Die Band Zinoba wurde Ende 2003 von den Selig-Mitgliedern Jan Plewka (Gesang) und Stephan Eggert (Schlagzeug) gegründet. Hinzu kam noch Marco Schmedtje an der Gitarre. Seitdem ist die Kollaboration zwischen Plewka und Schmedtje immer weiter gediehen und steht für intensive musikalische und emotionale Momente. In gemeinsamen Projekten haben sie Rio Reiser und Ton Steine Scherben ein Denkmal gesetzt – und auch Simon & Garfunkel, dem kultigen US-amerikanischen Folk-Rock-Duo. Dass ihnen auch die englische Sprache gut steht, beweisen sie jetzt mal wieder mit einem Coveralbum, das erstmals unter den Namen Plewka & Schmedtje erscheint: Auf „Between The 80s“ covert das Duo große Hits der 80er in einem ganz eigenen und intimen Soundgewand.
Die Auswahl der Stücke ist absolut hitparadenlastig. Man kennt sie alle in- und auswendig, hat sie schon tausend Mal im Radio gehört. Und doch machen Jan und Marco jeden Song zu etwas ganz Besonderem. Sie entkleiden die Originale und setzen sie mit sanften Klängen neu zusammen. Die in den 80ern so typischen elektronischen Spielereien weichen einer akustischen Ausrichtung.
„Smalltown Boy“ von Bronski Beat ist wie geschaffen für Plewkas charismatisch-lakonische Stimme. Allein zur Gitarre und mit zweistimmigen Vocals entfaltet der Song auch ohne Synthies eine wundervolle Atmosphäre. Totos „Africa“ startet wie das Original mit Naturgeräuschen und die akustische Gitarre macht einen echten Lagerfeuersong daraus. „Billie Jean“ mit Steel Gitarre und gezupften Akkorden? Das verändert Jacksons Stück extrem und führt es in eine ganz neue Richtung – gewöhnungsbedürftig aber nicht schlecht. Das Retro-Tanz-Video verleiht ihm dazu den nötigen Glanz.
Weiter geht es durch die Hitliste der 80er und man findet eine Reihe von Highlights. „Forever Young“ funktioniert auch mit Jans Melancholie. „The Power of Love“ lädt zum verträumten Zurücklehnen ein. „The Wild Boys“ (Duran Duran) bekommt einen sehr beschwingten und tanzbaren Drive. Die Smashhits „Hello“ und „Drive“ passen gut zusammen und vor allem das Letztere gefällt mir in seinem zweistimmigen Satz. Zu „Let’s Dance“ legt Jan Plewka eine sanfte Energie in den Song, die auch David Bowie zur Ehre gereicht hätte.
„Between the 80s“ ist eine Sammlung aus durchweg höchst erfolgreichen Songs – man darf sagen: Klassikern – allesamt mehr als dreißig Jahre alt, die das Duo komplett neu und auf seine ganz eigene Weise interpretiert. Das Ergebnis ist ein sehr homogenes Album mit Gitarre und Gesang, wie geschaffen fürs Lagerfeuer und den herbstlichen Kamin.
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Ursprünglich sollte das neue Album von Selig bereits Mitte Oktober des vergangenen Jahres erscheinen. Anfang Mai nahm Jan Plewka am VOX-Konzept „Sing meinen Song – das Tauschkonzert“ teil und präsentierte in diesem Rahmen zusammen mit Christian Neander die erste Single „Alles ist so“, ein klares Statement gegen den Klimawandel. Im Anschluss entstand die Dokumentation „Selig-Story“, in der Jan Plewka den Weg seiner Band Revue passieren ließ und berichtete, wie sie sich trennte, nach zehn Jahren wieder zusammenfand und welche Rolle seine Frau dabei spielte. Selig arbeiteten mit ihrem langjährigen Weggefährten Franz Plasa in den Hamburger HOME-Studios fleißig an der endgültigen Fertigstellung des Albums und alles schien gut.
Im September informierte das Label dann über eine Verschiebung der Veröffentlichung in den März 2021. Nicht weiter schlimm, Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude. Die Wartezeit überbrückte die Band mit einer vier Songs starken „Live Takes“-EP. Im Wochentakt präsentierten Selig einen neuen Song nebst Video. Zusammen erzählen die vier Clips eine gemeinsame Geschichte, denn jeder von ihnen folgt einem der vier Bandmitglieder. Wir beobachten Jan Plewka in einem Hotelzimmer, wie er an Liebeskummer leidet, treffen Schlagzeuger Stephan „Stoppel“ Eggert im Weinladen, begleiten Gitarrist Christian Neander auf seinem Weg über die Berliner Oberbaumbrücke und lassen uns von Bassist Leo Schmidthals mit auf eine psychedelische Reise nehmen.
Nun hat die Wartezeit endlich ein Ende. „Myriaden“, das achte Studioalbum des Hamburger Quartetts, darf in das Licht dieser aus den Fugen geratenen Welt blinzeln. Kein Wunder, dass sich ein starker gesellschafts- und klimapolitischer Ansatz wie ein roter Faden durch die Texte zieht, den Jan Plewka so erklärt: „Wir haben Briefe an die Regierung geschrieben, sind aufgetreten, als Berlin blockiert wurde, und gehen eigentlich zu jeder Fridays-for-Future-Demo. Als wir dann mit der Arbeit an dem Album begannen, ging es in unserem Proberaum kaum um andere Themen als die Klimakatastrophe und den aufkommenden Faschismus“. Auch der Albumtitel kann als deutlicher Hinweis auf die Adressaten dieser Themen interpretiert werden. Myriaden kommt aus dem altgriechischen und steht meist für eine unzählbare Menge. Die Myriade hält sich aber auch in Metaphern wie „die oberen Zehntausend“.
Zwei Jahre lang haben Selig an dem Album geschrieben. Am Ende hatten sich 96 Songs, Ideen und Skizzen angesammelt, von denen es Zwölf auf „Myriaden“ geschafft haben. Die bisherigen Singleauskopplungen ließen bereits erahnen, dass sich die Band musikalisch dabei auf durchaus ungewohntes Terrain wagt. Gleich zu Beginn wirft der Opener „Süßer Vogel“ einen beschwingten Rückblick auf eine sorglose Jugendzeit. Das Stück versprüht ein wenig ZDF-Hitparaden-Flair (was nicht despektierlich gemeint ist). Es folgt das beschwörende und düstere „Alles ist so“ mit einem allerdings hoffnungsvollen, fast schon euphorischen Ausklang. Der wunderschöne Titelsong beginnt eher verhalten und schwingt dann das Tanzbein, bevor es mit „Spacetaxi“ erstmals gewöhnungsbedürftig wird. Das Stück ist… nun ja, spacig und erinnert an die (Vorsicht! Wortspiel!) seligen NDW-Zeiten Anfang der 1980er Jahre.
„SMS K.O.“ ist dagegen eher unspektakulär, bevor „Angesicht zu Angesicht“ jede Menge Flitter, Drama und Bombast bietet. In „Selig“ ist die Band erstmals komplett von der Leine gelassen und zelebriert dreckigsten Rock mit Punkeinschlag. Wenn wir wieder auf Konzerte gehen dürfen, dann werden wir bei diesem Stück schwitzen, gröhlen und unser Bier auf Ex trinken. Selig sei der Augenblick! „Paradies im Traumrausch“ blubbert so psychedelisch vor sich hin wie eine Lava-Lampe. „Postkarte“ weckt Erinnerungen an den Selig-Klassiker „Regenbogenleicht“, inklusive Vinylgeknister und einem Traum aus Gitarre, Geige und Cello. Es folgt der vielleicht einzige typische Selig-Song auf dem gesamten Album: „So lang gewartet“, ein hymnisches Stück Popmusik. „Zeitlupenzeit“ kommt als fluffig-leichter Kopfnicker um die Ecke, bevor „Du“ den Albumreigen beschließt. Eine Ode an die Liebe, die nur etwas durch den Peter Maffay-Gedächtnisrefrain geschmälert wird. Im Ergebnis ist „Myriaden“ ein überaus abwechslungsreiches und spannendes Album, mit dem die Hardcore-Fans jedoch vermutlich erstmal Berührungsängste haben werden.
Textlich geht Jan Plewka dabei gewohnt in die Tiefe: „Es geht wieder mal um alles: um Planeten, Displays, unendliche Weiten, Reisen in den Space, die Sicht von oben, Weiblichkeit, mystische Geschichten, Nostalgie, Gedenken an die, die von uns gegangen sind, und darum, den Augenblick zu sehen. Und natürlich geht es auch um die Höhen und Tiefen der Liebe.“ „Myriaden“ ist ein Aufruf für mehr Engagement, aber auch für mehr Empathie und Miteinander. Es ist politisch und gleichzeitig so menschlich, wie es auch Selig schon immer waren. Die Band benennt zwar klar und deutlich, was ihr gegen den Strich geht, aber das Album kommt dabei nicht wütend oder gar resigniert rüber. Denn es schwingt immer die Hippie-Hoffnung mit, dass wir das Ruder noch herumreißen können.
25 Jahre nach ihrem selbstbetitelten und mit einer Gold-Auszeichnung dekorierten Debütalbum haben Selig befreundete Musiker gebeten, ihre Songs von damals neu zu arrangieren. Es gab keinerlei Vorgaben. Das Ergebnis hört auf den schönen Namen „Selig macht Selig“ und klingt mal laut, mal leise, wurde mal alleine und mal zusammen mit Selig aufgenommen. So entstanden vierzehn Songs zwischen Electronic, Pop und Rock und eine Lesung. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es dabei nur Gewinner, auch wenn die Stücke im Original natürlich immer noch am besten rüberkommen. Warum mit „Tina“, „Ja“, „Frei“, „Meinetwegen“ und „Fadensonnen“ allerdings gleich fünf Stücke ausgespart wurden, muss mir nochmal jemand erklären.
Vielleicht liegt es daran, dass Jan Plewka, Christian Neander, Leo Schmidhals und Stephan Eggert ihr Vorhaben, ausschließlich Lieder von ihrem Debütalbum interpretieren zu lassen, im Laufe der Zeit über Bord warfen. So darf sich Pohlmann an „Bruderlos“ vom zweiten Selig-Album „Hier“ versuchen. Zum Glück will er nicht originell sein, sondern nimmt den Song so wie er ist: schmerzhaft. Ebenfalls von „Hier“ stammt „Ist es wichtig“, das Lisa Who zu einem sparsamen Trommelmarsch umfunktioniert. Im Gegensatz dazu verhunzt Johannes Oerding „Sie zieht aus“ vom dritten Album „Blender“ zu einem dahinplätschernden Sing-A-Long, das zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus tropft. Immerhin bleibt er damit seinem eigenen Stil treu. Und schließlich wird „Die alte Zeit zurück“ vom Comeback-Album „Und endlich unendlich“, gelesen von Benjamin von Stuckrad-Barre, zur Kurzgeschichte. Eine durchaus ungewöhnliche Variante der Bitte von Selig zu entsprechen.
Davor und dazwischen gibt es einen bunten Reigen an Neuinterpretationen, die überwiegend mehr aber auch mal weniger überzeugen. Madsen machen den Anfang mit „Wenn ich wollte“ und lassen es einfach krachen. Punkt. Die von mir sehr verehrten Emma6 tun so, als wäre „Hey, Hey, Hey“ schon immer ihr Song gewesen und verleihen ihm eine wunderbar leichte Melancholie. Wilhelmine lässt in „Mädchen auf dem Dach“ Ulla Meinecke wieder auferstehen und dürfte Selig damit eine besondere Freude gemacht haben. Danach schleppt sich Philipp Poisel leider durch „Ohne Dich“ und raubt dem Stück jede (plewkaeske) Dramatik. Sehr lustig ist hingegen das Duett von Olli Schulz und Jan Plewka in „Die Besten“. Die Idee, nicht ganz ernst zu erzählen, wie sich die beiden nach 20 Jahren zufällig in einer Bar treffen, kam Olli Schulz spontan und so ist das verdutzte Gestammel von Jan Plewka auf die bohrenden Fragen tatsächlich echt.
Wolfgang Niedecken macht das, was er am besten kann und singt „Glaub mir“ auf Kölsch (unter hochdeutscher Mitwirkung von Jan Plewka) und als Blues. Das Pack gräbt die Grunge-Wurzeln von Selig aus und lässt „High“ zu einem fetten Rocker mutieren. Auch die 17 Hippies machen ihrem Namen alle Ehre und verwandeln „Regenbogenleicht“ unter dem Einsatz von Ziehharmonika und Posaune zu einem geheimnisvollen, flüsternden Schunkelsong. Pictures bewegen sich bei „Sie hat geschrien“ ganz nah am Original und überzeugen mit einer fröhlichen Mittanznummer. Dass sie damit alles richtig machen zeigt der ebenfalls vertretene Remix-Versuch des gleichen Stückes durch Milliarden, der nicht nur schräg sondern einfach nur furchtbar ist und mit dem Original ungefähr soviel zu tun hat wie die AfD mit Demokratie. Nämlich gar nichts. Bleibt zum Abschluss noch die Live-Version von „Die Besten“ aus dem Hamburger Grünspan durch Selig höchstselbst.
