2014 feiern Selig ihr 20-jähriges Jubiläum. Okay, dabei ist die Pause zwischen 1999 und 2008 mit eingerechnet. Nach ihrem Start 1994 und so grossartigen Songs wie „Ohne Dich“, „Sie hat geschrien“ oder „Mädchen auf dem Dach“ gelang dem Hamburger Quintett 2009 mit „Und Endlich Unendlich“ ein nahtloses Anknüpfen an die Gegenwart. Über weitere drei Alben haben sich Selig so immer wieder selbst erneuert. Am 10. Oktober veröffentlichen sie ihr Jubiläumsalbum „Die Besten 1994 – 2014“ und gehen anschließend auf Tour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz.
Bevor die Feierlichkeiten endgültig losgehen, hatte Musicheadquarter-Chefredakteur Thomas Kröll die Gelegenheit zu einem Interview mit Christian Neander. Obwohl er an diesem Tag extrem erkältet war, nahm sich der Selig-Gitarrist viel Zeit, um über das kommende Album, den Umgang mit dem „Rockstar-Rummel“, sein Verhältnis zu den anderen Bandmitgliedern und natürlich über die vergangenen 20 Jahre Selig zu sprechen.
In diesem Jahr feiert ihr euer 20-jähriges Bandjubiläum mit einer Tour und einem neuen Album. Am 10. Oktober erscheint „Die Besten 1994 – 2014“, eine Retrospektive aus zwei Jahrzehnten Selig. Nach welchen Kriterien habt ihr die Songs darauf ausgewählt?
Christian Neander: Im letzten Jahr haben wir uns in der Hamburger Schanze eine kleine Wohnung gemietet und haben alle Songs, die wir jemals gemacht haben, inklusive B-Seiten, angehört. Dann haben wir aufgeschrieben, was das für Erlebnisse waren. Das war der Ursprung für die Auswahl. Es sind natürlich Singles dabei, die ja auch prägend waren für uns, aber auch sowas wie „Wenn ich Gott wäre“, eine B-Seite vom ersten Album. Ausgewählt haben wir nach dem, was wir einfach mochten und was sich dabei herauskristallisiert hat.
Jetzt hättet ihr es euch mit dem Album ja leicht machen und einfach die Originalversionen der Stücke draufpacken können. Fertig. Stattdessen habt ihr die Songs überarbeitet, entschlackt und damit nochmal völlig neu interpretiert. Warum war euch das so wichtig?
Christian Neander: In der Schanze ist uns zum Beispiel bei „Die Besten“ aufgegangen, dass das einen sehr traurigen Text hat und dass die Musik aber komplett in Dur ist. Also haben wir alle Akkorde in Moll gemacht und das war super. Eigentlich ein Zufallstreffer. Wir finden Best Of’s extrem langweilig. Du kannst dir von iTunes oder wie auch immer ja selbst dein Best Of bauen. Wir wollten aber gucken, wie man es anders machen könnte. Dann haben wir letztes Jahr mit dem Babelsberger Filmorchester ein Konzert gespielt, was auch super war, und danach festigte sich die Meinung: Wir schenken uns zum 20-jährigen Jubiläum unser eigenes Best Of-Album und machen alles neu. Wir waren im Clouds Hill Studio mit Swen Meyer, unserem Produzenten, und haben alles hinterfragt. Der Grundtenor war zu gucken, was ist die Aussage des Liedes und wie stellt man das noch mehr nach vorne, sodass man ein bißchen limitierter aufgenommen hat, mehr akustischer. Das ist aber jetzt kein Selig Unplugged-Gedöns geworden. Die Basis sind zwar Klavier und Akustiksachen, aber es gibt auch E-Gitarren und komische Geräusche. Alles sehr frei und spielerisch. Wir waren alle sehr aufgeregt vor den Aufnahmen und dann wurde es so eine herrliche Spielwiese. Es war wie eine neue Platte aufzunehmen und hat total Bock gebracht. Komischerweise hat es sich ein bißchen angefühlt wie unsere allererste Platte. Teilweise sind die Stücke ähnlich, aber es gibt einen Song, da sind komplett neue Harmonien drunter.
Was muss ich mir denn unter komischen Geräuschen vorstellen?
Christian Neander: Das ist nicht so extrem. Es ist jetzt nicht wahnsinnig seltsam, aber es gibt viel Streicher auf der Platte. Wir haben einfach mit Klängen rumexperimentiert oder das Schlagzeug merkwürdig aufgenommen, wie Stoppel (gemeint ist Selig-Drummer Stephan Eggert, Anmerkung der Redaktion) auf Stühle haut und sowas. Das ist nicht immer vordergründig zu hören, aber wir haben uns da sehr viel Zeit genommen und rumgespielt. Das hat Spaß gemacht.
Ich habe euch vor kurzem in Stolberg bei Aachen im Museum Zinkhütter Hof gesehen. Im Gegensatz zu den Hallen, die ihr normalerweise bespielt war das eine winzige Location mit vielleicht gerade mal 400 Leuten. Geniesst ihr diese kleinen Gigs noch einmal anders oder auf besondere Weise?
