Wenn man einen seiner persönlichen Helden live erlebt, dann ist es manchmal schwierig mit der Objektivität. Ich will es trotzdem versuchen. Deshalb wird dieser Konzertbericht auch etwas länger als gewöhnlich. Das nur als Warnung vorweg. Dabei hat meine Heldenverehrung für Eddie Vedder in den letzten Jahren stark gelitten und ist einer kritischen Auseinandersetzung gewichen. Seine Stammkapelle Pearl Jam hat vor sechs Jahren ihr letztes Album veröffentlicht und befindet sich seitdem offensichtlich in einem kreativen Loch. Eddie Vedder selbst ließ zuletzt vor zwölf Jahren musikalisch aufhorchen, als er einen grandiosen Soundtrack zum Film „Into The Wild“ seines Kumpels Sean Penn beisteuerte. Über seine „Ukulele Songs“ von 2011 hüllen wir an dieser Stelle lieber den Mantel des Schweigens. Dennoch besitzt der 54-Jährige nach wie vor eine immense Strahlkraft. Die Konzerte seiner aktuellen Solotour durch Europa waren nahezu alle innerhalb kürzester Zeit ausverkauft und die Düsseldorfer Mitsubishi Electric Halle macht da heute keine Ausnahme.
Vieles dabei erinnert an ein Konzert mit Pearl Jam. Zum einen variiert Vedder jeden Abend seine Setlist. Wenn ich mir für diesen Tag eine hätte aussuchen dürfen, dann hätte ich in weiten Teilen die gleiche Wahl getroffen wie er. Dass er sich bei dem einen oder anderen Song im Text verhaspelt, ist jedem Pearl Jam-Konzertgänger ebenfalls vertraut. Genauso wie seine Vorliebe für Rotwein auf der Bühne oder die Tatsache, dass er sich manchmal in seinen Ansagen verliert und am Ende nicht mehr so recht zu wissen scheint, was er am Anfang eigentlich sagen wollte. Das alles kann man sympathisch finden. Weniger sympathisch ist da sicherlich der Ticketpreis, der im dreistelligen Bereich liegt. Wenn man bedenkt, dass Vedder mit Pearl Jam einst gegen den Monopolisten Ticketmaster um faire Ticketpreise gekämpft hat, dann darf man an dieser Stelle schon ins Grübeln geraten. Zu dieser Zeit Mitte der 1990er Jahre wäre ein Solokonzert von Eddie Vedder übrigens noch undenkbar gewesen. Damals nahm er eine Gitarre höchstens in die Hand, um darauf ein paar Alibiakkorde zu zupfen.
Zurück in die Gegenwart. An diesem Sonntag im Jahr 2019 stöhnt das Rheinland unter einer Hitzeglocke. So genießen viele Fans noch die frische Luft in den umliegenden Biergärten, als sich im Inneren der Halle Glen Hansard bereits durch sein Supportprogramm spielt. Schon jetzt wird das geschmackvolle Bühnenbild deutlich. Eine grosse Leinwand im Hintergrund, auf der später auch allerlei Projektionen zu sehen sein werden, wird von zwei Figuren umrahmt, die wie ägyptische Tempelwächter wirken. Die Beleuchtung ist sparsam gewählt und gaukelt eine intime Atmosphäre vor, die in der sterilen Mehrzweckhalle trotzdem nicht aufkommt. Dem gediegenen Anlass entsprechend ist das Konzert komplett bestuhlt. Als um kurz vor halb Zehn das vierköpfige Red Limo String Quartet seine Arbeit aufnimmt und den Reigen mit „Even Flow“ eröffnet, bricht sich die Vorfreude der gut 5.000 Fans in lautem Jubel Bahn, der zum Orkan anschwillt, als Eddie Vedder die Bühne betritt und als Opener gleich mal eine Gänsehaut-Version von „Long Road“ raushaut. Die Entenpelle bleibt auch während der folgenden „Love Boat Captain“, „Around The Bend“ und „Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town“ ein stabiler Begleiter. Besonders ersteres hat heute eine ganz besondere Bedeutung. Auf den Tag genau vor 19 Jahren starben beim Auftritt von Pearl Jam während des Roskilde Festivals in Dänemark neun Fans bei einem Massensturz. Die Band stand danach kurz vor ihrer Auflösung. Wie sehr dieses Ereignis nachwirkt, wird sich auch im weiteren Verlauf des Abends noch zeigen.