„Selig macht Selig“ ist trotz ein paar Schwächen eine Zusammenstellung geworden, die Spass macht. Den Hörern genauso wie den beteiligten Musikern. Und so war es wohl auch gemeint. Als kleines Dankeschön an die Fans und als Reminiszenz an ein Album, das die deutsche Musikszene bis heute maßgeblich geprägt hat. Olli Schulz bringt es auf den Punkt: „Mit Selig verbinde ich die glorreichen Neunziger, als diese Band es als erste deutsche Band geschafft hat, so ein Grungegefühl zu vermitteln, sogar mit deutschsprachigen Texten. Das hat davor glaube ich keiner gemacht und auch danach niemand mehr so richtig hinbekommen. Außerdem war ich wahnsinnig genervt, dass alle Frauen damals Jan Plewka geil fanden!“.
Jetzt gilt es wieder nach vorne zu schauen. Noch in diesem Jahr soll das achte Album von Selig erscheinen. Ab Mitte März geht die Band auf „Selig macht Selig“-Tour – inklusive dem einen oder anderen musikalischen Gast natürlich. Und ab April ist Jan Plewka in der VOX-Show „Sing meinen Song“ zu sehen. Freuen wir uns also auf viele weitere Jahre mit Selig – warum nicht nochmal 25?
Selig nehmen uns auf ihrem letzten Konzert diesen Jahres mit auf eine Reise ins Jahr 1994 – dem Jahr, in dem „Selig“, das erste Album der Band, entstanden ist. Dieser Abend markiert aber nicht nur das Ende des 25-jährigen „Selig“-Jubiläums, sondern auch den Abschluss des 2. Rheinbühne-Festivals.
Die von den Veranstalter*innen ausgewählte Location war mir bis dato kein Begriff, doch sie gefällt mir wirklich gut. Die Atmosphäre ist wunderbar familiär, alle sind entspannt und scheinen sich auf einen gemütlichen Abend mit Selig und ihren Freund*innen zu freuen. Die familiäre Atmosphäre wird nochmal über die persönliche Ansprache inklusive Dankesworte von einem der beiden Veranstalter*innen verstärkt. Wie es so oft bei Konzerten ist, steht und fällt alles mit dem Publikum. Ich muss sagen, dass die knapp 600 Zuschauer*innen allesamt wie eingefleischte Selig-Fans erscheinen: So ein textsicheres Publikum habe ich selten erlebt. Wie vorher einstudiert wechseln Jan Plewka und das Publikum sich ab, sodass ein wunderschönes Gesangsgemälde entsteht.
Schon beim Opener „Sie hat geschrien“ wird das Tanzbein geschwungen und lauthals mitgesungen. So macht ein Konzertbeginn besonders Spaß! Jan Plewka lässt die Fans am Schreibprozess von „Das Mädchen auf dem Dach“ teilhaben, welches Anfang der 1990er Jahre auf dem Dach von Christian Neander entstand – mit diesem Wissen hat das Lied gleich eine ganz andere Energie. Vor „Ohne dich“ stellen wir uns gemeinsam vor, unsere imaginäre Schallplatte herumzudrehen und die B-Seite aufzulegen. Bevor das gesamte Publikum mit „lauten und offenen Herzen“, wie Jan Plewka es ausdrückt, jedes einzelne Wort des Songs in den Abend singt, erzählt die Band, dass sie sich über die Titelreihenfolge auf ihrem ersten Album so sehr gestritten haben, dass sie sich fast getrennt hätten. Ich muss sagen, ich bin wirklich froh, dass es dazu nicht gekommen ist! Wie immer hat Selig es auch an diesem Abend mühelos geschafft, das Publikum bei „Wenn ich wollte“ tanzen und bei „Regenbogenleicht“ ganz leise sein zu lassen. Wir sind also nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch verschiedene Gefühlszustände gereist.
Bis zu diesem Punkt war die Setlist klar; „Selig“ wurde chronologisch abgearbeitet. Nach unserem musikalischen Ausflug durch ihr erstes Album, beglücken uns Selig mit ein paar neueren Stücken. Meine Tränen bei „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ sind dabei wie immer ein Muss. Und wie schon so oft habe ich auch heute Abend wieder festgestellt, dass „Ist es wichtig“ zu meinen absoluten Live-Favoriten gehört. Das Konzert endet untypischerweise nicht mit „Wir werden uns wiedersehen“, denn das ist der vorletzte Song und der hat das Publikum noch einmal richtig aufgeweckt.
Mit dem Schlusslied „Fadensonnen“ kommen wir auf unserer Zeitreise endgültig im Hier und Jetzt an und schließen gleichzeitig den Kreis, da „Fadensonnen“ auch der letzte Song auf „Selig“ ist. Jan Plewka leitet den Song mit den Worten „Wie kann es sein, dass unsere Kinder auf die Straße gehen müssen? Wo sind wir?“ ein und macht auf den Klimastreik am 20.09.2019 aufmerksam. Die Band spannt ein Transparent auf der Bühne auf und ruft zu einer friedlichen, antitoxischen und grenzenlosen Revolution für das Klima auf. Mein Herz schlägt höher! Wir singen „Fadensonnen“ für unseren Planeten, stellen uns vor, wir wären die letzten, die noch hier sind, während alle anderen schon auf dem Weg zu einem Planeten B sind (wie auch immer sie den gefunden haben…). Mein Lieblingssatz des Abends ist in dem Zusammenhang auf jeden Fall „Lasst euch von diesem Plastikzwang nicht einzwängen.“ Okay, Jan, ich bin dabei: „Lasst uns die Welt retten – jetzt!“
Und weil sie nicht nur wunderschön poetische Musik, sondern auch auf wichtige politische Themen aufmerksam machen, mag ich Selig so. Wie schön, dass sie ewig weitermachen wollen, wie sie heute Abend sagen. Und wir können uns freuen, denn sie werden sich nun (vor ihrer Tour „Selig macht Selig“ ab März 2020) nach Dänemark zurückziehen und ein neues Album aufnehmen – wir bleiben gespannt und wie immer auch ein bisschen selig.
1993 werden Selig in Hamburg von Jan Plewka, Gitarrist Christian Neander, Leo Schmidthals am Bass, Schlagzeuger Stephan „Stoppel“ Eggert und dem inzwischen ausgeschiedenen Keyboarder Malte Neumann gegründet. Noch im gleichen Jahr erhält die Band einen Plattenvertrag bei Epic/Sony Music und nimmt anschließend zusammen mit dem Produzenten Franz Plasa ihr erstes Album „Selig“ auf, das im März 1994 erscheint und es auf Platz 35 der deutschen Album-Charts schafft. In Österreich belegt das Album sogar Platz 12. Für das Video der zweiten Single „Wenn ich wollte“ wird Selig im Februar 1995 ein Echo verliehen. Mit über 200.000 verkauften Exemplaren zählt „Selig“ zu den wichtigsten deutschsprachigen Alben seiner Zeit. Damals gilt das Quintett als die deutsche Antwort auf den Grunge. Die Band selbst bezeichnet ihren Stil als „Hippie-Metal“. Der Rest ist bekannt. Es folgen zwei weitere Alben und im Januar 1999 die Auflösung. Zehn Jahre später gelingt Selig mit „Und endlich unendlich“ ein triumphales Comeback.
In diesem Jahr feiert das selbstbetitelte Debütalbum also seinen 25. Geburtstag. Grund genug für eine kleine aber feine Jubiläumstour unter dem Motto „Selig spielt Selig“. Auch nach zweieinhalb Jahrzehnten klingt die Platte kein bisschen angestaubt und hat mit „Ohne dich“ einen Song hervorgebracht, der die Streaming- und Klickzahlen von Selig in der digitalen Welt anführt. Köln markiert heute den Tourauftakt und natürlich ist das Konzert restlos ausverkauft. Das altehrwürdige Bürgerhaus Stollwerck ist mit mehr als 500 Fans pickepacke voll. Selig lassen sich auch nicht lange bitten und starten – erfreulicherweise ohne Vorgruppe – fast pünktlich um kurz nach 20 Uhr mit „Sie hat geschrien“ in ihr Set. Die Lightshow ist sparsam, um nicht zu sagen oldschool, nur der Sound bleibt den ganzen Abend über etwas matschig. Hier zählen aber heute ohnehin nur die Songs und die werden von der Band mit einer unbändigen Spielfreude zelebriert und von den Kölnern vom ersten Ton an abgefeiert und mitgesungen. Jan Plewka ist der sympathische Zampano auf der Bühne, witzelt mit seinen Bandkollegen, rudert mit den Armen, tanzt, hüpft und ist… wie soll ich sagen?… wie immer herrlich plewkaesk.
Die Band spielt „Selig“ in chronologischer Reihenfolge. Zwischendurch erinnert Jan Plewka nochmal an das Jahr 1994, als es noch die Popkomm gab und dafür kein Internet. Um den Abend möglichst authentisch zu gestalten bittet er die Fans ihre Handys in der Tasche zu lassen (woran sich der Großteil auch hält). Er spricht über die Liebe, Empathie und dass wir all die positiven Emotionen mit nach draußen tragen sollen um unsere Stadt schöner zu machen. Da ist er beim von der Schönheit seiner Stadt restlos überzeugten Kölner Anhang natürlich genau an der richtigen Adresse. Das Bürgerhaus Stollwerck jubelt, singt, klatscht, tanzt und schwitzt sich durch die ersten 75 Minuten, die mit „Sie hat geschrien“ begonnen haben und mit „Meinetwegen“ enden. Zwischendurch erinnert Jan Plewka vor „Ja“ daran, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem man früher die Vinyl-Scheibe umdrehen und die Nadel des Plattenspielers wieder in die knisternde Rille senken musste. Welch wunderbare Nostalgie.
Im Zugabenblock katapultieren sich Selig zurück in die Neuzeit. Stammt „Ist es wichtig?“ noch vom zweiten Album „Hier“ von 1995, so repräsentieren „Schau Schau“, „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ und „Wir werden uns wiedersehen“ die Zeit nach der Wiedervereinigung. Jan Plewka dirigiert dazu einen 500 Stimmen starken Chor. Nach 110 Minuten endet der viel zu kurze Abend dann mit einem weiteren Lied von „Selig“. „Fadensonnen“ ist der ebenso ruhige wie ungewöhnliche Ausklang eines ansonsten lauten, erinnerungsschwangeren und gefühlsduseligen Abends, an dem viel gelacht und manchmal auch geweint wurde. Wer jetzt Lust auf eine emotionale Achterbahnfahrt mit Selig bekommen hat, der sollte sich schnellstens sein Ticket für eines der noch folgenden Konzerte sichern:
30.04.2019 – München, Strom
02.05.2019 – Wien, Chelsea
03.05.2019 – Erlangen, E-Werk
05.05.2019 – Reutlingen, Kulturzentrum franz.K
07.05.2019 – Berlin, Heimathafen
09.05.2019 – Dresden, Beatpol
10.05.2019 – Leipzig, Anker
11.05.2019 – Wolfsburg, Schwimmbad
12.05.2019 – Hamburg, Markthalle
28.05.2019 – Haldern, Haldern Pop Bar
29.05.2019 – Worpswede, 25 Jahre Music Hall
30.05.2019 – Düsseldorf, Weltkunstzimmer @Goldmucke Festival
31.05.2019 – Hallig Langeness, Kultur auf den Halligen
Heute ist Record Store Day. Grund genug, sich mal wieder seiner Vinyl-Sammlung zuzuwenden. Und sie zu erweitern! Wer hätte in den 90er Jahren gedacht, dass es irgendwann eine solche Renaissance der altbekannten Schallplatte geben wird? Anfang des Jahrtausends musste ich meinen Kindern erklären, wozu dieses seltsame Gerät mit Tonarm und Nadel gut ist. Heute scheinen sich die Generationen fast zu spalten: Auf der einen Seite regieren Playlists und einzelne gehypte Songs, auf der anderen Seite erfahren die klassischen Alben ein Comeback. Und genau hier setzt das Vinyl mit seinem warmen Klang an. Wer vorsichtig eine Hülle öffnet und die schwarze Scheibe entnimmt, kann einfach nur nostalgische Gefühle bekommen. Und die Schönheit eines Covers entfaltet sich am besten in der Größe, für die es gedacht war.
