Besondere Künstler erfordern besondere Maßnahmen. Uns allen war vermutlich klar, dass es bei Udo Lindenberg noch einiges zu entdecken gilt. Wenn man seine eigenen Aussagen hört, gab es doch einige dunkle Jahre vor allem zum Ende der 80er und in den 90ern. Zum Glück hat er die Kurve wieder gekriegt und wurde im neuen Jahrtausend auch im Blick der Öffentlichkeit zu dem Ausnahmekünstler, der er eigentlich immer war. Und noch mehr: „Stark wie zwei“ und „Stärker als die Zeit“ waren die ersten Nummer-1-Alben seiner langen Karriere. Und mit dem Livealbum „MTV unplugged“ schlug er in die gleiche Kerbe.
Nun folgt im Dezember 2018 die Fortsetzung und Udo gehört zu den wenigen Musikern, denen die Ehre eines zweiten „MTV unplugged“ zuteil wird – und das in so kurzem Abstand zum ersten. Vorher aber arbeitet das Polydor-Label seine 15 Jahre mit Udo Lindenberg in einem grandiosen Boxset auf. Es ist wirklich eine große Freude, dieses Teil in Händen zu halten.
Die ersten (nicht chartrelevanten) Alben von Udo erschienen 1971 und 1972. Im Jahr 1973 ging es dann mit „Alles klar auf der Andrea Doria“ und dem gleichnamigen Hit – den man wohl noch als Rockschlager bezeichnen muss – in die Vollen. Er hatte sich von der englischsprachigen Musik des ersten Albums hin zum ersten echten Deutschrocker entwickelt und damit Pionierarbeit für Künstler wie Westernhagen und Grönemeyer geleistet.
Der Labelwechsel zu Polydor stand 1983 an und prompt wurde sein Album „Odyssee“ mit dem geschichtsträchtigen „Sonderzug nach Pankow“ zum bis dato größten kommerziellen Erfolg. Außerdem bot das Album den All-time-Favourite „Du knallst in mein Leben“.
Die Beschäftigung mit dem kalten Krieg, mit der DDR und Moskau wurde für Udo in vielen Punkten zum beherrschenden Thema, das ihm großes Medieninteresse entgegen brachte. „Götterhämmerung“ ist fast schon ein Konzeptalbum für diese Zeit und enthält mit „Sie brauchen keinen Führer“ einen weiteren Klassiker. 1985 erschienen zwei Alben, wobei „Radio Eriwahn“ hauptsächlich aus Liveaufnahmen aus Russland besteht.
Die Musik enthielt inzwischen viele elektronische Momente, sprang aber nie komplett auf den NDW-Zug auf. Stattdessen versuchte Udo sich an Experimenten wie „Phönix“ mit Vertonungen von Gedichten des großen Bert Brecht. Oder „Hermine“ zu Ehren seiner Mutter, das aus Chansons aus den Jahren 1929 bis 1988 besteht. Filigrane und ernsthafte Kunst wurde da geboten – und parallel gab es weitere Hits wie „Ich lieb‘ dich überhaupt nicht mehr“ und „Die Klavierlehrerin“.
1989 erlitt Udo einen Herzinfarkt, die Mauer fiel und mit „Bunte Republik Deutschland“ erschien ein Album, das zumindest im Titel den Zeitgeist perfekt einfing. Es gab Udo einen starken Schub, dass die Menschen in Ostdeutschland seine Alben endlich legal erwerben konnten. Mit den neuen Werken in den 90ern konnte er aber nicht an alte Erfolge anknüpfen. Vielleicht lag es daran, dass er bisweilen zwischen traditioneller Rockmusik und ambitionierten Projekten wechselte.
„Panik-Panther“ und „Kosmos“ enthielten respektable Rocktitel ohne Anbiederung an den Massengeschmack. Das Album „Gustav“ brachte zum größten Teil selbstgeschriebene Songs im Stil der 50er Jahre zu Ehren seines Vaters. „Benjamin“ war ein Konzeptalbum, das die Geschichte eines jungen Boxers erzählte. Und mit „Belcanto“ konnte Udo endlich wieder groß aufleuchten, als er 1997 mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg alte Hits und neue Songs im Chanson-Stil der 20er Jahre interpretierte.
„Zeitmaschine“ beendete schließlich die 15jährige Zusammenarbeit zwischen Udo und Polydor. Alle 17 Studioalben dieser Zeit gibt es nun in remasterter Version im Boxset „Das Vermächtnis der Nachtigall (1983-1998)“. Und hinzu kommen einige Extras, zu denen ich mich später noch auslasse.
Zunächst einmal zur Aufmachung: Das Boxset ist ein dickes Buch im LP-Format und steckt in einem stabilen Schuber. Man muss sich also keine Sorgen mache, dass dem guten Stück etwas zustößt. Die CDs stecken in stabilen Einstecktaschen. Man bekommt also keine Booklets oder Cover mitgeliefert, sondern nur die puren Silberlinge. Alle Informationen ergeben sich aber aus den 68 Seiten des Buches. Mit einem Vorwort von Udo himself, Liner Notes des Journalisten Michael Fuchs-Gamböck und einer Weltchronik, die Daten der Weltgeschichte zu Udos Gesamtwerk in Bezug setzt. Jedes Album wird detailliert betrachtet. Hinzu kommen viele Fotos und Abdrucke von Konzertkarten. Am Ende werden die Tracklisten der Alben abgedruckt. Als Posterbeilage kann man sich das Cover von „Sündenknall“ auseinanderfalten.
Das 96er Album „Und ewig rauscht die Linde“ wurde als einziges komplett neu abgemischt. Es war Udos Rückkehr zum knallharten Rock ohne elektronische Einsprengsel und ohne filigrane Ambitionen. Dieser erdige Sound kommt jetzt noch besser durch als beim Original.
Und vier besondere Scheiben enthält das Set, die man auch als knallharter Fan der ersten Stunde nicht unbedingt im Regal hat: Ende der 80er Jahre hatte Udo erneut zwei Alben in englischer Sprache aufgenommen. „I Don’t Know Who I Should Belong To“ mit Titeln wie „Horizon” und Jonny Boxer” erschien bisher nur im Vinyl-Format und war kaum noch erhältlich. Die englische Ausgabe von „CasaNova“, eine 1:1-Übertragung des gleichnamigen Albums aus dem Jahr 1988, blieb sogar bis heute gänzlich unveröffentlicht, was vermutlich eine direkte Auswirkung des Mauerfalls und der neuen Popularität Udos im deutschsprachigen Raum war. Jetzt wird dieses Kleinod der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Raritäten-CD „Das Vermächtnis der Nachtigall“ enthält Maxi-Versionen und Remixe bekannter Titel. Nichts wirklich Weltbewegendes, aber einige Perlen wie die lange Version von „Airport“ (mit sieben Minuten Spieldauer) und eine schmissige Rockversion von „Ich schwöre“. Die 44minütige Bonus-DVD bietet zwölf Musikvideos aus dieser Ära.
Das Boxset ist eine gelungene Hommage an die mittlere Epoche einer ganz großen Karriere. Es macht unendlichen Spaß, das Teil in Händen zu halten, durch das Buch zu schmökern und einzelne Scheiben im CD-Player aufzulegen. Die Aufmachung ist grandios und wer einen etablierten Udo-Fan im Freundes- oder Verwandtenkreis hat, der sich ein solches Teil vielleicht niemals selbst kaufen würde, kann diesem zu Weihnachten sicher Freudentränen in die Augen treiben.