Es ist gut, wenn die Kinder langsam erwachsen werden. Dann fangen sie nämlich nicht nur an sich vom Kühlschrank und dem Portemonnaie der Eltern zu emanzipieren, sondern ganz nebenbei auch eine eigene musikalische Sozialisation zu entwickeln. Wenn dabei am Ende dann ein Tipp für den in seinen musikalischen Vorlieben doch etwas festgefahrenen Vater herausspringt, hat man erziehungstechnisch so gut wie alles richtig gemacht. In diesem Bewusstsein bekam ich vor kurzem von meiner Tochter das neue Album von Half Moon Run empfohlen: „Das musst du dir mal anhören“. Gesagt, getan… zumal die Band bis dahin völlig an mir vorübergegangen war.
Zu meiner Entschuldigung kann ich anführen, dass das Debütalbum „Dark Eyes“ von Half Moon Run hierzulande insgesamt etwas unter dem Radar flog, obwohl das Quartett damit zwei Jahre lang fast ununterbrochen auf Tour war. Auch bandintern ging der Schuss eher nach hinten los. Als man nämlich Ende 2014 die Arbeit am Nachfolger beginnen wollte, waren Devon Portielje, Dylan Phillips, Conner Molander und Isaac Symonds derart voneinander angeödet, dass es schon eines immensen Kraftaktes und einer rettenden Idee bedurfte, um überhaupt als Half Moon Run weiterzumachen. Die Idee bestand in einem Ortswechsel nach Kalifornien, um dort in der warmen Sonne und bei den täglichen Surf-Gängen den Kopf freizubekommen. Das Ergebnis dieses Prozesses erscheint nun in Form von dreizehn neuen Songs und hört auf den passenden Namen „Sun Leads Me On“.
Das zweite Album der Kanadier vermeidet dabei im Gegensatz zum Erstling den unbedingten Fokus auf Indie-Folk. Natürlich gibt es den auch noch („I Can’t Figure Out What’s Going On“ oder „Devil May Care“), aber Half Moon Run haben ihre musikalische Bandbreite um zahlreiche andere Elemente erweitert. Da wird mal ungeniert bei den Beatles gewildert („Warmest Regards“) oder Biffy Clyro mit den Kings Of Leon gekreuzt („Turn Your Love“). Rock können Half Moon Run jetzt auch, wie sie in „Consider Yourself“ und besonders im proglastigen „The Debt“ beweisen. Vieles von dem was auf „Sun Leads Me On“ zu hören ist klingt fröhlich, luftig, poppig und duftet nicht nur im Titelsong nach einem frischgemähten Kornfeld. Zwischendurch wird es mal honigsüß („Narrow Margins“) und mal melancholisch („Everybody Wants“), aber eines wird das Album nie: Langweilig. Wobei ich mich bis heute frage, ob der Closer „Trust“ nun ernst oder ironisch gemeint ist…
Egal! Mit „Sun Leads Me On“ ist Half Moon Run ein abwechslungsreiches, weit gefasstes und ausgewogenes Zweitwerk gelungen. Mit Sicherheit dürfte es dafür sorgen, dass die Band auf dem einen oder anderen Radar mehr auftaucht. Dafür spricht jedenfalls die Tatsache, dass ihre Konzerte am 06.11. in Köln und am 10.11. in Berlin seit Wochen ausverkauft sind. Zurecht werden all diejenigen sagen, welche den Auftritt von Half Moon Run im Rahmen des Reeperbahn Festivals miterlebt haben.