Die Nachfrage nach Vinyl steigt seit Jahren wieder stetig und während mancher diesen Trend noch bis vor einiger Zeit als kurzfristigen Hype abgetan hat, ist heute klar, dass es wieder ein festes Fundament an Interessenten gibt. Inzwischen gibt es für Sammler aber auch unzählige Varianten an bunten Vinyl-Ausgaben teilweise nummeriert und limitiert oder mit Bonustiteln. Das einstige Massenprodukt Schallplatte avancierte zum modernen Luxusgut.
Dem Wunsch nach einem vielfältigen preislich attraktiven Angebot und weiteren Wiederveröffentlichungen trägt die neue Serie „Original Vinyl Classics“ Rechnung. Echte Hit-Klassiker aus verschiedenen Dekaden sprechen alle aktuellen Schallplattenliebhaber an. Die Jüngeren, deren Favoriten bisher nie in Vinyl gepresst wurden, ebenso wie diejenigen, deren Lieblingsalben zwar einst auf dem Plattenteller lagen, jedoch seit Jahren vom Markt verschwunden sind.
Die erste „Original Vinyl Classics“-Reihe von Sony Music bietet folgende Alben:
Nina Hagen: „Nina Hagen Band“ (1978) und „unbehagen“ (1979)
Spliff: „85555“ (Frühjahr 1982) und Herzlichen Glückwunsch (Herbst 1982)
Falco: Junge Roemer (1984) und „Falco 3“ (1985)
Guano Apes: “Don’t Give Me Names” (2000) und “Walking On a Thin Line” (2003)
Oomph: „Wahrheit oder Pflicht“ (2004) und „GlaubeLiebeTod“ (2006)
Witt: „Bayreuth Eins“ (1998) und „Bayreuth Zwei“ (2000)
Selig: „Selig“ (1994) und „Hier“ (1995)
Running Wild: ”The Rivalry” (1998) und “Victory” (2000)
Apocalyptica: „Worlds Collide“ (2007) und „7th Symphony“ (2010)
FAR Corporation: “Division One“ (1985) und „Solitude“ (1994)
Lake: ”Lake“ (1976) und „Lake II“ (1978)
Das Design der Platten ist einfach gehalten. Das ist der Idee geschuldet, dass sie recht günstig zu haben sein sollen. Bei jeder Doppel-LP gibt es ein neues Cover, das sich sehr am Künstler orientiert. Auf der Innenseite gibt es dann die Original-Album-Cover. Zudem sind die Überspielungen bearbeitet und den heutigen technischen Möglichkeiten angepasst. Eine gelungene Kombination für alle Musikliebhaber von heute.
Vier Jahre nach ihrem letzten Studioalbum „Magma“ haben sich Selig Anfang November mit „Kashmir Karma“ auf dem Musikradar zurückgemeldet. In den Neunzigern galten die Hamburger als einzige ernstzunehmende deutschsprachige Alternative zu Grunge-Helden wie Nirvana oder Pearl Jam. Auf „Kashmir Karma“ kehren sie zu ihren musikalischen Wurzeln zurück. Das Album wurde in der Abgeschiedenheit der schwedischen Westküste aufgenommen und schließt den Kreis zu früheren Werken wie „Hier“ oder „Blender“. Einerseits inspiriert von der unberührten Natur, andererseits von dem aufgewühlten Zustand, in dem sich die Welt gegenwärtig befindet.
„Kashmir Karma“ steht deswegen vielleicht auch ein Stück weit sinnbildlich für die bewegte Geschichte der Band. Die als Newcomer direkt mächtig durchstartete, drei Hammeralben rausbrachte, sich eine zehnjährige Pause gönnte und dann ebenso fulminant mit dem nächsten Album in den Zweitausendern zurückkehrte – um sich dabei ganz nebenbei selbst neu zu erfinden. Auf der aktuellen Tour gibt es deshalb nicht nur Neues auf die Ohren, sondern auch Songs aus zwanzig Jahren bewegter Bandgeschichte.
Musicheadquarter-Chefredakteur Thomas Kröll traf Jan Plewka, Lenard „Leo“ Schmidthals, Christian Neander und Stephan „Stoppel“ Eggert vor ihrem Konzert in der Kölner Live Music Hall zu einem ausführlichen Interview über die Tour, das neue Album, die Zeit in Schweden oder die Suche nach einer Plattenfirma.
Selfie mit Selig (Foto: Jan Plewka)
Erstmal willkommen in Köln. Ich war vorgestern auch bei eurem Konzert in Essen und da habt ihr das neue Album „Kashmir Karma“ komplett durchgespielt.
Christian: Wir spielen das die ganze Tour komplett durch.
Stephan: Wir konnten einfach nichts aussortieren. Wir haben versucht da irgendwas wegzulassen, aber bei den Proben haben wir dann festgestellt, dass das alles zu viel Spass macht. Wir muten den Leuten das jetzt einfach mal zu lauter neue Songs zu hören.
Dafür hat es ja schon super funktioniert.
Christian: Ja, erstaunlich. Auch gestern in Frankfurt haben extrem viele die neuen Songs mitgesungen. Was man jetzt nicht so erwarten musste. Aber es macht auch so einen Bock, weil das ist eine gute Challenge die neuen Sachen zu spielen. Es ist irgendwie so befruchtend und aufregend.
Das neue Album habt ihr in Schweden aufgenommen. Ich nehme an ihr seid nicht wegen Ronja Räubertochter nach Schweden gefahren. Warum also gerade Schweden?
Jan: Da ist die Ruhe eine andere. Man kommt besser zu sich und kann sich besser konzentrieren. Im Nichts war das eigentlich. Auf einem Felsen. In so einer kleinen Hütte. Da konnte man sich dem ganzen Trubel entziehen und sehen wer wir sind, wieder zurück zu unserem Wesen kommen, zu unserem Mittelpunkt der Band. Und jetzt im urbanen Wahnsinn, wo hier ein Club ist und da eine Kneipe, da hätten wir das nicht gefunden. Wir sind richtig so in buddhistischer Ruhe zurückgekehrt.
Christian: Das war auch eine Art Neuanfang. Wir hätten auch in Berlin oder Hamburg arbeiten können, wollten uns aber so richtig zurückziehen. Dann kam Jan’s Frau auf die Idee: Fahrt doch in das Haus. Das war die beste Idee der letzten zehn Jahre. (alle lachen)
Jan: Die beste Idee der Menschheit eigentlich.
Christian: Wir wussten selbst nicht was passiert. Das Best Of war irgendwie ein Abschluss für die Reunion und Malte (Neumann, d.Red.), unser Keyboarder, ist nicht mehr dabei. Es war ein Neuanfang und dafür war das ideal. Wir sind dahin gefahren um Songs zu schreiben, hatten ein bisschen Aufnahmezeugs mit, aber einfach nur zum Dokumentieren. Wir sind ganz viel spazieren gegangen und haben gemeinsam die ersten Songs geschrieben und auch gleich aufgenommen. Irgendwann keimte dann der Gedanke auf: Ey, ist das die Produktion? Das kriegen wir doch nie wieder so hin, diese Aufregung des ersten Mal. Und dann sind wir mit den Aufnahmen nach Hause und haben einen befreundeten Mischer, der auch schon zwei Alben für uns gemischt hat, Michael Ilbert, gefragt: Hast du Lust auf ein lustiges Schweden-Projekt? Wir haben ihm die Sachen vorgespielt und er hat gesagt: Yes I can do it. Let me try.
Leo: Wir wussten natürlich, dass die Aufnahmen auch schon speziell sind, aber er hat das sofort verstanden. Er war fast wie ein fünftes Bandmitglied. Das entstand auch so sukzessiv. Da waren diese ersten zehn Tage und dann war noch gar nicht klar, dass wir da nochmal hinfahren. Ich weiß noch wie wir das dann den Familien zuhause erzählt haben, dass wir da jetzt nochmal hin müssen. Dann sind wir ein zweites Mal dahin und noch ein drittes und noch ein viertes Mal.
Christian: Als das dann so klar war, dass das der Prozess ist und dass es funktioniert, war das schon geil. Wir waren ja auch noch völlig vogelfrei. Kein Management, kein Deal. Und dann sind wir mit den Aufnahmen zu Plattenfirmen gegangen, um mal zu gucken was die sagen. Wir waren so vollkommen euphorisiert von unserer Kommune da. Ist uns alles egal, wir finden es mega geil. Also so glücklich wie noch nie. Wir waren dann bei fünf Plattenfirmen und es war auch so spannend wie das dann auf den Anlagen klingt und was die dazu sagen. Danach hatten wir vier Angebote und konnten in Ruhe gucken, wer das so am besten versteht.
Ich stelle mir vor, dass doch jede Plattenfirma ja sagt wenn Selig kommt, oder?
Stephan: Es hätte ja alles passieren können. Die Leute hätten ja genauso gut sagen können: Hey, das ist nicht zeitgemäß, die Musik geht gerade überhaupt nicht. Oder ihr seid zu alt oder so. Aber wir sind da total offene Türen eingerannt. Die waren schier aus dem Häuschen. Das war toll.
Leo: Die hatten auch alle so Blätter in der Hand. Das war echt interessant.
Blankoverträge?
(alle lachen)
Leo: Nee, so wieviel Googleanfragen, wieviel Facebookfreunde, wieviel Verkäufe. Also man ist da echt ein gläserner Mensch. Das war echt irre. Die waren alle gut vorbereitet. Zum Glück haben aber viele Leute gesucht und bei Youtube wurde das auch geklickt. Das wussten die halt.
Jan: Aber wir wissen jetzt auch einiges über Sony. Es war ein Austausch, ein Geben und Nehmen. (lacht)
Christian: Dann war Willy Ehmann, der Chef von Sony, beim Konzert in Frankfurt. Und wir haben ihm gesagt: So, wir wissen alles über dich. (grosses Gelächter)
Das neue Album klingt weniger glattgebügelt als „Magma“, obwohl ich „Magma“ auch mag. Es hat mehr Ecken und Kanten und ist ein bißchen rauer. Es klingt so als hättet ihr es ausgeschwitzt. Das war ja ein Prozeß, vielleicht auch nicht immer einfach. Man musste sich irgendwie finden. Ihr habt es ja schon beschrieben. Jan hat beim Konzert in Essen gesagt, dass euch zuerst gar nichts einfiel.
Leo: Das stimmt nicht so ganz. Eigentlich war es echt super. Wir kamen an und haben aufgebaut und es waren so glückliche Zufälle. Also erstmal klang dieser Raum total gut. Dann waren die Instrumente, die wir uns geliehen haben, ideal. Und wir waren auch einfach in einer super Laune. Wir waren wie aufgeregte Jungs. Es ging eigentlich gleich am ersten Abend los. Wir wollten das auch pur machen. Wir sind halt eine Rockband. Das stimmt schon mit „Magma“. Da war ja Steve Power Produzent. Ein super Typ. Wir hatten eine super Zeit in England und auch so einen kleinen Radiohit. Aber es ist halt ein Pop-Produzent. Wir sind aber eigentlich viel rockiger. „Alles auf einmal“ ist super und die „Magma“-Platte ist toll, aber es war schon bewusst so, dass wir wieder zurück zu unseren Wurzeln wollten.
Ich finde auf jeden Fall, dass „Kashmir Karma“ sehr authentisch und ehrlich klingt. Und auch sehr abwechslungsreich. „DJ“ zum Beispiel kommt eher esoterisch rüber, „Feuer und Wasser“ rockt, „Lebenselixier“ ist so eine fröhliche Mitklatschnummer und „Kashmir Karma“ hätte auch von Alice In Chains oder Soundgarden sein können. Ich brauchte ein wenig um mich damit anzufreunden, aber meistens sind ja im Nachhinein die Alben die besten, die erst mit Verzögerung zünden. Würdet ihr mir zustimmen, wenn ich sage „Kashmir Karma“ ist das beste Selig-Album aller Zeiten?
Christian: Ja, irgendwie ja. Also die Nähe, die wir da zu Viert haben, die haben wir vielleicht noch nie erreicht. Das erste Album ist natürlich auch super stark, aber der Entstehungsprozess von „Kashmir Karma“ und dieses Gemeinsame, das man auch hört, das ist schon echt sehr nah.
Jan: Ich würde sagen, es ist mal wieder das beste Selig-Album aller Zeiten. (alle lachen)
Leo: Es ist halt echt ein Album. Wir haben es selber so oft gehört und so lange gehadert mit der Reihenfolge. Heute ist ja alles so ein Trackbusiness. Da gibt’s dann eine Single und der Rest des Albums ist so naja. Auf „Kashmir Karma“ hat jedes Stück seine eigene Atmosphäre. Das ist wie ein Poesiealbum oder wie ein Fotoalbum. Ich schlage die nächste Seite auf und da kommen andere Erinnerungen oder Bilder. Wenn man das so durchhört dann hat das auch eine Dramaturgie. Jan hat mal gesagt: Elf Stufen zur Seligwerdung.
