Erschreckende fünfeinhalb Jahre ist es jetzt schon her, dass mit dem Album „F.E.A.R. (Fuck Everyone And Run)“ das letzte reguläre Studioalbum der britischen Band Marillion erschien. Ein Meisterstück, das eigentlich kaum zu toppen war. So ließ man sich auch Zeit mit dem neuen Werk. Zwischenzeitlich hatte das Rockquintett mit einem in Belgien beheimateten Streicherquartett namens In Praise Of Folly zusammen gearbeitet. Deren orchestrale Einsprengsel in die bekannten Artrock-Arrangements kamen bei den Fans so gut an, dass im Anschluss einige Tourdaten mit den Streicherinnen folgten und es gar eine Compilation von Neuaufnahmen unter dem Titel „With Friends from the Orchestra“ gab.
So weit – so gut. Folgt jetzt im Jahr 2022 die Rückkehr zur puren Lehre des Rock? Nicht unbedingt, denn es war schon immer eine große Stärke von Marillion, sich stetig weiterzuentwickeln. Mit Neoprog hat ihre Musik nach dem Ausstieg von Fish im Jahr 1988 nichts mehr zu tun. Die progressive Ausrichtung gestaltete sich unter Steve Hogarth eher in Richtung Artrock und Melodic Rock. Highlights wie „Brave“, „Afraid of Sunlight“, „Marbles“ und eben „FEAR“ waren die Folge.
Das neue Album wurde wie sein Vorgänger in Peter Gabriels Real World Studios aufgenommen. Der Titel des (je nach Zählung) zwanzigsten Studioalbums der Band hat eine vielseitige Bedeutung. Im englischen Sprachgebrauch handelt es sich dabei unter anderem um die letzte Stunde, in der man als Kind draußen spielen darf. Es ist aber sicher auch eine Anspielung auf den Kampf gegen die Zeit in der Klimakrise. Und geht es hier nicht auch um die letzten Minuten im Leben eines Menschen? Bassist Pete Trewavas hat uns im Interview die Idee folgendermaßen erklärt: „Die Aussage hat verschiedene Bedeutungen – und so ist es bei allen Songs auf dem Album. Alles hängt zusammen und das macht die Magie des Albums aus.“
So wird das neue Werk zum konzeptionellen Album, das sich den Problemen unserer Zeit auf verschiedene Weise nähert. „Reprogram The Gene“ befasst sich mit der Klimakatastrophe. Unglaublich, dass der Titelsong des ersten Marillion-Albums mit Hogarth vor 33 Jahren ebenfalls dieses Thema behandelte („Season’s End“). Gleich zwei Songs beschäftigen sich unterschwellig mit der Corona-Pandemie. „Murder Machines“ betrachtet die Menschen als Gefahr für sich selbst, wobei es auch darum geht, einen anderen mit seiner Liebe zu erdrücken („I put my arms around her and I killed her with love“). Ebenso groß im Pathos ist das abschließende „Care“ als Quasi-Titelsong des Albums, der allen Helfern und Pflegern („Angels on Earth“) gewidmet ist.
Wie von Marillion gewohnt, bekommt man kaum eine Verschnaufpause. Nur das Instrumental „Only A Kiss“ lässt den Hörer kurz zur Ruhe kommen. Die sechs großen epischen Tracks sind deutlich songorientierter als manche Titel von „FEAR“, die doch bisweilen arg zerstückelt wirkten. Auch hier gibt es mit Überschriften versehene Einzelkapitel in den Longtracks (siehe Tracklisting ganz unten), aber die Songs wirken eher als Einheit und sind nur thematisch unterteilt.
Das schon als Single-Auskopplung bekannte „Be Hard On Yourself“ ist kraftvoll und mit starken Lyrics versehen. Neu ist die Integration eines Chores namens Choir Noir, der stilvoll und sphärisch in die Arrangements integriert wird. Wie die Streicherinnen von In Praise Of Folly, die auch wieder mit dabei sind, hat er seine Beiträge aus der Ferne eingespielt und Produzent Mike Hunter hat sie in das musikalische Geschehen eingewebt. Selbst Meistergitarrist Steve Rothery war diesmal aus Pandemie-Gründen nicht durchgehend im Studio. Das tut allerdings seinen genialen Solo-Einlagen keinen Abbruch.