Zunächst aber macht Eddie Vedder im Wechsel mit eigenen und Pearl Jam-Songs weiter, darunter solche Live-Perlen wie „Wishlist“, „Off He Goes“, „I Am Mine“, Rise“ und insbesondere „Black“, zu dem er Glen Hansard zurück auf die Bühne bittet. Dazwischen streut er mit „I Won’t Back Down“ ein Tom Petty-Cover ein und widmet es Greta Thunberg. „Far Behind“ nutzt Vedder zu einer verbalen Abrechnung mit Donald Trump, interessanterweise ohne dabei dessen Namen zu erwähnen. Die Fans singen an vielen Stellen begeistert mit und lassen sich immer wieder zu Standing Ovations hinreißen. Vedder bedankt sich im Gegenzug, indem er grosszügig Gitarrenplektren in die Menge wirft oder Becher mit Wein verteilt. Das wirkt stellenweise allerdings etwas überzogen. Wenn er huldvoll in die Menge winkt und Hände schüttelt, dann ist das auf Dauer eine Spur zuviel Pathos und erinnert mich eher an diesen bärtigen Typen aus der Bibel als an den bodenständigen Eddie Vedder, den ich vor fast dreißig Jahren kennengelernt habe. Musikalisch ist das allerdings auch drei Jahrzehnte später noch über jeden Zweifel erhaben und dass Vedder’s Stimme ebenfalls nach wie vor einzigartig ist, kann man auch mal extra erwähnen. Wer noch einen Beweis dafür benötigt, der bekommt ihn spätestens mit dem wütenden „Porch“ zum Ende des Mainsets geliefert.
In der Pause vor den Zugaben läuft auf der Leinwand eine Collage mit Fotos der bisherigen Stationen seiner Europa-Tour bis das Red Limo String Quartet mit „Alive“ das Signal zum Weitermachen gibt. Eddie Vedder hat es verstanden und verteilt erstmal wieder eine Runde Wein, bevor er sich an die Orgel setzt und ein rotziges Cover von Fugazi’s „I’m So Tired“ in die Halle bläst. Während „Imagine“ von John Lennon wird diese von Tausenden Handytaschenlampen illuminiert. Nein, ich fange jetzt nicht mit den Wunderkerzen und Feuerzeugen von früher an. Es ist der einzige Moment des Abends, an dem es erlaubt ist sein Smartphone zu benutzen. Ansonsten ist Filmen und Fotografieren strengstens untersagt. Das ist deshalb wohltuend, weil es bedeutet, dass man nicht mit der Erkenntnis nach Hause gehen muss, die Hälfte des Konzerts durch die Handydisplays der Umstehenden verfolgt zu haben. Zur vierten und letzten Coverversion des Abends gesellt sich nochmal Glen Hansard zu Vedder, handelt es sich mit „Song Of Hope“ doch um eines der schönsten Lieder des Iren. Hansard bleibt dann auch gleich da und gemeinsam singen die beiden Freunde „Society“ aus dem „Into The Wild“-Soundtrack. Die Hallenbeleuchtung ist inzwischen komplett an und auch das ist eine weitere Parallele zu Pearl Jam, die ihre Konzerte für gewöhnlich ebenfalls bei vollem Saallicht beenden. Eddie Vedder’s Schlusspunkt heißt „Hard Sun“ und als er sich gegen 23.30 Uhr mit einem für sein Alter gewaltigen Luftsprung verabschiedet, ertappe auch ich mich dabei, wie ich in die „Eddie, Eddie“-Sprechchöre einfalle. Bereits jetzt hätte ich für mich ein insgesamt positives Fazit unseres Wiedersehens gezogen, aber dann lässt es Eddie Vedder nochmal so richtig emotional werden.
Als er für den allerletzten Song auf seinem Barhocker Platz nimmt, merkt man ihm schon an, dass er mit seinen Gefühlen kämpft. Es ist mucksmäuschenstill, als er mit stockender Stimme beginnt von den Geschehnissen in Roskilde zu erzählen. Minuten vor ihrem damaligen Auftritt hatten Pearl Jam zu ihrer grossen Freude erfahren, dass ihr guter Freund Chris Cornell Vater einer gesunden Tochter geworden war und dann passierte das Schlimmste, was der Band jemals hätte passieren können. Er erinnert an die neun Fans, die damals ihr Leben verloren und gratuliert Lillian Jean Cornell zu ihrem Geburtstag, indem er eine wundervolle Version von „Seasons“ singt, ein Stück, das ihr Vater auf dem legendären „Singles“-Soundtrack veröffentlicht hat. Nach zwei Stunden und zwanzig Minuten bedeutet dies den würdigen Abschluss eines in vielerlei Hinsicht denkwürdigen Abends.
Was bleibt ist die etwas überraschende Gewissheit, dass ich Eddie Vedder trotz seiner überzogenen Heilsbringer-Attitüde immer noch mag. Eigentlich sogar sehr. Obwohl ich seine Songs im Laufe der Jahre bis zum Erbrechen gehört habe, bringen sie immer noch etwas in mir zum Klingen und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Jedenfalls bin ich mir fast sicher, dass ich in diesem Jahr kaum noch eine ähnlich intensive Konzerterfahrung machen werde wie heute und ich vermute, dass es dem Großteil der Fans in Düsseldorf ähnlich ergehen wird. Man könnte es auch so ausdrücken, wie es der Zwischenrufer etwa in der Mitte des Konzertes getan hat: „Meine Fresse, ist das geil“.