Jan: Was wir dieses Mal echt vergessen haben ist ein Hidden Track. Das haben wir noch nie vergessen. Oder? Auf der „Magma“ ist auch kein Hidden Track. Irgendwann haben wir aufgehört Hidden Tracks zu machen.
Leo: Wir waren diesmal auch mutiger, glaube ich. Wir haben uns selber die „Hier“-Platte nochmal angehört und gedacht: Wow, das ist irgendwie gut als wir uns um nix gekümmert haben und das gemacht haben was wir wollten. „Unsterblich“ war zum Beispiel eine Session.
Stephan: Die konnten wir erst nicht nehmen. Bei den Aufnahmen hatte es irgendwelche technischen Ungereimtheiten gegeben. Das fanden wir schade. Und dann haben wir echt versucht das nachzuturnen. Das ist immer schwierig. Bis wir gesagt haben: Okay, das ist jetzt so nah dran, das können wir nehmen.
„Kashmir Karma“ erschien am 03.11.2017 bei Sony Music.
Das Intro zu „Zu bequem“ klingt auch so als hätte es jemand mit einem Kassettenrecorder aufgenommen.
Christian: Die erste Strophe ist tatsächlich eine iPhone-Aufnahme. Wir hatten halt diesen Fetzen, den wir so abgefeiert haben. Was machen wir nun damit? Dann kam Jan und hatte noch mehr Text. Dann war halt die Idee damit anzufangen und dann weiter zu bauen. So haben wir daran rumgedoktert und einen Abend ganz schreckliche stinkende Bluesrock-Kacke gemacht. Ganz furchtbar.
Leo: Aber an demselben Abend hat Christian durch Zufall noch so einen Treter gedrückt. Das war spät Abends. Da ging plötzlich dieses Pedal an und dann wussten wir, das ist der Weg.
Christian: Morgens nach dem Frühstück haben wir es dann gleich aufgenommen. First Take, yes. Leo war der Löffel- und Schnips-Spezialist. Am Abend haben wir es dann angehört und gedacht: Wow, das ist richtig gut. Dann kam Jan und wollte im Mittelteil noch irgendwie so Flugzeuggeräusche. Leo und ich haben also noch Flugzeug gespielt und dann war das Lied fertig. (alle lachen)
Dann ist „Zu bequem“ ja vielleicht so ein bißchen das Sinnbild für die Zeit in Schweden insgesamt.
Christian: Auf jeden Fall. Es war so ein schöner Abend mit dem Nachbarn da. Der heisst Pelle und kam ab und zu rüber. Pelle war früher Punkgitarrist in einer ziemlich wilden Band und dann hat seine Freundin gesagt: Also entweder die Band oder ich. Und dann ist er Postbote geworden. Pelle kam halt immer rüber, der ist jetzt 65. Kurz vor Midsommer hatte er seinen letzten Arbeitstag. I’m a free man. Ein extrem cooler Typ. Dann haben wir gesagt: Okay free man, du musst jetzt bei „Zu bequem“ Ukulele spielen. Weil er auch dabei war als das entstand. Und dann hat er in Hamburg auf der Bühne Ukulele gespielt. Das war so geil. Er hat das sehr genossen. Sein Schwiegersohn hat so ein kleines Studio und sammelt alte Instrumente. Alles was gut aussieht und alt ist kauft der. Von dem haben wir uns Sachen ausgeliehen. Und das sind beides ganz schöne Styler. Also mit einem sehr klaren Musikgeschmack. Das ist cool, das ist uncool. Das waren eigentlich die einzigen Menschen, die uns da in Schweden begegnet sind und die am Wochenende mal vorbeikamen und zugehört haben. Das war so ein Weltgeschmack. Die coolen Schweden. Bei „Wintertag“ gibt es eine Bridge wo wir dachten, da machen wir was aus der Beatleschor-Abteilung. Und Pelle sagte: I won’t do. You hear it anyway. Und wir so: Okay. Er war so etwas wie der heimliche Produzent. Auch wenn er das nicht weiß.
Jan: Wir meinten dann zu ihm: Hey, wir überlegen ob wir die Platte „Kashmir Karma“ nennen sollen. Und die Tour auch. Und er so: Gibt es schon, könnt ihr nicht machen. Und wir so: Och schade, aber wenn er das sagt. Und am nächsten Tag kam er dann mit dem Cover von so einer Platte und sagte: Okay, ich hab mich verguckt, ich meinte das. Und dann stand da „Kuala Lumpur“ (grosses Gelächter)
Wie muss ich mir den Prozess des Songschreibens bei euch vorstellen?
Leo: Nehmen wir als Beispiel „Feuer und Wasser“. Da war ein Kamerateam dabei und die haben gesagt, dass sie uns einfach beim Aufnehmen filmen. Wir wollten eigentlich was ganz anderes machen. Wir hatten einen richtigen Plan für den Tag gemacht. Und dann hat es draußen geregnet und das Fenster stand auf. Es kamen Luftzüge rein und die Gardinen wehten ein wenig. Christian daddelte an der Gitarre rum. Ich kam rein und sagte: Das ist gut. Ich weiß auch nicht mehr genau. Und dann haben wir plötzlich angefangen zu jammen und dachten: Hier entsteht gerade was. Und der Regen passte so gut zu diesem Moment. Dann haben wir das aufgenommen und gemerkt, dass da gerade ein Song entsteht. Das Kamerateam hatten wir total vergessen. Wir haben unseren Plan umgeschmissen und an der Strophe gefeilt und tausendmal umgestellt. Bei „Feuer und Wasser“ haben wir wirklich ganz viel ausprobiert. Und plötzlich war der Refrain da. Dann kam Jan mit dieser Textidee und dann nahm das so seinen Lauf. Am Ende des Tages war der Song da.
Christian: Wir haben tierisch viel gejammt und dann immer nochmal angehört. Man merkt meistens beim Spielen schon, dass da irgendwas rumfliegt. Dann ist es natürlich wichtig eine textliche Haltung dazu zu finden. Wir haben sowieso immer viel gesprochen und Jan hat Ideen reingebracht. So wächst das dann so langsam. Plötzlich hast du das Gefühl, dass da was ist. Und dann musst du weiterforschen. Manchmal kommt das so bäm, bäm, bäm und fertig. Und manchmal ist es Knechterei. Was echt ganz geil war, dass wir Pausen gemacht haben. Also wir sind immer zehn Tage hin und dann wieder nach Hause und hatten dazwischen immer Zeit zu reflektieren. Leo hat zum Beispiel immer sehr an „Unsterblich“ geglaubt, an diese Session. Wir haben ihm auch zu danken, dass er da so gebissen hat.
Leo: Oder Stoppel kam mit der Aufnahme zu „Zu bequem“ an. Das war ja auch eine Session. An dem Abend war der Hammer eigentlich schon gefallen. Wir haben am Küchentisch gesessen und zufälligerweise lief dieses iPhone. Zwei Runden später kam Stoppel in Schweden dann wieder damit an. Er hatte das ein bißchen zurechtgeschnitten und wir dachten, dass wir daraus was machen müssen. Es war ein Sammeln und Entdecken von Tönen.
Christian: Wir haben uns Zeit genommen. Ohne Stress. Wir hatten genug Zeit zu forschen. Und wir hatten aber auch total Lust, weil es so einen Spass gemacht hat. Und wir waren frei von dem normalen Bedröhnungsfaktor.
Leo: Oder eine andere Situation die mir einfällt. Wir saßen vor dem Kamin und Christian daddelt aus Spass auf der Gitarre rum. Dann habe ich einfach so mitgespielt und plötzlich war da wieder was. Wir wollten eigentlich ins Bett gehen und dann entstand da doch noch was nachts um Eins.
Das hört man ja auch. Das Album klingt ja jetzt nicht so als müsste man irgendwie auf die Radioquote schielen. Was ist mit den Texten? Wie entstehen die? Läufst du da so klassisch mit der Kladde unter dem Arm rum, Jan, und notierst dir Dinge, wenn sie dir in den Kopf kommen?
Jan: Ja, eigentlich so alles was geht. Ich nehme alle Werkzeuge die mir zur Verfügung stehen. Ich bin mit sehr wenigen selbstgeschriebenen Textbüchern nach Schweden gefahren, weil mir in der Zwischenzeit so viele Textzeilen durch den Kopf gegangen sind. Einige lagen dann so eingefräst und die habe ich dann alle rausholen können. Es war ein Schwall (lacht). Es war so reduziert. Und das steht eigentlich auch ein bißchen als Überschrift bei dieser Platte. Echt reduzieren. Ohne Produzent, ohne Techniker, ohne großes Brimborium, ohne andere Menschen. Die Töne sind in dem Sinne ja auch sparsam. Die sind ja nicht überproduziert. Gerade in dieser Zeit, wo du schon an einem Vormittag zwölf Reizüberflutungen kriegen kannst, wenn du nur ins Netz schaust, ist es tatsächlich auch eine Platte, die zur Entschleunigung beiträgt.
Christian: Der einzige Spiegel für uns waren eigentlich die beiden Schweden. Es gab da einen Moment, wo wir „Unsterblich“ fertig hatten und das Martin, dem Schwiegersohn von Pelle, vorgespielt haben. Und Martin ist so dermaßen abgegangen. Yeah, this is crowd rock. If you have this sound you can travel the world. Das ist auch so ein grosser, lauter, geiler Styler und der ist so abgegangen. Das war ein guter Spiegel und hat einen so motiviert. Das war sehr nett.
Leo: Wir sind ja immer mit der Fähre gefahren und dann haben wir die Aufnahmen auf CD gebrannt und die auf der Fähre gehört. Das war sehr schön.
Christian: Wenn ein Song fertig war, haben wir den auch immer ungefähr zehn bis zwanzig Mal durchgehört und abgefeiert. (alle lachen)
Selig am 17.11.2017 in der Live Music Hall in Köln.
Wenn ich den Rest meines Lebens auf einer einsamen Hütte in Schweden verbringen müsste, welche vier Platten müsste ich unbedingt mitnehmen?
Jan: „Music For Airports“.
Leo: Und dann die „Kashmir Karma“.
Jan: Und „Blue Note“ von Miles Davies. Das haben wir da oft beim Kochen gehört.
Stephan: Und eine Astrud Gilberto-Platte.
Jan: Ja, da bin ich dabei. Das ist geil.
Welche Bedeutung steckt hinter dem Titel „Kashmir Karma“?
Leo: Wir haben echt viel geredet über das Weltgeschehen. Das war auch eine Facette, die neu war. Es war so viel im Wandel. Trump war Präsident geworden. Dann gab’s den Brexit. Das waren eigentlich schon alles sehr sehr beängstigende Nachrichten. Die Erdogan-Nummer war da auch, glaube ich. Einmal am Tag haben wir immer „Tagesschau“ geguckt und uns gefragt was da eigentlich los ist. Der Name „Kashmir Karma“ schwebte wie so ein Karma über dem Ganzen. Dass man eben Sachen tun sollte, die gut für’s Karma sind. Im Gegensatz zu diesen ganzen schlechten Nachrichten. Oder jetzt, Trump will Nordkorea auslöschen. Dass man so etwas überhaupt sagen darf heutzutage. Das ist eigentlich eine Katastrophe. Früher wären die Leute, wenn ein Präsident sowas gesagt hat, auf die Straße gegangen. Man hat sich so daran gewöhnt. Man stumpft ab. Und das darf eigentlich nicht sein. Ganz wichtig für unsere Demokratie und dass das weitergeht, ist, dass man sich unterhält, dass man sich ausreden lässt und dass man Interessenausgleich betreibt. Dass man zusammenkommt und zusammen was herstellt. Und das bedeutet auch so ein bißchen der Name „Kashmir Karma“. Also dass man versucht Gutes zu tun. Und auch sagt und das benennt, was wir meinen, was Gutes sein kann. Bei „Feuer und Wasser“ in der zweiten Strophe, da gibt es richtig deutliche Ansagen wie man sich das eigentlich vorstellen kann. Als Utopie in der Zukunft. Wie geht das nochmal?
Jan (erhebt seine Stimme): Organisiere die Liebe. Zelebriere den Frieden. Kannst du dir das nicht merken? (lacht)
Christian: Wir haben ja auch schon einiges durch in unserem Zusammenleben. Und wie friedlich und respektvoll und begeistert das in Schweden war. Wir haben da eine kleine Kommune gegen diesen ganzen Wahnsinn veranstaltet. Wir alle Vier sind schon sehr extrem, aber wir haben das über die Zeit schätzen gelernt, was man eigentlich doch für ein Glück hat.
