Ray Wilson: „The Weight of Man“ – Kann die Erde unsere Last noch tragen?
Als Ray Wilson vor einem Jahr die ersten neue Singles „Mother Earth“ und „You Could Have Been Someone“ veröffentlichte, war klar, dass dies kein Gute-Laune-Album werden wird. Der unermüdliche Sänger, der früher mal bei Stiltskin und Genesis am Mikro stand, aber inzwischen seit Jahrzehnten als Solokünstler unterwegs ist, widmet sich einem sehr schwierigen und hochaktuellen Thema: Kann die Erde die Last des Menschen noch tragen?
Keine Frage, dass „The Weight of Man“ ein sehr melancholisches und nachdenkliches Album geworden ist. Und Ray schlägt damit einen großen Bogen – um Klimakrise, Globalisierung, Pandemie und populistische Politik. Es ist hauptsächlich ein poetischer Schnappschuss und seine künstlerische Reaktion auf den schwierigen Moment unseres Lebens, in dem die Covid-19-Pandemie etwas so Wichtiges und Unberührbares wie Musik gefährdet, eine der vollständigsten Kunstformen, die wir auf der Erde haben. Seine Musik und seine Texte waren noch nie so kraftvoll und präzise. Wenn wir sagen können, dass Wissenschaft der einzige Weg ist, dem wir folgen müssen, um ein Heilmittel für alle zu erreichen, dann ist wahre Musik die höchste Form von Empathie: Wo Impfstoffe endlich Leben behandeln, ist Musik die ständige Medizin, die sich um unsere Seelen kümmert. Deshalb ist „The Weight Of Man“ voller Seele und Emotion, Erfahrung und dem Nervenkitzel von Enttäuschungen oder Träumen, Verständnis und Hoffnung.
Neben den oben genannten Singles gibt es einige komplexe und textliche knallharte Stücke wie den Titeltrack und das starke „The Last Laugh“. Mit Ali Ferguson und Uwe Metzler an den Gitarren hat Ray hervorragende Mitstreiter, die in ihrem Spiel und vor allem den prominenten Soli gerne mal ein Pink-Floyd-Feeling aufkommen lassen. Die Akustik-Ballade „We Knew The Truth Once“ beschäftigt sich mit den Lügen der Politiker, das sphärische „I, Like You“ berührt mit seiner Sehnsucht nach Nähe – wo doch die Deprivation des Körperlichen eine fatale Folge der Pandemie ist, bis hin zu fehlenden kulturellen Erlebnissen.
Rays größte Werke sind philosophischer Natur, beschäftigen sich mit Veränderungen, mit Trauer, mit Sehnsucht. Dabei zieht er gerne Vergleiche zu sich selbst, zu seinem Leben und seiner Karriere – wie in meinem Lieblingssong aus seiner Feder, „The Actor“. Im neuen Album, das vielleicht sein bestes ist, fügt er eine weitere wichtige Facette hinzu, nämlich die Sorge um unserer aller Leben und die Zukunft unserer Kinder. „The Weight of Man“ ist ein Album aus einem Guss, ein thematisches Konzeptalbum, das bewegt. Uptempo-Nummern sind Fehlanzeige. Stattdessen gibt es verträumte Melodien und ein Schwanken zwischen Verzweiflung und Optimismus. Ray Wilson ist erneut in Topform. Und ich freue mich schon auf die Konzerte, in denen er so manchen Genesis-Klassiker vielleicht durch Songs vom neuen Album ersetzt.