Klar gibt es Höhen und Tiefen, vor allem in der dynamischen Entwicklung des Albums. Zwei getragene Songs läuten die zweite Albumhälfte ein: „The Crow And The Nightingale“ ist eine Hommage an Leonard Cohen. „Sierra Leone“ bietet einen cineastischen Sound mit melancholischen Klängen. Doch der hymnische Charakter des Albums überwiegt und die 55 Minuten vollendeten Sounds wirken dann am besten, wenn man das Werk am Stück hört. Man darf gespannt sein auf die Konzerte im Herbst und auf die Herangehensweise der Band an die Songs.
Nach mehreren Marillion Weekend Terminen bis Sommer 2022, begeben sich Marillion im Herbst auf große Europatour mit vier Daten in Deutschland:
Am 4. März 2022 erscheint mit „An Hour Before It’s Dark“ das neue Album von Marillion. Wir hatten acht Tage vorher, am 24. Februar, die Gelegenheit zu einem längeren ZOOM Call mit dem Bassisten Pete Trewavas. Ein seltsamer Tag, der ganz unter dem Eindruck einer russischen Invasion in der Ukraine stand. Und doch stand uns Pete Rede und Antwort zum Album und zu seinem zweiten Projekt Transatlantic, das ihn ebenfalls gut auf Trab hält. Das Interview führte Andreas Weist.
Hallo Pete. Wir haben uns zuletzt im Dezember 2019 in Essen gesehen. Das war euer letzter Auftritt für lange Zeit.
Es war eine schöne Tour damals mit dem kleinen Orchester, unseren „Friends From The Orchestra“. Das habe ich sehr genossen. Schön, wieder mit dir zu sprechen.
Wie ist es dir seitdem ergangen?
Tatsächlich war ich sehr beschäftigt. Mal abgesehen vom Lockdown, der aber dazu führte, dass wir mehr Zeit mit dem neuen Marillion Album verbrachten. Außerdem war ich sehr mit dem neuen Transatlantic Album beschäftigt, das wir in dieser Zeit aufgenommen haben.
Auf jeden Fall war es eine seltsame Zeit und wir waren auch sehr frustriert, denn wir wollten unbedingt das Album rausbringen. Die Themen, mit denen wir uns beschäftigt haben, waren sehr aktuell und wir wollten nicht, dass sie an Relevanz verlieren. Aber das haben sie wohl auch nicht. Wenn sie auch etwas sekundär geworden sind nach dem Chaos, das wir heute erleben müssen
Du meinst den Krieg in der Ukraine?
Genau. Niemand hätte doch jemals gedacht, dass so etwas wirklich passieren wird. Also ich zumindest nicht.
Mark Kelly und Ian Mosley haben ihre Biografien geschrieben. Auch Steve Hogarth ist schon länger mit seinen Tagebüchern am Start. Hat es dich nicht auch gejuckt, in dieser konzertlosen Zeit unter die Schreiber zu gehen?
Nein. Ich verbringe meine Zeit lieber damit, Musik zu schreiben. Das ist auch bequemer. Seltsamerweise haben mich aber viele Leute nach einem Buch gefragt. Sie sagten, es sei ein Vermächtnis für die Familie und die Freunde, wenn man seine Gedanken niederschreibt. Damit auch die Enkel verstehen, was man mit seinem Leben gemacht hat.
Aber ich denke, du lieferst dein Vermächtnis mit deiner Musik.
Ja, das stimmt. Musik ist einfach ein riesiger Teil meines Lebens. Schon als ich noch sehr jung war, war sie eine große Inspiration. Und ich habe Musik nicht einfach nur geliebt. Von Beginn an habe ich sie auch verstanden. Die Sprache der Noten. Mein Vater war Pianist und spielte Saxofon. Allerdings habe ich ihn nie am Saxofon gehört. Er hat das Instrument verkauft, um einen Verlobungsring zu kaufen. Eine sehr schöne Geschichte.