Das ist doch ein schönes Schlusswort. Ich danke euch für eure Zeit und das überaus nette Gespräch.
Musicheadquarter bedankt sich ebenso bei Annett Bonkowski (Verstärker Medienmarketing GmbH) für die freundliche Vermittlung des Interviews und bei Mika Bode für die nette Betreuung vor Ort! Wir werden uns wiedersehen!
Für die Aufnahmen zu ihrem siebten Studioalbum „Kashmir Karma“ hatten sich Selig in die Abgeschiedenheit der schwedischen Westküste zurückgezogen, um dort inspiriert von der Natur und der aus dem Ruder geratenen Weltpolitik ihre ganz persönliche Sicht auf die Dinge zu vertonen. Das Ergebnis sind elf neue Songs, mit denen Jan Plewka, Gitarrist Christian Neander, Leo Schmidthals am Bass und Stephan „Stoppel“ Eggert hinter dem Schlagzeug wieder dort anknüpfen, wo sie vor 22 Jahren mit „Hier“ angefangen haben. Wie stolz die Band auf ihr neues Werk ist, lässt sich auch daran ablesen, dass sie „Kashmir Karma“ auf der aktuellen Tour komplett durchspielen. So auch heute in Köln.
Bevor es soweit ist, begrüsst Jan Plewka die 1.100 Fans in der nicht ganz ausverkauften Live Music Hall erstmal mit der Frage „Was ist nur aus dem alten Rock’n’Roll geworden?“. Was er meint, ist der ungewöhnlich zeitige Beginn des Konzertabends. „Halb Acht, ganz schön früh, oder?“, fragt er in die zu diesem Zeitpunkt erst zu zwei Dritteln gefüllte Halle und schiebt quasi als Trost hinterher „Raucht wenigstens noch einer?“. Die Begründung für den frühen Auftakt ist die Partyreihe „Clash Of Trash“, deren Einlass an diesem Freitagabend um 22 Uhr beginnt. Und da müssen die Selig-Fans halt alle wieder draußen sein. Die Band lässt sich davon nicht beirren und spielt ein zweistündiges Set vom Feinsten, das auch all diejenigen erfreut zurücklässt, die es aufgrund des Kölner Dauerstaus nicht rechtzeitig zum Beginn nach Ehrenfeld geschafft haben.
Los geht es mit „Unsterblich“. Ein Song, der die gesamte Geschichte von Selig überschreiben könnte. Jan Plewka legt für einen kurzen Moment seinen schwarzen Schlapphut ab und lässt sich in die vorderen Reihen fallen, wo ihn die Fans ein Stück auf Händen tragen. Überhaupt herrscht eine Stimmung wie bei einem Klassentreffen. Man erzählt sich was es Neues gibt und schwelgt in Erinnerungen. Das Neue sind die Songs von „Kashmir Karma“ (von Jan Plewka mit der einen oder anderen Anekdote versehen) und die Erinnerungen tragen bekannte Namen wie „Bruderlos“, „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ oder „Wir werden uns wiedersehen“. Während Lehrer Plewka auf der Bühne umhertänzelt und mit den Armen rudert, singt der Kölner Schulchor aus voller Kehle mit. Dabei wirkt die Band (und besonders Jan Plewka mit seinem Hut und dem Hippie-Hemd) als wäre sie komplett aus der Zeit gefallen. Wer fragt denn seine Fans heutzutage noch, ob sie Feuerzeuge dabei haben? Selig zaubern eine so herrlich ausgelassene und friedliche Stimmung in die Live Music Hall, dass sogar ich anfange die mir eigentlich verhasste Halle zu lieben. Der abgesehen von ein paar Kabelproblemen glasklare und druckvolle Sound trägt seinen Teil dazu bei.
Dass sie selbst am meisten Spass an dem haben, was sie da tun, sieht man den vier Bandmitgliedern deutlich an. Das ist kein durchchoreografiertes Konzert von vier Musikerkollegen. Das hier ist (wieder) ein verschworener Haufen Freunde, der Musik mit der Hand und vor allem mit dem Herzen macht und das auch noch sympathisch rüberbringt. Das zeigt sich nochmal deutlich in einem grossartigen Zugabenblock („Sie hat geschrien“, „Wenn ich wollte“, „Ohne dich“ und „Kashmir Karma“), aber vor allem im letzten Song des Abends „Regenbogenleicht“. Da stehen sie am Bühnenrand und flüstern den Text fast, während Christian Neander zur Begleitung die Akustikgitarre zupft. Man möchte in diesem Moment am liebsten zu ihnen hochklettern und sie alle Vier mal feste in die Arme nehmen.
Als wir danach aus der Halle gekehrt werden (die Party ruft!) ist die Welt ein besserer Ort geworden. Das was sich um halb Acht noch ungemütlich und kalt angefühlt hat, erscheint jetzt ein Stückchen schöner und wärmer. Wer an einem kommenden „Wintertag“ ein bißchen „Lebenselixier“ gebrauchen kann und nicht „Zu bequem“ ist, der sollte auf jeden Fall „Kashmir Karma“ hören und am besten auch sehen! In diesem Sinne: Bleibt alle Selig!
Hilde Knef, die Grande Dame des Deutschsprachigen Chansons, hätte am 28.12.2015 ihren 90. Geburtstag gefeiert. Leider erlebt sie ihn nicht mehr, aber ein Geschenk gibt es dennoch: 20 verschiedene deutsche Bands und Musiker nehmen sich ihrer Lieder und Texte an und interpretieren sie für das einzigartige Tribute-Album „für Hilde“ ganz neu und zeitgemäß.
Das Ergebnis ist so eigen, wie Hilde Knef selbst es gewesen ist, und so vielseitig wie die Künstler, die zu diesem Album beigetragen haben. Die Fantastischen Vier machen aus „Im 80. Stockwerk“ einen perfekten Rap, bei Mark Forster wird „Halt mich fest“ zur eindringlichen Pop-Ballade und das Quartett Salut Salon kleidet das ruhige „Lass mich bei dir sein“ in ein wunderschönes kammermusikalisches Gewand. Beinahe zeitlos wirkt Cosma Shiva Hagens atmosphärische Interpretation von „Der Mond hatte frei“. Cluesos „Ich bin zu müde um schlafen zu gehen“ bleibt anfangs nah am ursprünglichen Chanson, bevor es mit Groove in die Strophe geht, und Selig rockt mit „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ dann so richtig ab.
Vor allem aber zeigt sich durch das ganze Album hindurch, wie relevant Hildes Gedanken heute noch sind. Beeindruckend authentisch wirkt etwa Sammy Deluxe mit „Von nun an ging´s bergab“, bei dem die Knef selbst immer wieder mit der Titelzeile eingespielt wird. Und das von Miss Platnum kraftvoll interpretierte „Meine Lieder sind anders“ ist ein heutzutage wieder bitter nötiges Statement gegen erzwungene Konformität. Ebenso zeitlose Weisheit findet sich in den drei bisher unveröffentlichten Texte, die eigens für dieses Album vertont wurden – ob im philosophisch von Nisse besungenen „Doch du drehst dich um“, den von Jupiter Jones artikulierten „Intrigen, Intrigen“ oder dem nachdenklichen Duett „Wohin ich blicke“ von Bela B. und Bonaparte.
Mit dem beinahe unvermeidlichen „Für mich soll´s rote Rosen regnen“ beschließt Sängerin Alina schließlich dieses musikalische Geburtstagsgeschenk, an dem Hilde Knef sicher ihre helle Freude gehabt hätte. So ist es nun eine Freude für alle Hörer und ein einzigartiges Andenken an eine großartige Künstlerin.
2014 feiern Selig ihr 20-jähriges Jubiläum. Okay, dabei ist die Pause zwischen 1999 und 2008 mit eingerechnet. Nach ihrem Start 1994 und so grossartigen Songs wie „Ohne Dich“, „Sie hat geschrien“ oder „Mädchen auf dem Dach“ gelang dem Hamburger Quintett 2009 mit „Und Endlich Unendlich“ ein nahtloses Anknüpfen an die Gegenwart. Über weitere drei Alben haben sich Selig so immer wieder selbst erneuert. Am 10. Oktober veröffentlichen sie ihr Jubiläumsalbum „Die Besten 1994 – 2014“ und gehen anschließend auf Tour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz.
Bevor die Feierlichkeiten endgültig losgehen, hatte Musicheadquarter-Chefredakteur Thomas Kröll die Gelegenheit zu einem Interview mit Christian Neander. Obwohl er an diesem Tag extrem erkältet war, nahm sich der Selig-Gitarrist viel Zeit, um über das kommende Album, den Umgang mit dem „Rockstar-Rummel“, sein Verhältnis zu den anderen Bandmitgliedern und natürlich über die vergangenen 20 Jahre Selig zu sprechen.
In diesem Jahr feiert ihr euer 20-jähriges Bandjubiläum mit einer Tour und einem neuen Album. Am 10. Oktober erscheint „Die Besten 1994 – 2014“, eine Retrospektive aus zwei Jahrzehnten Selig. Nach welchen Kriterien habt ihr die Songs darauf ausgewählt?
Christian Neander: Im letzten Jahr haben wir uns in der Hamburger Schanze eine kleine Wohnung gemietet und haben alle Songs, die wir jemals gemacht haben, inklusive B-Seiten, angehört. Dann haben wir aufgeschrieben, was das für Erlebnisse waren. Das war der Ursprung für die Auswahl. Es sind natürlich Singles dabei, die ja auch prägend waren für uns, aber auch sowas wie „Wenn ich Gott wäre“, eine B-Seite vom ersten Album. Ausgewählt haben wir nach dem, was wir einfach mochten und was sich dabei herauskristallisiert hat.
Jetzt hättet ihr es euch mit dem Album ja leicht machen und einfach die Originalversionen der Stücke draufpacken können. Fertig. Stattdessen habt ihr die Songs überarbeitet, entschlackt und damit nochmal völlig neu interpretiert. Warum war euch das so wichtig?
Christian Neander: In der Schanze ist uns zum Beispiel bei „Die Besten“ aufgegangen, dass das einen sehr traurigen Text hat und dass die Musik aber komplett in Dur ist. Also haben wir alle Akkorde in Moll gemacht und das war super. Eigentlich ein Zufallstreffer. Wir finden Best Of’s extrem langweilig. Du kannst dir von iTunes oder wie auch immer ja selbst dein Best Of bauen. Wir wollten aber gucken, wie man es anders machen könnte. Dann haben wir letztes Jahr mit dem Babelsberger Filmorchester ein Konzert gespielt, was auch super war, und danach festigte sich die Meinung: Wir schenken uns zum 20-jährigen Jubiläum unser eigenes Best Of-Album und machen alles neu. Wir waren im Clouds Hill Studio mit Swen Meyer, unserem Produzenten, und haben alles hinterfragt. Der Grundtenor war zu gucken, was ist die Aussage des Liedes und wie stellt man das noch mehr nach vorne, sodass man ein bißchen limitierter aufgenommen hat, mehr akustischer. Das ist aber jetzt kein Selig Unplugged-Gedöns geworden. Die Basis sind zwar Klavier und Akustiksachen, aber es gibt auch E-Gitarren und komische Geräusche. Alles sehr frei und spielerisch. Wir waren alle sehr aufgeregt vor den Aufnahmen und dann wurde es so eine herrliche Spielwiese. Es war wie eine neue Platte aufzunehmen und hat total Bock gebracht. Komischerweise hat es sich ein bißchen angefühlt wie unsere allererste Platte. Teilweise sind die Stücke ähnlich, aber es gibt einen Song, da sind komplett neue Harmonien drunter.
Was muss ich mir denn unter komischen Geräuschen vorstellen?
Christian Neander: Das ist nicht so extrem. Es ist jetzt nicht wahnsinnig seltsam, aber es gibt viel Streicher auf der Platte. Wir haben einfach mit Klängen rumexperimentiert oder das Schlagzeug merkwürdig aufgenommen, wie Stoppel (gemeint ist Selig-Drummer Stephan Eggert, Anmerkung der Redaktion) auf Stühle haut und sowas. Das ist nicht immer vordergründig zu hören, aber wir haben uns da sehr viel Zeit genommen und rumgespielt. Das hat Spaß gemacht.
Ich habe euch vor kurzem in Stolberg bei Aachen im Museum Zinkhütter Hof gesehen. Im Gegensatz zu den Hallen, die ihr normalerweise bespielt war das eine winzige Location mit vielleicht gerade mal 400 Leuten. Geniesst ihr diese kleinen Gigs noch einmal anders oder auf besondere Weise?
Christian Neander: Ich liebe das seit je her. Es waren tatsächlich 700 Leute plus Gäste. Aber trotzdem hatte das was von einem kleinen Club. Ich mag das total gerne, weil es heiß und irgendwie intensiver ist.
