines, die einen mitnehmen und mitreißen.
Geholfen hat ihm dabei Martin Bechler, der in den vergangenen Jahren eine der ungewöhnlichsten Karrieren der deutschen Musikszene hingelegt hat. Jahrelang hielt sich Bechler im Hintergrund und arrangierte, komponierte und produzierte, bis er mit Mitte 40 dann doch noch das Rampenlicht suchte – und fand. Seine Band Fortuna Ehrenfeld vereint seit vier Jahren Pop und Poesie, große Momente und abseitige Ideen auf höchst originelle Weise und macht sich mit jedem Auftritt und jeder Platte haufenweise neue Freunde.
Pop oder nicht? Letztendlich kann man sich solche Definitionsfragen schenken. Denn Rainald Grebe ist ja im Grunde schon längst ein Popstar – zumindest, wenn man in der Währung namens Erfolg rechnet. Denn seine Auftritte sind regelmäßig ausverkauft und ziehen immer mehr Zuschauer an. Schon 2011 lieferte er mit über dreihundert Beteiligten eine überbordende Show der Superlative in der Berliner Waldbühne ab, an die sich wohl alle 15.000 Zuschauer heute noch gut und gerne erinnern. Dieses Spektakel will Grebe anlässlich seines fünfzigsten Geburtstages 2021 neu auflegen, und so kann man sicher sein, dass er alles daransetzen wird, am 31.Juli 2021 in der Waldbühne ein nicht minder großes Feuerwerk zu zünden.
Doch zunächst erscheint am 5. Februar 2021 „Popmusik“, ein Album, mit dem sich Rainald Grebe einen lang gehegten Wunsch erfüllen will: Eine Plattenkritik im „Rolling Stone“. Ob das klappt? Wer weiß. Eines aber ist sicher: Die Chancen dafür waren noch nie so gut wie mit diesem Album.
Leider mussten die beliebten Konzertreihen in der Region Trier in diesem Jahr ausfallen: Porta hoch drei, die Amphitheater Open Airs, die großen Konzerte am Strandbad Losheim am See… leider Fehlanzeige aufgrund der Pandemie. Eine Situation, die potentielle Zuschauer natürlich bedauern, die aber für Veranstalter und alles, was damit zusammenhängt, existenzbedrohend ist. Wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass es kaum große Events in diesem Jahr geben wird. Umso schöner ist es, wenn dann kleine Locations mit Leben gefüllt werden. Der Brunnenhof direkt neben der Porta Nigra in Trier ist eine solche Location. Die Akustik in diesem Innenhof ist phänomenal – das hat das Trierer Theater schon unter Beweis gestellt, als es den Brunnenhof als Ausweichstätte nutzte. Und auch Popp Concerts, die großen Veranstalter aus Trier, nutzen dieses altehrwürdigen Gemäuer jetzt für Konzerte, die Liebhaber gepflegten Indierocks begeistern.
Den Anfang machte am 21. August die Kölner Indiepop-Band Fortuna Ehrenfeld. Frontmann Martin Bechler kam stilecht barfuß im karierten Pyjama und hatte seine Kollegen Jenny Thiele (Keyboard) und Jannis Knüpfer (Schlagzeug) mitgebracht. Personal genug um eine ordentliche Soundkulisse aufzubauen. Und ihnen war die Freude anzusehen, eines der wenigen Konzerte in Corona-Zeiten geben zu können. “Pretty music, pretty people, pretty times” war dann auch der perfekte Opener, um mit leisen Tönen das Setting zu beschreiben und einen fantastischen Konzertabend zu eröffnen.
Es war ein melancholischer Start mit sphärischen elektronischen Melodien und zweistimmigem Gesang von Martin und Jenny. Wunderschön. Bechler sagte selbst, man wolle erst einmal gemütlich in den Abend rutschen. Doch schon bald ging es in die Vollen und Fortuna Ehrenfeld zeigten, dass sie doch eigentlich da sind, um die altehrwürdige Porta Nigra zu rocken.
