Seit seinem Erstlingswerk „Die Jury“ vor 34 Jahren hat der amerikanische Autor, Rechtsanwalt und Demokrat sich mit Romanen einen Namen gemacht, die im juristischen Milieu spielen. Viele von ihnen wurden erfolgreich verfilmt und es gibt in diesem Bereich kaum jemanden, der ihm das Wasser reichen kann. Im deutschsprachigen Raum denke ich vielleicht an Ferdinand von Schirach, doch beide sind in ihrer Herangehensweise sehr unterschiedlich. Während von Schirach sich philosophisch und ethisch mit Fragen von Schuld und Sühne beschäftigt, ist Grisham in seinen Texten sehr gradlinig. Meist sind die Rollen von Gut und Böse klar verteilt – und mit juristischen Winkelzügen kann der Protagonist dem Antagonisten in der Regel das Wasser abgraben. So endet zumindest oft der Plot in einem Happy End.
Über die Jahre hat sich Grisham allerdings auch in anderen Genres und Erzählstilen versucht. Sachbücher, Jugendbücher, Romane über Football und Baseball, sogar eine Komödie über ein Ehepaar, das Weihnachten nicht feiern will. Alles ganz nett, aber es sind stets die Justizromane, die alle Bestsellerlisten stürmen. Als Vielschreiber produziert er jährlich mindestens einen neuen Roman. In 2022 gab es als Novum einen Band mit drei Kurzgeschichten. Nicht so ganz mein Fall, weil der grundlegende Aufbau der Charaktere auf der Strecke geblieben ist. Ich konnte ihrer Geschichte folgen, aber habe sie nicht ins Herz geschlossen – wie sonst so oft. Das soll sich 2023 bitte wieder ändern.
Der aktuelle Roman trägt im Englischen den Titel „The Boys from Biloxi“, was vielleicht besser zum Inhalt passt. Die Geschichte spielt in Biloxi, Mississippi. Die Einwanderersöhne Keith und Hugh wachsen in den Sechzigerjahren gemeinsam auf, verbunden durch eine scheinbar unverbrüchliche Freundschaft – bis sie sich auf den verschiedenen Seiten des Gesetzes wiederfinden: Keith hat Jura studiert und ist Staatsanwalt geworden. Hugh dagegen arbeitet für seinen Vater, einen Boss der Dixie-Mafia. Das erklärt das deutsche Schlagwort „Feinde“ im Titel.
Aber der Roman bietet viel mehr als den Showdown der beiden vor Gericht. Zunächst wird viel zu den Hintergründen erzählt. Die Situation kroatischer Einwanderer in den USA wird ebenso beleuchtet wie die Verpflichtung als Soldaten im 2. Weltkrieg und die Prohibition in der Heimat. Es geht um Prostitution, Glücksspiel, Drogenhandel und Bandenkriege. Außerdem spielt die sportliche Entwicklung beider Jungs eine große Rolle. Manchmal möchte man auf den ersten 100 Seiten rufen: „To much!“, denn Grisham gibt eine recht umfangreiche Geschichtsstunde zu den Verhältnissen in den 40er, 50er und 60er Jahren. Das kann zu Beginn etwas ermüdend sein, aber es hilft, die Protagonisten gut kennen zu lernen und ihre Motive zu verstehen. Spätestens wenn es um den Hurrikan von 1969 geht und erste Rechtsstreitigkeiten eine Rolle spielen, hat der Leser einen Bezug zum Ort Biloxi und seinen Einwohnern entwickelt.
Als Leser habe ich einen Bezug zu beiden Seiten der Story entwickelt. Und das ist definitiv eine Leistung von Grisham. Um die Welt zu erklären, stellt uns der Autor eine Unmenge von Personen und Locations vor. Ich muss zugeben, dass ich da auch einige Seiten quer gelesen habe. Ab der Hälfte wird man allerdings fürs Durchhalten belohnt, wenn sich die Geschichte wieder auf Keith und Hugh konzentriert und beide sich als Gegner gegenüberstehen.
Im Prinzip ist „Feinde“ die Geschichte zweier Familien, die mit gleichen Voraussetzungen starten, sich aber in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Diese Betrachtungsweise ist sehr reizvoll und bis zum Finale absolut unterhaltsam. Dieser Roman ist anders als die üblichen Thriller von Grisham, aber dennoch sehr lesenswert.