Ich habe also auf dem Piano geübt. Ich hatte auch Klavierstunden, aber ich habe es gehasst. Ich wollte alles für mich selbst entdecken und ich habe gefühlt, dass ich das kann.
Hast du dir auch den Bass selbst beigebracht?
Im Prinzip schon. Ich hatte ein paar Gitarrenstunden von einem Typen namens Keith. Er hat mir einige Akkorde gezeigt. Eigentlich wollte meine Schwester Gitarrespielen lernen und ich durfte dabei sitzen. Wenn sie dann die Gitarre beiseite gelegt hat, habe ich sie genommen und geübt. Was sie recht schwer fand, fiel mir leicht. Ich habe mit sieben angefangen, Gitarre zu spielen. Ich habe Songs von den Beatles und den Monkees gehört. „Last Train To Clarksville“ war damals ganz aktuell. Ich hatte ein gutes Ohr für die Musik und konnte alles nachspielen.
Die Fans schauen ja auch gespannt darauf, was mit Transatlantic passiert. Gibt es da Tourpläne nach dem Album “The Absolute Universe”?
Wenn alles gut geht, werden Marillion im April eine Convention in Polen spielen. Dann werde ich umgehend nach Amerika fliegen und es wird eine kleine Tour mit Transatlantic geben. Wir werden auch an zwei Abenden Headliner beim „Morsefest“ sein und auf der Kreuzfahrt „Cruise To The Edge“ werde ich mit beiden Bands spielen. Du merkst also, ich bin sehr beschäftigt. Ich muss ja auch alle Songs lernen.
Dann wird es weitere Marillion Conventions geben. In Schweden, Portugal, Leicester (UK) und in Montreal. Und mit Transatlantic gehen wir auf eine kleine Tour durch Europa. Die Priorität liegt aber ganz klar bei Marillion und im Moment promoten wir das neue Album. Es gibt eine große Resonanz in den Medien. Das freut uns.
Ich finde es ist ein großartiges Album, das alle Aufmerksamkeit verdient hat.
Oh danke. Ja, wir sind auch sehr stolz auf das Album. Wir sind die Sache diesmal anders angegangen. Auf „F.E.A.R.“ haben wir die Musik atmen lassen. Wir haben sehr lange Geschichten erzählt wie beispielsweise „The New Kings“. Das ist ein Song, der im Moment wieder sehr aktuell ist weil er vom russischen Geld in Europa erzählt.
Das neue Album „An Hour Before It’s Dark“ ist eher songorientiert, oder?
Ja. Es ist anders. Der Titelsong erinnert mich an die frühen YES. Er trägt eine chaotische Energie in sich und die Musik kann überall hin gehen. Wir wollen uns von Album zu Album verändern und uns auch selbst überraschen. Es passiert viel in den Raum, wenn wir zusammen sind und Musik schreiben. Normalerweise setzen wir uns nicht einfach zusammen und haben vor, einen bestimmten Song zu schreiben. Vielmehr lassen wir die Ideen fließen und jammen zusammen. Wir schauen, was passiert, und lassen die Musik ihren eigenen Weg finden. So verbringen wir oft drei oder vier Jahre, bevor wir ein Album zusammenstellen.
Unser Produzent Mike Hunter ist sozusagen das sechste Bandmitglied. Er sammelt die Ideen und schneidet alles mit. Er ist unsere Bücherei. Außerdem ist jedes Schnipsel unserer Musik in einer Cloud und wir alle können jederzeit drauf zugreifen. Irgendwann fügt sich dann alles zusammen und das Album entsteht.
Man hört, Steve Rothery sei aus Gründen der Pandemie nicht so oft im Studio präsent gewesen. Habt ihr dann aus der Distanz gejammt und geschrieben?