Die Musik ist genauso skurril wie das Auftreten des Frontmanns und die verklausulierten Texte. Da finden sich Elemente von New Wave, Punk und nostalgischen NDW-Zeiten. Drei Studioalben hat die Band in den vier Jahren ihres Bestehens bereits veröffentlicht – und die Fangemeinde wächst stetig. Es ist auch stark, was geboten wird: assoziative Texte, Wortspielereien, bildgewaltige Vergleiche. Dabei singt Bechler meist genauso lakonisch, wie er seine Ansagen ins Publikum feuert. Und doch reißt er die Menschen mit und entführt sie in seine eigene Gefühlswelt. Da durfte es schon mal zu “Manamana” in den Reggae gehen. Oder man entfachte mit elektronischen Mitteln ein wahres Disco Inferno, dass die Porta im Hintergrund wackelte.
Die Zuschauerschar war stark durchmischt und weit entfernt vom “Alternative” Publikum, das man vielleicht erwartet hätte. Doch er kriegte sie alle – und nach zwei Stunden gab es im Zugabenblock gleich zweimal Standing Ovations. Martin bedankte sich beim Trierer Publikum im Allgemeinen und der nahen Apotheke im Besonderen, die ihn nach einem Wespenstich mit heilender Salbe versorgt hatte.
Zum Schluss wurde es magisch: Bechler ließ alle Lichter ausschalten und die Band stand im Dunkeln auf der Bühne. Es gab den Song “Zwei Himmel”, als Aufforderung zum “Kümmern links und rechts”. Die Trierer hörten andächtig zu und auch nach dem letzten Ton hielt die Stille an. Das ist es, was Livemusik ausmacht und den Funken entzündet, der zwischen Künstlern und ihrem Publikum entsteht. Ein wundervoller Moment.
Dass du am Ende nicht vergisst,
Dass jeder Stern zwei Himmel ist.
Und einer davon führt dich sicher nach Haus.
Dass du am Ende nicht vergisst,
Dass alles das ist, was es ist.
Wir kommen da schon irgendwie heil wieder raus.
Am nächsten Abend, 22. August, übernahm Lokalmatador Nicholas Müller mit seinem Programm „Zum Sterben Zuviel – Ein Abend mit dem Tod & Nicholas Müller“. Ein klares Heimspiel, denn immerhin stammt der Sänger und Autor aus Daleiden in der Eifel, auch wenn er inzwischen im Münsterland lebt.
Der ehemalige Sänger von Jupiter Jones und später der Band von Brücken ist zudem Autor des Spiegel-Bestsellers “Ich bin mal eben wieder tot” (2017), in dem er seine Angststörung verarbeitet. Sein aktuelles Programm ist eine Art Revue oder auch Konzeptkonzert, in dem das Multitalent das tut, was er wirklich gut kann: Musik machen mit Freunden, Gedanken teilen, mit Humor, zu einem unterschätzten, aber großen Thema.
Ein vom Band eingespieltes “Kumm, großer schwoazer Vogel” des großartigen Liedermachers Ludwig Hirsch läutete den Abend ein. Wie eine Beschwörung von Tod und Trauer – aber auf freundschaftliche Art. Das war der rote Faden, der sich durch den ganzen Abend zog.
Nicholas hatte sich einiges einfallen lassen, um dem Thema Raum zu geben. Er sang Lieblingssongs anderer Künstler, die sich dem schwierigen Thema auf ihre ganz eigene Art widmeten, und natürlich selbst geschriebene Stücke von Jupiter Jones und Von Brücken. Dabei wurde klar, dass die Thematik ihn schon seine ganze Karriere lang begleitet – nicht erst seit dem Tod der Mutter, den er in seinem bekanntesten Song “Still” verarbeitet.
Musikalisch gab es oft Nicholas pur – allein an der Gitarre. Doch er hatte auch eine formidable Liveband mitgebracht, das “Neon Orchester”, das eine fantastische Soundkulisse aufbauen und seine Rocksongs bis in die Trierer Fußgängerzone verbreiten konnte, was die Schar der Schaulustigen hinter den geschlossenen Toren des Brunnenhofs immer wieder bewies.
Es gab wundervolle alte Songs, beispielsweise von Juliane Werding: “Am Tag, als Conny Kramer starb”. Da sang der komplette Brunnenhof mit. Oder Death Cab for Cutie mit “I Follow You into the Dark”. Das hatte nicht jeder auf dem Schirm und es erzeugte eine nachdenkliche Stimmung. Von Dave Matthews wurde ein energisches “Grave Digger” zum Besten gegeben, Galexico waren mit “Dead man’s will” vertreten und Frank Turners “Long Live the Queen” erzeugte eine sehr berührende Stimmung.