Ich fand es sehr außergewöhnlich. Die Atmosphäre und der Ticketpreis waren schon außergewöhnlich. Wirklich super.
Christian Neander (lacht): Schön. Das freut mich. Seitdem wir im Studio waren, haben wir nochmal einen Schub für den Sommer bekommen. Wahrscheinlich auch weil wir viel gespielt haben und der Spirit, auch wenn das ein blödes Wort ist, leuchtete wieder. Deswegen haben die Konzerte auch gerade wahnsinnig viel Spaß gemacht. Man kämpft irgendwie auch um die Töne. Es muss halt brennen, wenn man spielt.
Habt ihr ein bestimmtes Ritual bevor ihr auf die Bühne geht?
Christian Neander: Wir hatten sehr lange ein Ritual, bei dem wir einfach nur kurz zusammen sind und nicht reden. Wo man quasi eine Verbindung mit den anderen aufnimmt und dann auf die Bühne geht.
Was die Setlisten angeht: Legt ihr die gemeinsam fest und wann? Ich meine, erst kurz vor dem Gig oder jeweils nach dem Soundcheck vielleicht?
Christian Neander: Das zuletzt waren ja drei Konzerte direkt hintereinander. Da haben wir vorher auch geprobt und wollten viele alte Stücke spielen, eben wegen der 20 Jahre Selig. Die Setlisten machen wir gemeinsam. Wir können es auch immer besser. Früher war es komplizierter. Obwohl es immer mehr Stücke werden, wird es irgendwie immer einfacher. Keine Ahnung warum. Es gibt nicht mehr soviel Streiterei (lacht). Wir spielen ja im Herbst eine Tour, die wird aber anders sein. Da werden wir auch versuchen die Platte wie sie jetzt ist darzustellen. Das wird ein anderes Gewand haben als die letzten Konzerte.
Es ist unvermeidlich nochmal auf die letzten 20 Jahre zurückzukommen. Ihr habt in dieser Zeit mit vielen anderen Musikern zusammen auf der Bühne gestanden. Gibt es noch eine Band oder einen Künstler, mit dem ihr unbedingt mal gerne zusammenspielen würdet?
Christian Neander: Ich hätte halt unwahrscheinlich gerne Hendrix mal erlebt. Der war so prägend für mich. Aber das ist schwierig (lacht). Es gibt immer wieder inspirierende Sachen, aber ich bin nicht so fanmäßig. Ich bin mal berührt von Musik und mal nicht. Manchmal schreibt man mit irgendjemandem einen Song, hat einen super Tag und denkt: Ja, deswegen mache ich Musik.
Das neue Selig-Album erscheint am 10. Oktober bei Motor Entertainment / Sony Music
Wenn du auf diese 20 Jahre Selig zurückblickst, gibt es ein Ereignis, das dir ganz besonders im Kopf geblieben ist?
Christian Neander: Ich habe ja zehn Jahre mit Jan überhaupt kein Wort gewechselt.
Kein Wort?
Christian Neander: Naja, einmal gab es so ein ganz kurzes „Hallo“, wo wir uns nicht ausweichen konnten, was aber schrecklich war. Als wir uns dann getroffen haben, um zu überlegen, ob wir wieder zusammen kommen, haben wir sehr lange gesprochen und mussten sehr viel regeln. Dann haben wir gemerkt, dass wir noch etwas zu sagen haben und die erste Platte gemacht. Also die Reunion-Platte. Kurz darauf haben wir auf der Rheinkultur in Bonn gespielt vor wahnsinnig vielen Leuten. Das war ein so unfassbar schönes Konzert. Wie gemalt. „Ohne Dich“ im Sonnenuntergang, mit Vollmond und alle singen mit. Wir dachten: Mann, dass wir das wieder hingekriegt haben und dass die Leute das noch mögen. Vor allem war ich auch nicht so getrieben wie früher und konnte das viel mehr wahrnehmen. Das war ein grossartiger Moment. Dass man vergeben kann und dass man selbst ausgehebelt wird. Wir waren mit uns im Reinen. Unglaublich schön.
Die Popularität, die ihr genießt, war für Selig ja eine Zeitlang Fluch und Segen zugleich. Unter anderem seid ihr ja auch daran zerbrochen. Geht ihr heute anders mit dem ganzen „Rockstar-Rummel“ um?
Christian Neander: Auf jeden Fall. Das waren so typische Rock’n’Roll-Klischees damals. Immer wilder und immer verwirrter. Keiner hat wirklich auf uns aufgepasst. Was wirklich gefehlt hat war jemand, der von außen sagt: Ihr seid alle wahnsinnig, ihr müsst jetzt mal ein Jahr Pause machen. Es war eher das Gegenteil. Man wurde immer weiter getrieben. Ich hatte immer den Eindruck, dass ich alles unter Kontrolle habe, aber das hatte ich schon längst nicht mehr. Heute respektiert man die anderen in der Band auch viel mehr für das, was sie sind. Mit allen Höhen und Tiefen und versucht nicht den noch zu verändern. Der Typ ist halt so und das ist auch toll, denn sonst würde er nicht so singen oder sonst würde er nicht so Bass spielen. Das Mediale dabei kratzt einen nicht mehr so sehr. Klar, das Herzblut ist immer noch das gleiche, aber es ist jetzt vielleicht ein anderes Selbstbewußtsein. Das eigene Ego ist auf jeden Fall besser in Betrieb als damals.
Was letztlich zählt ist ja die Musik. Und alles andere drumherum, so wie dieses Interview hier jetzt auch, gehört halt dazu.
Christian Neander: Ja genau. Man kann jetzt irgendwie besser damit umgehen. Interviews sind ja auch interessant, weil sie immer eine gute Möglichkeit sind zu erklären, was man eigentlich tut.
Mit diesem Wissen, dass ihr nun anders damit umgehen könnt und dass die Jungs in der Band halt so sind wie sie sind, würdest du euch heute eher als Freunde oder eher als Kollegen bezeichnen?
Christian Neander: Als Freunde. Es gab so viele Extremsituationen, die man zusammen durchlebt hat. Das ist schon sehr nah. Dafür bin ich sehr dankbar und das war auch ganz schön viel Arbeit, dass wir da hingekommen sind. Trotzdem können die natürlich auch mal nerven (lacht).
Kannst du dich überhaupt noch irgendwo unerkannt in der Öffentlichkeit bewegen? In Hamburg zum Beispiel stelle ich mir das eher schwierig vor.
Christian Neander: Also bei mir ist das entspannt. Ich werde eigentlich nur manchmal erkannt und dann meistens auch ganz nett. Es ist nicht so offensiv. Das ist überhaupt kein Stress. Ich empfinde das als angenehm und gleichzeitig auch irgendwie schräg. Klar, man ist gerne erfolgreich und schön wenn die Leute das mögen, aber dieses Erkennen kann auch mal geil sein. Als das anfing, war es schon irgendwie prickelnd, aber jetzt bin ich lieber ich.
Arbeitet ihr schon wieder an neuen Songs und wenn ja, kannst du schon sagen in welche Richtung die gehen werden?
Christian Neander: Wir haben neulich für diese paar Konzerte geprobt und waren dann irgendwie durch, hatten aber noch Zeit. Da haben wir einen echten Rausch gehabt und an einem Tag dreizehn Songideen aufgenommen. Das war echt wie im Rausch, fast schon manisch. Jan hatte Textfragmente und Ideen. Wir haben gejammt und hatten sehr schnell weitere Ideen. Wir wollen auf jeden Fall eine neue Platte machen und wollen uns aber auch Zeit dafür nehmen. Die soll schön werden. Und es ist jetzt ein bißchen auch so, dass wir einen Schlußstrich ziehen und gucken, wo es weiter hingeht. Richtungsmäßig kann ich dazu aber noch nichts Genaues sagen. Dafür sind noch zu viele Sachen offen. Es ist noch viel Forschung.
Nehmen wir mal an, du müsstest dich selbst interviewen. Welche Frage würdest du dir dann gerne stellen?
Christian Neander (lacht): Oh Gott! Die Frage ist schwer. Ich glaube die Antwort treibt gerade in meinem hohlen Schnupfenkopf ab. Da kriege ich leider nichts Schlaues zusammen.
Gut, dann streichen wir die Frage nach der Frage.
Christian Neander: Danke! Was mir aber noch einfällt ist, dass wir zu dem Best Of noch so ein Deluxe-Gedöns machen, was aber ein Fotoalbum ist. Das haben wir gestern abend noch durchgeguckt und weitere Fotos ausgewählt. Heute abend ist es fertig. Ich habe noch die ganzen alten Demos von der ersten Platte gefunden. Die sind da auch noch dabei und zwei Sachen, die wir damals nicht veröffentlicht haben. Es sind zwei CDs. Einmal „Die Besten“, wo die ganzen neu aufgenommenen Songs drauf sind. Und bei dem Fotobuch sind auch nochmal achtzehn oder neunzehn Demos dabei. Vielleicht ist das ja noch ganz interessant. Das hat voll Bock gebracht. Ich habe das alles durchforstet und da sind teilweise Vier-Spur-Aufnahmen dabei. Das war eine extreme Zeitreise.
Ich bin schon auf das Ergebnis gespannt. Erstmal danke ich dir für das nette Gespräch und wünsche dir gute Besserung und euch viel Spaß auf der anstehenden Tour.
2009 starteten Selig nach zehnjähriger Pause eine furiose Reunion. Seitdem haben sie mit „Und Endlich Unendlich“, „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ und zuletzt „Magma“ drei Alben veröffentlicht, die sich allesamt in den Top Ten der Charts platzieren konnten. Die fünf Hamburger gehören längst wieder zum festen Wertekanon der deutschen Rockszene, auch wenn „Magma“ als stilistische Neuorientierung nicht überall auf uneingeschränkte Gegenliebe stieß. Die FAZ etwa schrieb von „Mainstream-Pop“ und „Wellness-Rock“, kürte das Album aber dennoch zur „CD der Woche“. In einem jedoch sind sich alle einig: Es gibt hierzulande nur wenige Kapellen, die Selig live das Wasser reichen können.
Seit Mitte März lässt das Quintett auf seiner „Magma Tour“ die deutschen Bühnen brodeln. Köln ist ihre neunte Station, sechs weitere Termine folgen noch, als nächstes das doppelte Heimspiel im Docks auf der Reeperbahn. Die Live Music Hall ist zwar voll, erstaunlicherweise aber nicht ganz ausverkauft. Wer hier schon mal ein Konzert erlebt und gesehen hat, wie die Leute quasi bis unter die zuweilen brüchige Decke gestapelt stehen, der weiß, dass dies heute abend nur von Vorteil sein kann. Möglicherweise befinden sich viele Kölner bereits im Osterferienmodus.
Diejenigen, die „nicht auf dem Sofa liegen geblieben, sondern gekommen sind“, wie Jan Plewka später sagen wird, brauchen allerdings elendig lange, bis sie so etwas ähnliches wie Stimmung verbreiten. Das gesamte Mainset über komme ich mir vor, als läge ich tatsächlich zuhause auf dem Sofa und würde mir eine Konzert-DVD anschauen. Es wird gequatscht statt gesungen, bestenfalls mitgewippt statt getanzt und zwischen den Songs zumindest höflich Applaus gespendet. An Selig liegt diese für Kölner Verhältnisse fremdartige Zurückhaltung definitiv nicht. Der Sound ist vom ersten Ton des Openers „Ich lüge nie“ nahezu perfekt und Jan Plewka, Leo Schmidthals, Christian Neander, Stephan Eggert sowie Malte Neumann erweisen sich als gutgelaunte Meister ihres Fachs. Trotzdem scheinen sie die seltsame Atmosphäre ebenfalls zu spüren. Jan Plewka versucht es immer wieder mit einem aufmunternden „Geht es euch gut?“ oder „Seid ihr noch da?“, gibt aber spätestens nach „Der Tag wird kommen“ auf, als sein Wunsch, lautstarke Grüße von Köln nach Hamburg zu schicken nur einen müden Widerhall findet.
Man muss Selig zugute halten, dass sie sich davon in keinster Weise irritieren lassen. Die Setlist ist ein gelungener Streifzug durch ihre beiden Schaffensphasen vor 1999 und nach 2009. Lediglich das „Blender“-Album von 1997 findet mit keinem einzigen Stück Verwendung, dafür ist „Magma“ gleich mit deren zehn vertreten. Vielleicht liegt die flächendeckende Körperstarre der Fans am eisigen Wind, der uns vor Konzertbeginn auf dem Weg zur Halle fast hat einfrieren lassen. Vielleicht liegt des Rätsels Lösung aber auch darin, dass man nach so viel „Magma“ gerne mehr älteres Material gehört hätte. Als es beim ersten Zugabenblock mit „Sie hat geschrien“, „Wenn ich wollte“ und dem unvermeidlichen Klassiker „Ohne Dich“ nämlich ganz zurück bis zu den seligen Anfängen von 1994 geht, da können plötzlich alle mitsingen, tanzen und ihre Arme in die Luft reißen.