Christian Neander: Ich liebe das seit je her. Es waren tatsächlich 700 Leute plus Gäste. Aber trotzdem hatte das was von einem kleinen Club. Ich mag das total gerne, weil es heiß und irgendwie intensiver ist.
Ich fand es sehr außergewöhnlich. Die Atmosphäre und der Ticketpreis waren schon außergewöhnlich. Wirklich super.
Christian Neander (lacht): Schön. Das freut mich. Seitdem wir im Studio waren, haben wir nochmal einen Schub für den Sommer bekommen. Wahrscheinlich auch weil wir viel gespielt haben und der Spirit, auch wenn das ein blödes Wort ist, leuchtete wieder. Deswegen haben die Konzerte auch gerade wahnsinnig viel Spaß gemacht. Man kämpft irgendwie auch um die Töne. Es muss halt brennen, wenn man spielt.
Habt ihr ein bestimmtes Ritual bevor ihr auf die Bühne geht?
Christian Neander: Wir hatten sehr lange ein Ritual, bei dem wir einfach nur kurz zusammen sind und nicht reden. Wo man quasi eine Verbindung mit den anderen aufnimmt und dann auf die Bühne geht.
Was die Setlisten angeht: Legt ihr die gemeinsam fest und wann? Ich meine, erst kurz vor dem Gig oder jeweils nach dem Soundcheck vielleicht?
Christian Neander: Das zuletzt waren ja drei Konzerte direkt hintereinander. Da haben wir vorher auch geprobt und wollten viele alte Stücke spielen, eben wegen der 20 Jahre Selig. Die Setlisten machen wir gemeinsam. Wir können es auch immer besser. Früher war es komplizierter. Obwohl es immer mehr Stücke werden, wird es irgendwie immer einfacher. Keine Ahnung warum. Es gibt nicht mehr soviel Streiterei (lacht). Wir spielen ja im Herbst eine Tour, die wird aber anders sein. Da werden wir auch versuchen die Platte wie sie jetzt ist darzustellen. Das wird ein anderes Gewand haben als die letzten Konzerte.
Es ist unvermeidlich nochmal auf die letzten 20 Jahre zurückzukommen. Ihr habt in dieser Zeit mit vielen anderen Musikern zusammen auf der Bühne gestanden. Gibt es noch eine Band oder einen Künstler, mit dem ihr unbedingt mal gerne zusammenspielen würdet?
Christian Neander: Ich hätte halt unwahrscheinlich gerne Hendrix mal erlebt. Der war so prägend für mich. Aber das ist schwierig (lacht). Es gibt immer wieder inspirierende Sachen, aber ich bin nicht so fanmäßig. Ich bin mal berührt von Musik und mal nicht. Manchmal schreibt man mit irgendjemandem einen Song, hat einen super Tag und denkt: Ja, deswegen mache ich Musik.
Das neue Selig-Album erscheint am 10. Oktober bei Motor Entertainment / Sony Music
Wenn du auf diese 20 Jahre Selig zurückblickst, gibt es ein Ereignis, das dir ganz besonders im Kopf geblieben ist?
Christian Neander: Ich habe ja zehn Jahre mit Jan überhaupt kein Wort gewechselt.
Kein Wort?
Christian Neander: Naja, einmal gab es so ein ganz kurzes „Hallo“, wo wir uns nicht ausweichen konnten, was aber schrecklich war. Als wir uns dann getroffen haben, um zu überlegen, ob wir wieder zusammen kommen, haben wir sehr lange gesprochen und mussten sehr viel regeln. Dann haben wir gemerkt, dass wir noch etwas zu sagen haben und die erste Platte gemacht. Also die Reunion-Platte. Kurz darauf haben wir auf der Rheinkultur in Bonn gespielt vor wahnsinnig vielen Leuten. Das war ein so unfassbar schönes Konzert. Wie gemalt. „Ohne Dich“ im Sonnenuntergang, mit Vollmond und alle singen mit. Wir dachten: Mann, dass wir das wieder hingekriegt haben und dass die Leute das noch mögen. Vor allem war ich auch nicht so getrieben wie früher und konnte das viel mehr wahrnehmen. Das war ein grossartiger Moment. Dass man vergeben kann und dass man selbst ausgehebelt wird. Wir waren mit uns im Reinen. Unglaublich schön.
Die Popularität, die ihr genießt, war für Selig ja eine Zeitlang Fluch und Segen zugleich. Unter anderem seid ihr ja auch daran zerbrochen. Geht ihr heute anders mit dem ganzen „Rockstar-Rummel“ um?