You’ll live to dance another day
It’s just now you’ll have to dance for the two of us
So stop looking so damn depressed
And sing with all your heart that the Queen is dead
Ganz groß wurde es aber mit den Stücken aus Nicholas’ Feder, zu denen er eine Geschichte erzählen konnte. Überhaupt war es schön, ihn wieder mit Songs von Jupiter Jones zu hören, was er zu den Zeiten des Projekts Von Brücken vermieden hatte. So gab es den Klassiker “Jupp” (“Jupp nimmt seine Schatten mit auf dem Weg zum letzten Schritt”) und natürlich “Still”, das Nicholas allein an der Gitarre vortrug und bei dem manch einer einige Tränchen verdrücken musste.
Aus dem Von Brücken Repertoire bot Nicholas “Immerhin (für die Trauer)” und das mystische Stück “Die Parade”, das tröstliche Worte für den eigenen Tod findet:
Und werd’ ich zu alt, um noch jung zu sein
Dann bin ich zufrieden
Da unten wird’s schon nicht so dunkel, nein
Da unten ist Süden
Und die Parade hält nicht an
Ich hab genug dafür getan
Überhaupt waren die Annäherungen an das Ende (Spoiler: “Wir alle werden sterben”) keineswegs von Trauer und Angst gezeichnet. Mit seinem Charisma und der humorvollen Art fand Nicholas ein ums andere Mal die richtigen Worte. Er las nicht aus seinem Bestseller vor, sondern seine Idee ist es, für jeden Abend einen neuen Text zu verfassen. Vielleicht wird ja irgendwann ein thematischer Sammelband daraus. Im Brunnenhof ging es unter anderem um “letzte Worte”. Da durfte auch das Zitat von Oscar Wilde nicht fehlen, das Jupiter Jones im Jahr 2007 den wohl ungewöhnlichsten Albumtitel einer deutschsprachigen Band beschert hatte: “Entweder geht diese scheußliche Tapete – oder ich”.
Neben dieser Lesung gehört zum Konzept auch eine Talkrunde, für die sich Nicholas bei jeder Show neue Gäste einlädt. Heute war zum einen Jan Kretzer zu Gast, mit dem er vor vielen Jahren das Duo Heisterkamp gebildet und ein Album namens “Schweren Herzens Popmusik” auf den Markt gebracht hat. Zum anderen Dr. Jochen Veit, Nicholas’ Arzt aus dem Münsterland. In Form einer illustren Talkshow sprachen die drei über den Tod, die Angst davor und den eigenen Umgang damit. Die Zuschauer erfuhren nichts weltbewegend Neues, aber es war ein Beispiel dafür, wie das Reden über den Tod (was häufig immer noch ein Tabuthema ist) die Menschen aufwühlt. Ein Ziel von Nicholas war es sicher auch, dieses Tabu aufzubrechen – und das gelang ihm an diesem Abend mit unterschiedlichen Mitteln.
Um die Sache rund zu machen, gab es zwei Solosongs von Jan Kretzer, während denen der vielbeschäftige Nicholas einmal durchatmen konnte, und danach von beiden zusammen den Heisterkamp Titel “Kein trauriges Lied”.
Nicholas Müller hatte alles gegeben an diesem Abend. Es war umwerfend, wie er diesen Konzeptabend zum vielleicht schwierigsten Thema der Welt konzipiert hat. Alles wirkte durchdacht und strukturiert. Und das Publikum hing an seinen Lippen – egal ob er sang oder erzählte. Nach zwei Stunden gab es eine einzige Zugabe. Er entließ uns mit dem Jupiter Jones Song “Auf das Leben” in die Nacht. Es war der erste Song, den er mit der Band geschrieben hatte. Der Text war damals schon prophetisch für die Karriere dieses einzigartigen Musikers und an einem Abend wie diesem war er wichtiger denn je:
Und trotzdem bleibt es immer gleich,
Ich schlage auf und stell mir vor,
Was wäre wenn’s noch schlimmer wird,
Den immer gleichen Satz I’m Ohr:
Dass Atmen sich wohl trotzdem lohnt,
Das Schicksal niemals wen verschont,
Die Straße ist nicht immer eben
Und grad’ deswegen: Auf das Leben!