Am Ende müssen Selig sogar dreimal wiederkommen, ehe sie den Abend nach über zwei Stunden und insgesamt 23 Songs mit einer akustisch angehauchten Version von „Regenbogenleicht“ ausklingen lassen. Vorher versprechen sie noch „Wir werden uns wiedersehen“. Angesichts der musikalischen Klasse, die sie heute demonstriert haben, klingt dieses Versprechen wie eine Verheißung. Die Live Music Hall ist dabei spät, aber nicht zu spät aufgetaut. Selbst wenn es zu einem Vulkanausbruch nicht mehr ganz gereicht hat. Genau den hätte dieses Konzert eigentlich verdient gehabt!
Wir sind mitten drin in der Post-Reunion der Selig-Geschichte. Während „Und endlich unendlich“ und das darauffolgende „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ den Prozess der Selbstfindung dieser fünf ungleichen Freunde und Musiker reflektierten, richtet ihr kommendes Album „Magma“, das am 01.02. veröffentlicht wird, den Blick nach vorne – und nach außen. Die selige Innenpolitik ist offensichtlich intakt. Selig sind mit „Magma“ als Band, Freundeskreis, Musikerkollektiv in einer Weise bei sich selbst angekommen, wie das zuvor eigentlich noch nie der Fall war, auch in den Neunzigern nicht. Jüngster Beweis dafür ist ihre neue Single „Alles auf einmal“, die am vergangenen Freitag erschienen ist.
Musicheadquarter-Chefredakteur Thomas Kröll traf sich mit Sänger Jan Plewka und Bassist Lenard „Leo“ Schmidthals im Kölner „Hallmackenreuther“ zu einem ausführlichen Interview, in dem es nicht nur um die letzten 20 Jahre Selig und das neue Album ging, sondern auch um Punks in Hamburg-Altona, fehlende Duschen auf Tour, gepflegte Langeweile und jede Menge Leidenschaft.
Bester Laune: Lenard Schmidthals, MHQ-Chefredakteur Thomas Kröll und Jan Plewka (Fotos: Torsten Schlimbach / Sliderfoto: Thomas Rabsch)
Ich glaube ich bin euer letzter Interview-Partner für heute. Welche Frage möchtet ihr nicht mehr hören?
Jan Plewka: Wie seid ihr auf den Bandnamen gekommen?!
Okay, die habe ich nicht. In letzter Zeit kriege ich aber so eine Art Selig-Volldröhnung ab. Erst die „In Bed with Selig“-Tour, dann die Tourdaten für 2013, dann die Veröffentlichung der „Selig Live @ Rockpalast“-DVD und schließlich das Vorabexemplar von „Magma“. Fangen wir vorne an. Die „In Bed with Selig“-Tour hatte was von „Back to the Roots“. Wie war die Tour für euch?
Jan Plewka: Also wenn wir uns zu Fünft über die kleine Tour unterhalten, dann hört sich das im seligen Sprachjargon an wie: Alter, da haben wir echt mal acht Tage lang die Welle geritten (lacht). Und Christian (Neander, Selig-Gitarrist, Anm.d.Red.) mit Tränen in den Augen: Das ist die schönste Tour, die wir je gespielt haben. Und wir: Christian, das sagen wir von jeder Tour (Gelächter). Aber ich finde das auch. Das war ganz wunder-, wunder-, wunderschön.
Ihr habt ja in winzigen Clubs gespielt, in Köln zum Beispiel im Luxor.
Leo Schmidthals: Und eben das neue Album von eins bis zwölf. Das ist dann wie so ein Neuanfang. Du hast anderthalb Jahre hart gearbeitet und viel Spaß gehabt, viel weggeworfen und hin und her gebaut und irgendwann ist es fertig. Und dann war das auch noch so ein Glücksfall mit Steve (Power, Produzent von „Magma“, Anm.d.Red.). Drei Wochen vor dem Mastertermin mussten wir eine Reihenfolge haben und wir haben hin und her überlegt. Irgendwann haben wir gesagt: Steve mach du das. Und er hat mit seiner grossen Musikalität die Reihenfolge der Songs so gewählt, als wären sie schon immer so komponiert worden. Ich weiß gar nicht mehr wie wir auf die Idee gekommen sind. Erst haben wir gesagt: Wir wagen es einfach das Album zu spielen. Das ging, so beim Proben. Warum also nicht einfach die Reihenfolge, wenn die doch so gut ist? Das war schon fast so ein bißchen wie ein Konzept. Es war unsere Premiere, den Fans die neuen Lieder vorzustellen. Niemand konnte mitsingen, außer bei „Love & Peace“, da ging das schon. Und dann war das so herrlich zu sehen, wie zum Beispiel bei „Alles auf einmal“ oder „Wenn ich an Dich denke“ die Leute plötzlich den zweiten oder dritten Chorus mitsingen. Und man selbst auch nochmal kapiert wieso eigentlich ein Chorus. Wieso eigentlich so eine Wiederholung. So ein Lied ist ja auch so gebaut, damit man es erst hört und dann kennt man es beim zweiten Mal. Das war toll, wie die Fans mit den Ohren dran waren. Wir sind ja Musiker geworden, weil wir Musik lieben und hatten hin und wieder vielleicht auch jeder in seiner eigenen Laufbahn mal mehr oder weniger vergessen, warum wir das überhaupt angefangen haben. Irgendwann machst du sowas und dann musst du damit Geld verdienen und dann machst du dies und das. Argumente hat man sich zu eigen gemacht, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Wieso darf man nicht das oder das machen? Und das wurde jetzt alles so ein bißchen aufgerüttelt. Und dann standen die da mit ihren Ohren, haben das gehört und wir haben das neue Album gespielt und dann haben die auch noch geklatscht. In Echtzeit. Nicht virtuell über Snippets oder Downloads. Wir haben die Leute gesehen, wir haben gesehen wie sie reagiert haben. Bei jedem einzelnen Lied. Das ist doch toll. Als würdest du ein Gedicht schreiben, es vorlesen und gleich merken, ob es gut ist oder nicht.
Die Reihenfolge der Songs auf „Magma“ finde ich übrigens auch sehr schön gewählt. Das Album fängt relativ schnell an, dann gibt es einen etwas langsamen Mittelteil und zum Ende hin gibt es wieder Gas.
Leo Schmidthals: Ja, und der langsame Mittelteil kommt nicht zu früh. Bei mir wäre er etwas später gekommen. Aber so ist es perfekt.
Beim Konzert im Luxor bist du, Jan, mitten in die Leute gegangen und hast mit ihnen einen „Love & Peace“-Chor gesungen. Dabei hast du gesagt, dass der Chor noch mit auf’s Album kommt. Er ist aber auf dem Mix, den ich vorher bekommen habe noch nicht drauf. Kommt das noch?
Jan Plewka: Ja. Jetzt wo wir gerade hier sprechen mixt Steve in England die ganzen verschiedenen Städte mit auf das Album.
Ihr habt jetzt schon einiges darüber erzählt, aber gab es noch irgendwelche speziellen Momente, irgendwelche Katastrophen oder lustigen Absonderheiten während der „In Bed with Selig“-Tour?
Jan Plewka: In München, wo wir mit der Tour angefangen haben, da dachte ich: Ach wir müssen da irgend sowas Bett-mäßiges machen. Der Runner von dem Club hat mir dann ein Kissen besorgt. Ein Federkissen mit Daunen drin. Und wir gehen raus, das erste Mal, dass wir das „Magma“-Album live spielen, ich reiße das Kissen auf und streue die Federn ohne Vorwarnung in die Menschenmenge. Die Band legt los, eine Wahnsinnsfreude, diese ganzen Federn im Raum und das Ding geht ab. Nach dem Konzert sind wir dann irgendwann von backstage wieder nach unten gekommen und dann saßen da die ganzen Jungs vom Club, leicht gereizt, in einem wahnsinnigen Federnhaufen. Die waren überall. In jeder Ritze, der ganze Boden war bedeckt. Wir konnten froh sein, dass wir abhauen konnten bevor die Putzkolonne kam. Und zu unserem Mischer kam sogar ein Mädchen, die meinte: Wenn wir jetzt in Amerika wären, dann wäre ich Millionärin, ich habe nämlich eine Daunenallergie. Zum Glück hatte sie vor dem Konzert noch ihre Medikamente genommen, sonst wäre sie wahrscheinlich mit einem Asthmaschock umgekippt. Danach haben wir das mit dem Kissen gelassen. Schön war auch zum ersten Mal wieder zusammen im Nightliner unterwegs zu sein. Das war wirklich eine Rock’n’Roll-Tour. Irgendwann meinte Leo zu mir: Ich habe gerade mit meiner Frau telefoniert und die hat mir das und das erzählt und irgendwie habe ich gerade das Gefühl, als wäre das hier die normale Welt und die da draußen sind alle verrückt (Gelächter). Aber das ist das Gefühl. Man ist momentan, man ist im Leben drin und es ist richtig was man tut.
Leo Schmidthals: Und alles immer so Jetlag-mäßig. Der Tag verschiebt sich ja so. Man geht irgendwie um Vier schlafen und schläft bis um Zwölf. Dann fragt man sich, wo dusche ich, gibt’s hier ne Dusche, dusche ich überhaupt (lacht)?
Jan Plewka: Was war Duschen überhaupt nochmal? (Gelächter)
Jetzt seid ihr ja wahrscheinlich normalerweise schon etwas Größer unterwegs. Man stellt sich so eine Tour ja allgemein sehr spannend vor. Man schläft in schicken Hotels, gibt Interviews, hat andere Promotermine, macht Soundcheck und abends rockt man mit den Fans die Hütte. Gibt es da auch Phasen von Langeweile oder gar Heimweh?
Leo Schmidthals: Nee, Heimweh gar nicht. Ich meine, das war jetzt ja nur eine Woche. Aber im Bus haben wir Filme geguckt, das war ganz toll. Um Sechs ist man fertig mit dem Soundcheck, um halb Neun fängt man an aufgeregt zu werden und dazwischen haben wir halt tolle Filme geguckt.
Zum Beispiel?
Jan Plewka: „Dark Shadows“, dieser Vampirfilm mit Johnny Depp. Großartig. Dann „Don’t Mess With The Zohan“, den haben wir glaube ich sogar zweimal geguckt. Und alles auf Englisch. Der Bus war aus Manchester und der Busfahrer auch. Das war auch schön, dass wir so einen englischen Spirit mit auf Tour hatten, weil wir vorher ja auch in England aufgenommen hatten.
Seid ihr überhaupt noch aufgeregt vor einem Auftritt?
Jan Plewka: Ja, die ganze Zeit. Konstant.
Wie äußert sich das dann?
Jan Plewka: Durch Nervosität und fast infantile Albernheit kurz vor dem Gig. Aber eine angenehme Nervosität. Kurz vor der Hysterie. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Der Schritt auf die Bühne, wo man dann wieder denkt: Oh wow ey, wir sind cool… aber was davor abgeht, das ist genau das Gegenteil davon (lacht).
Das „Love & Peace“-Video besteht aus vielen Schnipseln mit den Aufnahmen alter Helden und historischer Ereignisse.
Jan Plewka: Und wir wissen gar nicht wer das gemacht hat.
Wie ihr wisst gar nicht wer das gemacht hat? Das ist kein offizielles Video?
Jan Plewka: Nee, das ist kein offizielles Video.
Ach was! Und ich dachte die ganze Zeit das wäre ein offizielles Selig-Video. Mein Frage wäre nämlich gewesen: Die Rechte für all diese Aufnahmen zu bekommen muss doch eine wahre Sysiphusarbeit gewesen sein… das ist ja krass.
Leo Schmidthals: Ja, aber es ist super geworden. Fantastisch. Stoppel (Stephan Eggert, Selig-Schlagzeuger, Anm.d.Red.) hat gesagt, das ist das beste Selig-Video ever.
Wenn ihr euch eigene alte Aufnahmen anschaut wie beispielsweise die alten Rockpalast-Mitschnitte, was geht euch da durch den Kopf? Ich finde zumindest, dass ihr heute deutlich gesünder ausseht als damals.
Zustimmendes Gemurmel…
Jan Plewka: Wir hatten überlegt, ob wir das Konzert (16.05.1996 auf der Berliner Waldbühne, Anm.d.Red.) für die Rockpalast-DVD nehmen oder das vom Bizarre Festival. Zum Glück haben wir das vom Bizarre-Festival nicht genommen. Die Aufnahmen sind noch viel kaputter. Und das war nur einen Monat später.