Ja, das stimmt tatsächlich. Wir haben schon sehr früh entschieden, uns zu isolieren. Schließlich sind wir alle in einem Alter, in dem die Krankheit Probleme bereiten kann. Vor allem Steve Rothery war sehr gefährdet. Inzwischen sind wir aber alle voll geimpft – inklusive Booster – und fühlen uns sicher. Am Anfang der Pandemie hatten wir uns aber entschieden, nicht alle zusammen im Studio zu sein. Obwohl es sehr groß ist und wir es mit Trennwänden coronakonform ausgestaltet haben. Wir haben die Räume gut belüftet und Masken getragen. So konnten wir nach einiger Zeit wieder zusammen im Studio sein, aber Steve Rothery war nicht dabei.
In dieser Zeit haben wir stärker an den keyboardlastigen Stücken gearbeitet. Und wir haben uns auf die lyrische Struktur konzentriert Trotzdem konnten wir immer auf Steves Aufnahmen zugreifen. So hat das in dieser Zeit funktioniert. Aber frustrierend war es schon, weil wir unsere Ideen nur über Zoom diskutieren konnten. Als wir alle wieder zusammen waren, wurde die Arbeit auch wieder einfacher.
Auf dem neuen Album habt ihr erstmals mit einem Chor gearbeitet. Wie lief das ab? Waren die Sänger bei euch im Studio oder habt ihr digital mit ihnen gearbeitet?
Der Chor war Mikes Idee. Er wurde auf den Choir Noir aufmerksam und hatte eine ziemlich klare Idee, wie sie klingen sollten. Sehr gotisch und disharmonisch mit Close Harmonies. Sie waren nicht im Studio und haben uns ihre Teile von zuhause aus zugeschickt. Der Chor ist es ohnehin gewohnt, digital zu arbeiten. Es sind acht Stimmen, aber manchmal haben wir sie doppelt übereinander gelegt, um mehr weibliche Stimmen zu haben.
Außerdem waren die Streicherinnen von In Praise Of Folly wieder dabei, mit denen wir in der Vergangenheit schon zusammen gearbeitet haben. Sie haben auch digital eingespielt. Mike hat ihnen grob ausgearbeitet Teile zugeschickt und sie haben daran gefeilt und uns Vorschläge zugeschickt. Außerdem war ein Harfenspieler mit dabei und ein Perkussionist. Mike hatte den Überblick und brachte alles zusammen.
Mike Hunter kennt euch schon sehr gut. Ich denke, seit dem „Brave“ Album.
Oh ja, da war er noch sehr jung. Später haben wir ihn dann wieder dazu geholt, um Dave Meegan beim „Marbles“ Album zu unterstützen. Wir haben großes Vertrauen in ihn und er mischt auch unsere Livealben ab. Er ist ziemlich im Einklang mit allem, was wir tun, und er macht einen fantastischen Job. Die letzten drei Alben klingen hervorragend und Mike hat einen großen Anteil daran.
Lass uns noch über einige Songs sprechen. Mir gefällt die Idee des Albumtitels. Es sind nicht “2 minutes to midnight” wie bei Iron Maiden, sondern “One Hour Before It’s Dark”. Der Zeitpunkt, den Eltern bei ihren Kindern wählen, um sie nach Hause zu rufen.
Genau. Komm rein, es wird dunkel. Das haben meine Eltern auch zu mir gesagt und es wurde zum geflügelten Wort. Heute funktioniert das nicht mehr so. Die Kinder haben schon Smartphones und werden einfach angerufen. Früher hatten wir strenge Regeln und Anweisungen. Tu dies nicht, tu das.
Man kann den Titel also auf zwei Arten lesen: In einer Stunde ist alles dunkel. Oder: Kommt jetzt nach Hause, bevor es zu spät ist. Was ist deine Sicht?
Es ist eine unterschiedliche Interpretation und das ist die Schönheit des Albums. Die Aussage hat verschiedene Bedeutungen – und so ist es bei allen Songs auf dem Album. Alles hängt zusammen und das macht die Magie des Albums aus.
Den letzten Song “Care” findet ich sehr berührend. Es geht um die Pflegekräfte in der Pandemie. Was hat euch dazu bewogen, ihnen ein Denkmal zu setzen?