Am 11. September wird übrigens Multiinstrumentalist Tristan Brusch die Open Air Reihe von Popp Concerts beenden und seine aktuelle EP “Operationen am faulen Zahn der Zeit” vorstellen. Tickets gibt es exklusiv bei www.ticket-regional.de
Fortuna Ehrenfeld im Brunnenhof Trier – seht hier unsere Konzertfotos vom 21.8.2020
Hier seht ihr unsere Fotogalerie von Fortuna Ehrenfeld im Gebäude 9 am 09.12.2018
Hier seht ihr unsere Fotogalerie von Fortuna Ehrenfeld auf dem Gamescom Festival:
Im Jahr 2017 fand das “Rockaway Beach” in Losheim am See zum ersten Mal statt. Damals konnte ich aus urlaubstechnischen Gründen nicht dabei sein – aber im zweiten Anlauf sollte es nun klappen. Braucht die Welt ein weiteres Indiepop-Punk-Festival? Auf jeden Fall, kann man nach diesem Event nur sagen. Klar, es hätten mehr Zuschauer da sein können. Schließlich fasst das Strandbad am schönen Losheimer See (wenn es ganz dicke kommt) 15.000 Zuschauer. Jetzt war das Ganze doch recht überschaubar mit geschätzten 2.000 Leuten. Doch was soll’s? Die Infrastruktur war ohnehin vorhanden, da tags drauf das Elektronik-Festival “Lucky Lake” stattfand. Und so konnte man sich gemütlich zwischen zwei Bühnen bewegen, die tolle Atmosphäre am See genießen – und ich stelle mir vor, wie die weiter angereisten Fans dann in der Nacht auf dem Campingplatz das Lagerfeuer mit den Elektronik-Enthusiasten teilten. Das spricht doch für unbezahlbare Erlebnisse.
Das Line-up des Festivals war wieder hervorragend. Doch dazu später mehr. Einmal angekommen, freute ich mich zunächst über fehlende Parkplatzprobleme (der Seeparkplatz bietet massig Platz) und ein schönes Ambiente mit vielen Getränke-, Essens-, Süßigkeiten- und Merchandise-Ständen. Bei meiner Ankunft um 17.45 Uhr war das Festival schon seit drei Stunden dran und ich musste mir den Weg zur Second Stage suchen, auf der Fortuna Ehrenfeld ihre extravagante Indie-Show abzogen. Da fühlte man sich doch wie im Kölner Büdchen, wenn Martin Bechler die Zuhörer in blauem Altherren-Pyjama mit gelber Federboa begrüßte. Es gab einfache, sparsam instrumentierte Melodien mit ziemlich abgedrehten Texten und Ansagen. Hat Spaß gemacht.
Großes Plus des Festivals sind die zwei Bühnen, die einen Nonstop-Musikgenuss versprechen. Also schnell zur Main Stage, wo Gurr gerade ihren Soundcheck beendet hatten und auch direkt mit ihrer Mischung aus Punk und Deutschrock losfetzten. Andreya Casablanca und Laura Lee boten eine hervorragende, aber durchaus launische Show. Vor allem die Ansagen zeugten davon, dass sie sich mehr Engagement vom Publikum wünschten, das aber in den frühen Abendstunden noch nicht zur Ekstase bereit war. Egal. Sie spielten ihren Set überaus lässig runter und boten ein kurzweiliges Vergnügen.
Dann ging es zu den sphärischen Keyboardklängen von Belgrad. Das Quartett bot einen sehr elektronischen Sound mit nachdenklichen und überaus intensiven Texten. Der Sänger wirkte oft sehr vernuschelt und in sich gekehrt, hatte aber auch heiser raus gebrüllte Passagen im Postpunk-Stil zu bieten. Die Musik war nicht einfach zu konsumieren, aber durchaus ein Ohr wert.
Dann enterten FJØRT die Mainstage mit lauten, verzerrten Soundcollagen. Die Band aus Aachen wird gerne mal dem Post-Hardcore zugeordnet und so gab es oftmals hysterischen, zum teil recht energisch heraus gebrüllten Gesang. Einen glatten Sound suchte man hier vergebens. Stattdessen hörte ich emotionale Songs mit intelligenten Texten. Die vielfältigen Aussagen gegen Rechts weckten auch das Publikum auf, das jubelnd zustimmte.