Leo Schmidthals: Ich kann immer noch nicht verstehen, warum unser Umfeld das damals nicht gesehen hat. Unser Management, die Produzenten, die müssen doch gesehen haben wie wir da durch die Gegend laufen oder nicht? Die müssen doch mal sagen: Jungs, schlaft euch mal aus, macht mal halblang.
Jan Plewka: Ich meine, selbst die Punks in Altona, die ihre Hunde treten, die sind vor mir zurückgeschreckt. Ganz schlimm. Fertige Typen aus der Nachbarschaft (lacht). Aber musikalisch hatte das schon eine ungeheure Energie. So ist das wenn man alles gibt und die Welle reiten will. Vor allen Dingen das Alter spielt da eine Rolle. Du denkst ja wenn du jung bist, dass der Zustand, den du jetzt hast immer bleibt. Und dass der auch immer bleiben muss. Das ist eine unfassbare körperliche und geistige Anstrengung, die sich da ja auch deutlich abgezeichnet hat.
Leo Schmidthals: Was wir jetzt bei diesen Interviews auch gemerkt haben, wenn man so über die zweite oder gerade die dritte Platte redet… das ist jetzt die gefährliche dritte Platte. Gerade bei der dritten Platte haben wir diese dunklen Dämonen so ein bißchen heraufbeschworen. Eine dunkle Platte, ein schwarzes Cover, also wirklich düster. Wir sind damals ins dunkle Brüssel gefahren und fanden das toll. Aber es war auch ein bißchen gefährlich, weil die Dämonen dabei etwas die Überhand gewonnen haben. Heute gibt es dann ein Lied wie „Schwester Schwermut“, wo man das Thema anders behandelt, eher freundschaftlich die Melancholie empfängt und damit leben kann.
Jan Plewka: Dass man das so akzeptiert und auch weiß, das bleibt nicht für den Rest des Lebens sondern geht auch wieder vorbei.
Mir kommt da vor allem die neue Single „Alles auf einmal“ in den Sinn, wo ja auch viel von Selbstbetrug die Rede ist und von Leichtsinn und einem Leben im Überflug, was ja auch in die Phase vor 1999, also vor eurem Split, reinfällt. Musstest du dir die alten Dämonen damit noch einmal bewusst machen, um sie dieses Mal zu vermeiden?
Jan Plewka: Ja, das auch, als eine Warnung für einen selbst. Wir waren in Wilhelmsburg und haben geredet, was denn so Themen sind. Was ist gerade die Zeit? Und Christian meinte, dass man immer zuviel, zuviel, zuviel will. Und dann sind wir zurück ins Studio gegangen und dann war dieses Lied da. Dass soviele Leute das jetzt so persönlich sehen ist angemessen, denn ich hatte das. Ich hatte einen Burn-Out. Was jetzt um einen rum passiert, im Bekanntenkreis, ich kann das vollkommen nachvollziehen. Ich kann dir auch sagen, wer den nächsten Burn-Out kriegt. Wenn man selbst diese Krankheit überwunden hat, mehr oder weniger, ist es ja fast eine Pflicht, dass man das teilt, um da vielleicht einen Tipp zu geben. Vielleicht hört das Lied jemand und der sagt: Oh, so geht mir das auch, vielleicht sollte ich jetzt mal für einen Tag mein Handy einfach ausschalten. Weißt du, wenn das nur zwei Leute machen, dann hat es sich schon gelohnt. Und dafür sind wir Menschen ja da, um Empfindungen zu geben und zu nehmen. Dafür sind wir ja angetreten als Musiker.
Leo Schmidthals: Ich muss auch sagen, es ist ein allgemeines Thema. Das ist ja fast bei jedem so. Ich war im November das erste Mal wieder zwei, drei Wochen am Stück richtig zuhause und habe gemerkt, wie alle die Batterien waren. Wo bleibt die Zeit zu verweilen und zufrieden zu sein? Das ist wirklich ein rares Gut zu sagen, ich mache alle Computer aus, ich mache eine gute Platte an, eine Flasche Wein auf oder ich mache gar nichts. Ich leg mich in die Wanne. Wo bleibt diese Zeit? Überall werden Anforderungen an dich gestellt. Die Welt wird halt hektischer. Auch durch diese ständige Medienverfügbarkeit.
Jan Plewka: Oder mal eine richtig schöne gepflegte Langeweile. Weißt du, wie damals Sonntags, draußen regnet es und die totale Langeweile. Aber was da für Ideen kommen. Der Mensch braucht Langeweile um Ideen zu kreieren. Langeweile gibt es ja gar nicht mehr. Langeweile stirbt aus. (beugt sich ganz nahe an mein Mikro) Selig ist für eine schöne gepflegte Langeweile! Was nicht heißen muss, dass die Platte auch langweilig ist (lacht).
Am 01.02. erscheint das neue und insgesamt sechste Selig-Album namens „Magma“!
Ich habe „Magma“ jetzt schon gefühlte fünfzig Mal gehört und ohne euch Honig um den Bart schmieren zu wollen, aber das Ding ist echt der Hammer.
Jan Plewka: Red weiter (Gelächter)! Also wir Fünf sind ja selbst unsere größten Kritiker.
Leo Schmidthals: Und deshalb macht so eine Interviewreise ja auch Spass. Das ist ja letztenendes wie ein kleines Konzert. Du hast die jetzt fünfzig Mal gehört, das heißt du kennst die schon recht gut und bist vom Fach. Da ist es natürlich toll sowas zu hören. Und das von jemandem der ein Foo Fighters T-Shirt an hat (lacht). Also alles richtig gemacht.
Hat der Albumtitel eine tiefere Bedeutung oder ist euch der mal morgens beim Frühstück eingefallen?
Jan Plewka: Auf einer Bahnfahrt von Hamburg nach Berlin. Wir saßen im Zug und reden uns dabei immer die Köpfe heiß. Wo es um die Band geht, wie geht es damit weiter und dies und das. So richtig mit Leidenschaft. Wir dachten: Dieses Ding zwischen uns das ist doch schräg, das ist nicht normal und wir müssen das irgendwie mal benennen, das Kind sichtbar machen. Selig ist quasi der Familienname. Aber wie soll man die Seele dieser Familie nennen, den Kern? Und dann kam „Magma“. Wie aus heiterem Himmel. Das trifft es. Also lasst uns die nächste Platte „Magma“ nennen und wir schreiben mal ein Jahr Lieder, Lieder, Lieder. Alles was nicht mit „Magma“ zu tun hat fliegt wieder raus. Eine Zeitlang waren wir sogar davon überzeugt, dass wir uns „Magma“ nennen sollten. Und die Platte nennen wir „Selig“. Aber es gibt schon eine Band die „Magma“ heißt. Und auch unser Management und unsere Familien waren nicht gerade begeistert (lacht). So ist „Magma“ auf die Welt gekommen und im seligen Sprachgebrauch ist das etwas, das man eigentlich gar nicht ausdrücken kann. Es ist die Essenz zwischen uns. Und als wir mit Steve Power in England waren und die Songs eingespielt haben, hat er gesagt: That was quite good boys but put some more Magma in it. Und da wusste man sofort um was es geht.
Ihr habt es schon mehrfach erwähnt, dass ihr euch für „Magma“ zum ersten Mal seit der Neugründung wieder einen Produzenten mit ins Boot geholt habt. Wieso fiel die Wahl dabei auf Steve Power?
Jan Plewka: Der grössere Zusammenhang wollte, dass wir uns treffen. Wir haben viel gesucht. In Skandinavien, in Deutschland, bei Freunden. Mit vier Produzenten haben wir uns auch getroffen. Wir haben uns also so richtig reingehängt. Uns war klar, dass wir einen Produzenten haben wollen. Damit man sich selbst auf das Wesentliche konzentrieren kann. Unser Tontechniker, der dieses Elend ja mit angucken musste, meinte dann irgendwann: Ich kenne da einen, der wäre glaube ich geil für euch, Steve Power. Und wir: Steve Power? Was will der mit einer deutschen Band wie uns? Das ist der Rick Rubin Europas. Aber er hat nicht lockergelassen und ihm ein paar Sachen von uns geschickt. Und dann kam tatsächlich eine Antwort von Steve, dass er sich gerne mit uns treffen würde. Wahnsinn! Wir waren bei Leo im Studio in Hamburg und dann kommt Steve Power rein. Und vom ersten Moment an war alles klar. Das ist wie wenn du eine neue Wohnung betrittst und weißt, das ist mein Zuhause. Er hat die gleiche Leidenschaft wie wir. Das Vertrauen war von Anfang an da und das ist das wichtigste.
Leo Schmidthals: Er war beim Entstehungsprozeß dabei und hat uns dann zwei Tage lang in Hamburg besucht, als wir alles soweit fertig hatten. Wir hatten zweiunddreißig Songs mit Textinhalt und über vierzig Skizzen. Und dann haben wir ihm alles vorgespielt.
Wie muss man sich bei euch den Prozeß von der Idee bis zum fertigen Song vorstellen? Woher nimmst du, Jan, die Ideen für deine Texte? Ist es so, dass du ständig mit dem Notizblock im Anschlag durch die Gegend läufst?
Jan Plewka: Das ist eine total anstrengende geistige Arbeit die Texte so hinzukriegen, dass sie leicht klingen. Teilweise ist es wirklich zum Verzweifeln. Aber wie gesagt, ich bin da selbst mein grösster Kritiker und ich möchte dass die Lieder auch in zehn Jahren noch Bestand haben und mit der Musik eine Ehe eingehen. Dass alles sitzt.
Leo Schmidthals: Wir haben gemerkt was da drinsteckt, als wir versucht haben die Lieder für Steve Power zu übersetzen. Und wenn man dann versucht so einen Chorus zu übersetzen dann merkt man, das geht eigentlich gar nicht. Weil Deutsch tatsächlich auch eine sehr poetische Sprache sein kann und sehr fein. Das ist echt eine Erkenntnis, wie einzigartig Jan die Sachen auch verwebt. Es geht alles so ineinander. Wir haben es jedenfalls nicht geschafft.
Aber wenn man englische Texte ins Deutsche übersetzt, dann klingen die auch oft scheiße.
Jan Plewka(singt): Oh, oh, oh, ich lieb dich so, komm gib mir deine Hand. (wieder normal) Kennt ihr das von Bowie wo er „Heroes“ auf Deutsch singt? Das ist eine sensationelle Aufnahme.
Was gefällt euch mehr? Im Studio an neuen Songs zu feilen oder auf der Bühne die Sau rauszulassen? Oder kann man das nicht miteinander vergleichen?
Jan Plewka: Das Schöne ist ja, dass es beides gibt. Beides macht wahnsinnig viel Spass. Wenn man im Studio ist, dann ist die Vorfreude auf die Bühne schon wieder da und wenn man auf der Bühne ist freut man sich schon wieder auf das Studio. Das könnte ein Leben lang so weitergehen.
Ihr habt euch 1992 gegründet, seid also jetzt seit zwanzig Jahren zusammen, wenn man die Pause zwischendurch mal außer Acht lässt. Was tut man, um es so lange friedlich miteinander auszuhalten?
Jan Plewka: Um es in so einem Beruf so lange auszuhalten muss man schon ganz schön einen an der Waffel haben (Gelächter). Was für eine Anstrengung das alles ist. Man muss das lieben, man muss eine ganz, ganz große Leidenschaft dafür haben. Das ist einer der Hauptfaktoren.
Dann kommen wir zur letzten Frage. Wenn ihr ab morgen für den Rest eures Lebens auf einer einsamen Insel leben müsstet und nur fünf Alben mitnehmen dürftet, welche wären das dann? Eigene Alben zählen natürlich nicht.
Leo Schmidthals: Ich glaube, ich würde auf jeden Fall „Tristan und Isolde“ mitnehmen.
Jan hast du nicht zuletzt auch was am Theater gemacht?
Jan Plewka: Immer noch. In Wien singe ich die „Winterreise“ von Schubert. Das ist auch irre.
Okay, zurück zu den Alben. Also „Tristan und Isolde“…
Jan Plewka: Auf jeden Fall auch „Meddle“ von Pink Floyd. Dann würde ich „Goats Head Soup“ von den Rolling Stones mitnehmen. Das ist echt das beste Album von den Stones. Welche Beatles-Platte kann man mitnehmen? Davon auf jeden Fall auch eine. Und „Best Of Bowie“ würde ich mitnehmen. Und „Second Coming“ von den Stone Roses.
Bravo! Dann war es das. Vielen Dank für eure Zeit!
Ein dickes Dankeschön geht hiermit auch an Isabel Sihler von Belle Music, die dieses Interview für uns möglich gemacht hat und an Alexandra Dörrie von Another Dimension für die Betreuung vor Ort!
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