Ich denke, sie haben es einfach verdient. Sie haben so viele Menschen gerettet und tun es immer noch jeden Tag. Wir haben in unseren Ländern so viel Glück, dass die medizinische Versorgung so gut ist. Das ist nicht in allen Ländern so. Meine Frau war auch Krankenschwester und sie hatte diese Berufung: über sich hinaus zu wachsen, um anderen zu helfen. Die Pflegekräfte haben diese Herausforderung mit großer Leidenschaft auf sich genommen.
Auch “Murder Machines” dreht sich um Corona und Social Distancing. Ich habe das Gefühl, viele Bands vermeiden es, direkt über diese Thematik zu schreiben. Warum habt ihr euch dafür entschieden?
Wir haben die Pandemie natürlich schon zu Beginn diskutiert. Steve Hogarth wollte eigentlich keinen Text dazu schreiben, weil wir alle dachten, es sei eine vorübergehende Sache, die bei Erscheinen des Albums nicht mehr aktuell ist. Und überhaupt würde ja jede Band darüber schreiben. Und dann kam der Moment, in dem wir schon so lange mit der Pandemie lebten. Es wäre fast schon seltsam, wenn wir kein soziales Statement dazu hätten. Plötzlich wurde es zu einer großen historischen Sache, mit der wir alle leben mussten. Man spricht auch heute noch über die Pest. Wie in den 1920ern die Wall Street zusammenbrach und die Weltwirtschaftskrise begann, so gibt es in den 2020ern die Pandemie als Start einer neuen Ära.
Die Aussage von „Murder Machines“ kann viel bedeuten. Es geht zum Beispiel darum, jemanden mit zu viel Liebe zu erdrücken. Es kann auch darum gehen, eine Beziehung aufrecht zu erhalten, bis sie sich zum schlechten wendet. Oder es geht darum, jemandem zu nahe zu kommen und ihm den Virus zu übertragen.
“Seasons End” ist schon über 30 Jahre alt. Jetzt gibt es mit “Reprogram The Gene” wieder ein Stück über die drohende ökologische Katastrophe. Macht ihr euch gemeinsam Gedanken über solche Themen oder kommen diese Ideen meist von Steve Hogarth?
Die Lyrics schreibt Steve Hogarth und er fügt sie zu der Musik, wie es passt. In dem Song sprechen wir ganz klar vom ökologischen Zustand der Welt. Er ist aus der Sicht eines jungen Menschen geschrieben. Die jungen Menschen interessieren sich für das Thema, im Gegensatz zu den Regierungen und der Wirtschaft. Der Planet wird ausgebeutet und wir haben keinen anderen zur Verfügung.
Was sind eure Planungen für die Zukunft? Es wird mehr Marillion Weekends geben als sonst. Und dazwischen eine Tour. Dürfen wir etwas Besonderes erwarten?
Ich glaube, ich darf das sagen: Wir werden das neue Album in voller Länge auf den Weekends spielen. Mit 55 Minuten ist es eigentlich ein kurzes Album. Obwohl es sehr dunkle und melancholische Themen verarbeitet, ist es doch ein sehr lebendiges Album.
Vielen Dank für deine Zeit, Pete! Ich hoffe, wir sehen uns bei den Konzerten im Herbst und natürlich auch beim Marillion Weekend in Holland 2023. Ich wünsche euch viel Erfolg mit dem neuen Album!
Danke, Andi. Es war mir eine Freude. Das Weekend in Holland wird großartig werden.
Ein herzliches Dankeschön geht an Kai Manke für die Vermittlung des Interviews und an earMUSIC für Organisation und Schaffung der technischen Voraussetzungen.
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Das letzte Studioalbum „F. E. A. R. (Fuck Everyone and Run)“ ist eines der stärksten Alben, die Marillion herausgebracht haben (HIER unsre Review). Es bescherte der britischen Progband die erste Nummer 10 in den deutschen Charts und den ersten Top 5 Titel in UK seit über dreißig Jahren. Das ist jetzt allerdings auch schon wieder fünf Jahre her. Der Abstand zwischen zwei Marillion CDs steigt an – zumindest wenn man die reinen Studioalben betrachtet. Aber Marillion haben schon lange ihr eigenes Vertriebs- und Marketingkonzept entwickelt. Sie gelten gar als Erfinder des Crowdfundings im Musikgeschäft, seit sie sich um die Jahrtausendwende das Album „Anoraknophobia“ von Fans vorfinanzieren ließen. Viele Livealben gibt es nur im bandeigenen Shop zu kaufen und die treuen Fans weltweit sind stets bestens informiert.