Der Niederländer Tim Vantol war aus Amsterdam angereist, um im Alleingang die Second Stage für sich einzunehmen. Gegen ca. 20.30 Uhr fand er hier ein dankbares Publikum, um die Abenddämmerung einzuläuten. Es gab schnelles Gitarrenspiel und einen netten Akzent bei den Ansagen. Tim lobte dieses “Losheim am Teich” und schaffte es, sein Publikum mit minimalen Mitteln zu begeistern. Die Tempowechsel von Akustikballaden bis hin zum Punkkracher waren schon beeindruckend.
Auf der Mainstage wartete mit Adam Angst die große Überraschung des Abends auf mich. Was für eine knallharte Performance der deutschen Punkrock-Band! Sänger Felix Schönfuss verfügt über eine geniale Stimme und eine fantastische Bühnenpräsenz. Dazu gab es deutliche Worte und verzerrte Gitarren. Der erste Headliner-Slot auf der abendlichen Mainstage war genau richtig für das Quintett. In einer grellen und hektischen Lightshow konnten wir einen Sänger bewundern, der ständig in Bewegung war und dessen Musiker die Texte häufig mit einer witzigen Schauspiel-Performance begleiteten. Das half beim Verorten der Texte, wenn man in “Wunderbar” die Spaßgesellschaft aufs Korn nahm: “Wir glauben nicht mehr an Minister / Wir glauben lang’ nicht mehr an Gott / Wir glauben an Helene Fischer / Und wir feiern uns kaputt.”
Beim Agieren gegen Rechts darf es auch keine Klischees geben: “Es wird uns nie peinlich sein, uns auch im Umfeld, wo alle unserer Meinung sind, gegen rechte Gewalt auszusprechen.” Passend dazu gab es den Song von den selbsternannten “Professoren”, die abends lamentierend in der Imbissbude stehen und zu wissen glauben, wie die Ausländer unser Land verändern. Ein ebenso nachdenklicher Song wie der neue Titel “Alexa” vom kommenden zweiten Album “Neintology” (VÖ: 28.9.2018), der sich mit den Unbillen der selbst verordneten Überwachung durch die neuen Medien beschäftigt. Sehr schön, dass Adam Angst fast eine Stunde Raum bekamen – ein perfektes Konzert für diesen Zeitpunkt.
Nahtlos übernahmen The Baboon Show aus Schweden. Die Stockholmer Band mit der aufreizenden Frontfrau Cecilia Boström. Sie ist die perfekte Shouterin für energiegeladene Songs. Ihr Punk mit Rock’n’Roll-Attitüde ließ mich oftmals an Jennifer Rostock denken. So würde Jennifer Weist wohl klingen, wenn sie denn in englischer Sprache sänge. Dazu war Cecilia ständig in Bewegung und verdrehte vor allem den Männern im Publikum den Kopf, die sich zu fortwährenden Crowd-Surf-Attacken hinreißen ließen, um ihr näher zu kommen. Abgefahren, was sie da mit ihren teil aggressiven, teils melodiösen Songs leistete. Ein echtes Party-Highlight, bevor es dann mit dem Headliner etwas gediegener zugehen sollte.
Pünktlich um 22.40 Uhr enterten Kettcar die Mainstage. Und es war mir ein Genuss, diese Band zum ersten Mal live erleben zu dürfen. Fünf LCD-Wände nahmen das Publikum mit auf eine Videoreise durch Hamburgs Straßen, während Marcus Wiebusch mit warmer, sonorer Stimme “Trostbrücke Süd” anstimmte. Ein atmosphärischer Song über die Verlorenen im Frühbus, der in einem skurillen Moment an der Endstation gipfelt, wenn alle verbliebenen Fahrgäste auf ihre Sitze steigen und dem Busfahrer skandieren: “Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser”. Wie geil ist das denn? Und wie perfekt wirkt dieser Song in nächtlicher Konzertkulisse?
Das neue Album “Ich vs. wir” stand deutlich im Mittelpunkt des Konzerts, doch auch die Klassiker kamen nicht zu kurz. “Graceland” wurde angekündigt als “Song vom würdevollen Älterwerden” – und das ist es auch, was Kettcar nach fünfjähriger Schaffenspause gerade tun: Aus der lauten Rockband ist eine nachdenkliche Truppe geworden, die mit ihrem Politpunk (so bezeichnet es Wiebusch gern selbst auf den Konzerten) immer noch wichtige Geschichten erzählt, den Fokus aber mehr aufs Erzählen als aufs eingängige Abfeiern legt. So kam dann auch die wichtige Erzählung “Sommer ’89” recht früh im Set, in die Wiebusch soviel Text gelegt hat, dass er ihn gar nicht mehr singen kann, sondern in Form eines musikalischen Hörspiels (inklusive Video im Hintergrund) interpretiert und mit den Worten beschließt: “Helfen durch Zäune ist ein zutiefst menschlicher Akt.”
