Wilhelmine war für mich die größte Entdeckung beim Reeperbahn Festival 2022. Ich hatte vorher schon einige ihrer Songs gehört, doch ihr Livekonzert im Club “Uebel und gefährlich” war ein ganz besonderes Highlight. Ihre anfängliche Unsicherheit überspielte sie mit viel Energie und war mega sympathisch. Songs wie „Komm wie du bist“, „Meine Liebe“ und „Das Mädchen mit der Latzhose“ zeugten von Popmusik, die etwas sagen möchte. Durch authentische Ansagen gelang ihr das mit Bravour.
Wilhelmine Schneider ist 1990 in Berlin geboren und wuchs in einem besetzten Haus in Kreuzberg auf. Später zogen die Eltern mit ihr ins Wendland. Schon mit elf Jahren schrieb sie erste Songs. Sie trat als Straßenmusikerin in einer Coverband auf und machte recht früh in eigenen Liedern ihr Coming Out zum Thema. Die EP „Komm wie du bist“ (2020) enthält sehr persönliche Songs mit Geschichten, die ihr selbst passiert sind. „Warum ist meine Liebe deiner Rede wert?“ fragt sie offensiv und hält in „Solange du dich bewegst“ eine bewegende Ansprache an sich selbst. Diese Stücke sind auf dem Debüt nicht enthalten, daher empfehle ich auch die EP, wenn man über das Album auf den Geschmack gekommen ist (HIER unsre komplette Review).
Der Albumtitel „Wind“ passt in die stürmischen Zeiten, in denen wir leben. Und Wilhelmine gelingt es, ihre Stücke wie eine aufmunternde Umarmung klingen zu lassen. Sie ist authentisch und singt mit sanfter, klarer Stimme. „Schritt für Schritt“ startet mit verschwurbelten elektronischen Klängen, die eine melancholische Standortbestimmung untermalen. Erst im Refrain kommt die Energie durch, die sich meist durch Wilhelmines Musik zieht.
„An all diesen Tagen“ ist ein wunderschön eingängiger Popsong, der von Zusammenhalt und Liebe singt. „Besonders“ beschreibt die Schönheit des Augenblicks und „Mein Bestes“ handelt von den Tagen ihrer Kindheit. Wilhelmine ist wahnsinnig gut darin, zwischenmenschliche Momente und Schwingungen einzufangen – Momente und Schwingungen, die so intim sind, dass man sich fühlt, als flüstere sie einem die Worte gerade persönlich ins Ohr.
Die aktuelle Single „Schwarzer Renault“ zeigt aber auch die Kehrseite der Liebe. Nach dem Phänomen selektiver Wahrnehmung fühlt sich die Protagonistin plötzlich vom Auto des geliebten Menschen verfolgt. Solche Situationen kann vermutlich jede und jeder nachvollziehen – und mit ihrem flauschigen Pop verleiht Wilhelmine den Gedanken eine Stimme.
In „Ich gehör wieder mir“ geht es um Selbstfindung. „Die kleinen Dinge“ und „Eins sein“ handeln von glücklichen Liebesbeziehungen. Damit spricht die 32jährige, die aber viel jünger wirkt, eine breite Generation von Teens und Twens an. Mit ehrlichen Texten, vermittelt durch weitestgehend handgemachte Musik und ohne auch nur den Hauch stampfender Schlagerrhythmen.
Wilhelmine wendet sich gern den Menschen in ihrer Umgebung zu und singt von ihnen. „Sicher“ handelt von einer Vaterfigur, deren Fehlen sie mit eindringlichen Rapzeilen und einem sehnsüchtigen Refrain beschreibt. Mit fast lakonischen Worten singt sie in „An die Freude“ von einer düsteren Welt und dem Ausweg aus der Dunkelheit. Im abschließenden „Lachenden Muts“ singt sie von einem Auslandsjahr in Spanien und der Kraft des Neuanfangs.
„Wind“ ist ein wundervolles Debütalbum ohne Längen – wie aus einem Guss. Ein behagliches Album für stürmische Zeiten. Es ist schon bezeichnend, dass Wilhelmine ihre bekannten Livehits nicht mit auf das Album genommen hat. Da ist einfach genug Material und die Ideen gehen ihr nicht aus. Ihre Popmusik ist frisch und frei in allen Belangen. Bleibt zu hoffen, dass sie damit noch viele Herzen gewinnen wird!