Mal wieder hat sich David Gilmour viel Zeit gelassen für sein neues Soloalbum – doch das Warten wurde belohnt. Neun Jahre sind seit „Rattle That Lock“ vergangen. Damit blieb er im Rhythmus, denn „On An Island“ hat schon 18 Jährchen auf dem Buckel. Alle drei eroberten Platz 1 der UK-Charts und mit dem aktuellen Werk „Luck And Strange“ setzte sich der Brite erstmals auch in Deutschland an die Spitze. Kein Wunder – ist er doch der einzige, der das Vermächtnis von Pink Floyd noch ernsthaft hochhält. Diese haben sich mit „The Endless River“ vor zehn Jahren endgültig verabschiedet. Nick Mason widmet sich solo der ganz frühen Bandphase, Roger Waters verliert sich in halbgaren Verschwörungstheorien und ansonsten muss man schon eine der genialen Coverbands aufsuchen, um an alte Zeiten erinnert zu werden.
Gilmour hingegen wartet mit solider und weitestgehend entspannter neuer Musik auf. Ob er sich beim Albumtitel vom US-amerikanischen Wahlkampf inspirieren ließ? Eine bessere Zusammenfassung der Geschehnisse dort in nur drei Worten kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Fünf Monate arbeitete Gilmour in Brighton und London am neuen Werk. Das Album wurde von David selbst und Charlie Andrew produziert. Die meisten Lyrics stammen von Co-Autorin Polly Samson, mit der David schon seit 30 Jahren zusammenarbeitet. Sie sagt über die Themenbereiche, die ihre Texte auf „Luck And Strange“ abdecken: „Es geht um Sterblichkeit, darum, wie du die Welt betrachtest, wenn du älter wirst.“ Und Gilmour fügt an: „Während des Lockdowns und danach haben wir viel über diese Themen nachgedacht.“ Für Polly wirkte die Zusammenarbeit mit Charlie Andrew sehr befreiend, denn „er möchte wissen, worum es in den Songs geht. Jeder, der die Songs performt, soll die Lyrics kennen und das in sein Spiel einfließen lassen.“
Auf dem Album sind acht neue Tracks, darunter ein Cover von „Between Two Points“ (Originalinterpreten: The Montgolfier Brothers) zu hören. Kein Geringerer als Anton Corbijn hat Artwork und Fotos beigesteuert. Und folgende Musiker waren an der Entstehung von „Luck and Strange“ beteiligt: Guy Pratt & Tom Herbert am Bass, Adam Betts, Steve Gadd und Steve DiStanislao am Schlagzeug sowie Rob Gentry & Roger Eno an den Keyboards. Für die Streicher- und Chor-Arrangements war Will Gardner verantwortlich. Auf dem Titeltrack des Albums ist eine Aufnahme des verstorbenen früheren Pink Floyd-Keyboarder Rick Wright zu hören, die 2007 bei einer Jam Session in Davids Scheune entstand!
Einige Beiträge der Gastmusiker*innen gehen auf die Live-Streams zurück, die David Gilmour und seine Familie 2020 und 2021 in den Lockdown-Phasen produzierten. Ein Beispiel sind der Leadgesang und das Harfenspiel von Romany Gilmour auf dem Titel „Between Two Points“. Gabriel Gilmour steuert ebenfalls Backing Vocals bei.
Wie immer gibt es sehr atmosphärische Arrangements im Stil ruhiger Floyd-Titel. Gilmours Gitarrenspiel ist wieder wie vom anderen Stern. Hinzu kommt seine entspannte, grandios verlebte Blues-Stimme, der man ihre 78 Jahre Altersweisheit absolut anhört, was das Hörerlebnis besonders stark macht. David versteckt sich nicht hinter produktionstechnischer Perfektion, sondern zeigt sich so, wie er ist. Der Abschluss mit dem epischen „Scattered“ ist dann überraschend düster und experimentell. Aufgelöst wird das musikalische Geschehen mit zwei Bonustracks, wobei für „Yes, I Have Ghosts“ wieder Romany mit an Bord ist und wir den Titelsong im frühen originalen Band Jam genießen dürfen.
„Luck And Strange“ ist ein wundervolles Klangkunstwerk. Die Gitarrensoli sind perfekte Anleihen an den besten Pink-Floyd-Sound und Romanys Stimme ist betörend schön. Ein Spätwerk des Meisters, nach dem sich alle Fans gesehnt haben.