Christian Neander: Auf jeden Fall. Das waren so typische Rock’n’Roll-Klischees damals. Immer wilder und immer verwirrter. Keiner hat wirklich auf uns aufgepasst. Was wirklich gefehlt hat war jemand, der von außen sagt: Ihr seid alle wahnsinnig, ihr müsst jetzt mal ein Jahr Pause machen. Es war eher das Gegenteil. Man wurde immer weiter getrieben. Ich hatte immer den Eindruck, dass ich alles unter Kontrolle habe, aber das hatte ich schon längst nicht mehr. Heute respektiert man die anderen in der Band auch viel mehr für das, was sie sind. Mit allen Höhen und Tiefen und versucht nicht den noch zu verändern. Der Typ ist halt so und das ist auch toll, denn sonst würde er nicht so singen oder sonst würde er nicht so Bass spielen. Das Mediale dabei kratzt einen nicht mehr so sehr. Klar, das Herzblut ist immer noch das gleiche, aber es ist jetzt vielleicht ein anderes Selbstbewußtsein. Das eigene Ego ist auf jeden Fall besser in Betrieb als damals.
Was letztlich zählt ist ja die Musik. Und alles andere drumherum, so wie dieses Interview hier jetzt auch, gehört halt dazu.
Christian Neander: Ja genau. Man kann jetzt irgendwie besser damit umgehen. Interviews sind ja auch interessant, weil sie immer eine gute Möglichkeit sind zu erklären, was man eigentlich tut.
Mit diesem Wissen, dass ihr nun anders damit umgehen könnt und dass die Jungs in der Band halt so sind wie sie sind, würdest du euch heute eher als Freunde oder eher als Kollegen bezeichnen?
Christian Neander: Als Freunde. Es gab so viele Extremsituationen, die man zusammen durchlebt hat. Das ist schon sehr nah. Dafür bin ich sehr dankbar und das war auch ganz schön viel Arbeit, dass wir da hingekommen sind. Trotzdem können die natürlich auch mal nerven (lacht).
Kannst du dich überhaupt noch irgendwo unerkannt in der Öffentlichkeit bewegen? In Hamburg zum Beispiel stelle ich mir das eher schwierig vor.
Christian Neander: Also bei mir ist das entspannt. Ich werde eigentlich nur manchmal erkannt und dann meistens auch ganz nett. Es ist nicht so offensiv. Das ist überhaupt kein Stress. Ich empfinde das als angenehm und gleichzeitig auch irgendwie schräg. Klar, man ist gerne erfolgreich und schön wenn die Leute das mögen, aber dieses Erkennen kann auch mal geil sein. Als das anfing, war es schon irgendwie prickelnd, aber jetzt bin ich lieber ich.
Arbeitet ihr schon wieder an neuen Songs und wenn ja, kannst du schon sagen in welche Richtung die gehen werden?
Christian Neander: Wir haben neulich für diese paar Konzerte geprobt und waren dann irgendwie durch, hatten aber noch Zeit. Da haben wir einen echten Rausch gehabt und an einem Tag dreizehn Songideen aufgenommen. Das war echt wie im Rausch, fast schon manisch. Jan hatte Textfragmente und Ideen. Wir haben gejammt und hatten sehr schnell weitere Ideen. Wir wollen auf jeden Fall eine neue Platte machen und wollen uns aber auch Zeit dafür nehmen. Die soll schön werden. Und es ist jetzt ein bißchen auch so, dass wir einen Schlußstrich ziehen und gucken, wo es weiter hingeht. Richtungsmäßig kann ich dazu aber noch nichts Genaues sagen. Dafür sind noch zu viele Sachen offen. Es ist noch viel Forschung.
Nehmen wir mal an, du müsstest dich selbst interviewen. Welche Frage würdest du dir dann gerne stellen?
Christian Neander (lacht): Oh Gott! Die Frage ist schwer. Ich glaube die Antwort treibt gerade in meinem hohlen Schnupfenkopf ab. Da kriege ich leider nichts Schlaues zusammen.
Gut, dann streichen wir die Frage nach der Frage.
Christian Neander: Danke! Was mir aber noch einfällt ist, dass wir zu dem Best Of noch so ein Deluxe-Gedöns machen, was aber ein Fotoalbum ist. Das haben wir gestern abend noch durchgeguckt und weitere Fotos ausgewählt. Heute abend ist es fertig. Ich habe noch die ganzen alten Demos von der ersten Platte gefunden. Die sind da auch noch dabei und zwei Sachen, die wir damals nicht veröffentlicht haben. Es sind zwei CDs. Einmal „Die Besten“, wo die ganzen neu aufgenommenen Songs drauf sind. Und bei dem Fotobuch sind auch nochmal achtzehn oder neunzehn Demos dabei. Vielleicht ist das ja noch ganz interessant. Das hat voll Bock gebracht. Ich habe das alles durchforstet und da sind teilweise Vier-Spur-Aufnahmen dabei. Das war eine extreme Zeitreise.
Ich bin schon auf das Ergebnis gespannt. Erstmal danke ich dir für das nette Gespräch und wünsche dir gute Besserung und euch viel Spaß auf der anstehenden Tour.