Dann mit “Wagenburg” quasi der Song zum Albumtitel, vom Egoismus der sogenannten besorgten Bürger und Wir-sind-das-Volk-Brüller: “Wo Egoschweine erst alleine / Und dann zusammen, nur an sich denkend / Sich zu einem Wir verlieren”. Damit gab es genug zum Nachdenken und Kettcar ließen einen drei Songs umfassenden Emo-Block mit Liebesliedern folgen. Nicht alle mit gutem Ausgang, wie der Wochenend-Beziehungssong “48 Stunden” zeigte, aber dann auch gemütlich und fröhlich wie im Klassiker “Balu”.
Zum Glück war der Auftritt nicht zu ernst. Großen Anteil daran hatte Bassist Reimer Bustorff, der schon beim nachmittäglichen T-Shirt-Verkauf am Merchandise fröhlich sein Bier schwenkte und jetzt zu fortgeschrittener Stunde sehr selig wirkte, wenn er vom Telefonat mit seiner Mutter erzählte, die anscheinend das “Rockaway Beach” nicht als geeigneten Auftrittsort für Kettcar ansah, oder vom Besuch eines Eagle-Eye-Cherry-Konzerts in Hamburg vor vielen Jahren, als ein Zuschauer beim Warten auf das One-Hit-Wonder “Save Tonight” irgendwann brüllte: “Jetzt spiel endlich deinen Scheiß-Hit und hau ab”. Man konnte seiner Konklusion nur zustimmen: “Gut, dass wir nie einen Hit hatten.” Wiebusch nutzte die ausufernde Heiterkeit des Bassisten und überredete Reimer gar zu seiner ersten Crowd-Surf-Erfahrung. Ein Traum, dass wir diesem Ereignis beiwohnen durften.
Die Setlist will ich mal als (aus heutiger Sicht) perfekt bezeichnen. “Benzin und Kartoffelchips” aber auch “Ankunftshalle” sind Songs von Meer und Freiheit bzw. der rührenden Heimkehr. Selbst Wiebuschs formidabler Solosong “Der Tag wird kommen” über einen homosexuellen Fußballstar fand seinen Platz im Set und verursachte mir Gänsehaut – wie immer, wenn ich das dazu gehörige Video sehe, das auch hier im Hintergrund ablief. Zu “Deiche” kam punkt Mitternacht nochmal Feierstimmung auf. Dann verabschiedete sich die Band erstmals von der Bühne.
Die 2018er Tour hatte im Saarland (Garage Saarbrücken) begonnen und sollte mit diesem Spät-Festival-Auftritt auch enden. Als letztes folgte das umjubelte “Landungsbrücken raus”, das Marcus Wiebusch mit den Worten einläutete: “In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung”. Nun hat das Strandbad Losheim zwar keinen echten Hafen zu bieten, aber ein wunderschönes Ambiente fürs Ende der Festival-Saison. Kettcar hatten einen fantastischen Auftritt hin gelegt. Hoffentlich machen sie jetzt keine lange Pause, sondern bleiben im Flow. Hoffnung habe ich auch für das “Rockaway Beach Festival”. So schön wie in 2018 soll es gerne auch die nächsten Jahre werden. Das haben sich die Veranstalter von Popp Concerts redlich verdient, die hier neben den antiken Stätten in Trier und dem Bostalsee eine weitere kultige Konzertstätte bespielen. Alle, mit denen ich während und nach der Veranstaltung gesprochen habe, waren jedenfalls begeistert.
Setlist – KETTCAR – 31.8.2018, Strandbad Losheim am See
Trostbrücke Süd
Graceland
Money Left to Burn
Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
Wagenburg
Rettung
48 Stunden
Balu
Benzin und Kartoffelchips
Auf den billigen Plätzen
Der Tag wird kommen
Ankunftshalle
Im Taxi weinen
Balkon gegenüber
Deiche
Ich danke der Academy
Kein Außen mehr
Landungsbrücken raus