Das zwanzigste Studioalbum ist derzeit in Arbeit und wird vielleicht noch im diesem Jahr erscheinen. Die Zeit dazwischen nutzen Marillion, um ein ganz besonderes Projekt auf die Beine zu stellen: Für ihre Fan-Weekends im Jahr 2017 hatten sie sich ein Streichquartett namens „In Praise of Folly“ engagiert, das einige Bandklassiker mit Arrangements von Michael Hunter und Kevin Halporn auf einen neuen Level brachte. Die Idee erwies sich als so erfolgreich, dass 2019 ein Album „With Friends from the Orchestra“ erschien, zu dem man neben besagtem Quartett auch noch den Hornisten Sam Morris und Emma Halnan an der Querflöte hinzu zog. In großer Besetzung gab es neue Studioaufnahmen bekannter und weniger bekannter Stücke (HIER unsre Review). Bei den Fans kam die Idee gut an und es folgten einige Livekonzerte gemeinsam mit den klassischen Musikern.
Legendär ist inzwischen der Mitschnitt aus der Royal Albert Hall 2017 mit dem Titel „All One Tonight“ (HIER unsre Review). Dieser ist in seiner beeindruckenden Show mit unvergleichbarer Leidenschaft und Energie vermutlich nicht mehr zu toppen, doch „With Friends At St David’s“ fängt zumindest den Reiz einer kleineren Konzertlocation ein. Das Klassik-Ensemble ist prominent inmitten der Band platziert und hat oft die musikalische Ausrichtung in der Hand. Da sind keine Eitelkeiten bei Sänger Steve Hogarth und seinen Mitstreitern zu erkennen: Sie überlassen gerne den jungen Frauen die Zügel und fügen sich in das musikalische Geschehen. Erneut wartet die Band nicht nur mit einer visuellen und akustischen Glanzleistung auf, sondern zeigt auch, dass durch das Überqueren musikalischer Grenzen wunderbare Freundschaften entstehen können, die Genres überwinden.
Der Mitschnitt erscheint über earMUSIC als 2CD Digipak, 3LP Gatefold (180g), Ltd. Coloured 3LP (Violet transparent), 2DVD und 2Blu-ray. Schon der auditive Genuss ist überragend. Songs wie „The Sky Above The Rain“, die bisher nie zu meinen Favoriten zählten, werden mit ihren orchestralen Parts wunderschön neu interpretiert und leben dadurch sehr auf. Der Rockkracher „Zeperated Out“ bekommt eine ganz neue Dimension durch die energische Performance und das Stakkato. „Fantastic Place“ verbreitet eine unglaublich heimelige Atmosphäre. Der 16. November 2019 bot in Cardiff vielleicht nicht die beste Setlist (mir fehlen definitiv einige Must-Haves wie „Afraid of Sunlight“ und „Neverland“), aber die Liveaufnahme vermittelt die ganze Stärke dieser besonderen Konzertreihe. Zwei weitere Tracks im Bonus-Bereich haben noch Besonders zu bieten: „Man of a 1000 Faces“ stammt vom Konzert in Paris und wartet mit einem stimmgewaltigen Chor auf und „Estonia“ gibt als Promofilm Einblick in die Studioarbeit der Band mit den klassischen Musikern.
Im DVD-Format kommt dann auch die mehr als respektable Lightshow mit Videoprojektionen zur Geltung. Und auf Blu-ray erzählt die Dokumentation „Making Friends“ die ganze Geschichte dieser schönen Zusammenarbeit. Steve Hogarth sagt zur Tour und zum Album: “Das war vielleicht unsere Lieblings-Tour bisher. Sie bot uns die Gelegenheit, von Zeit zu Zeit innezuhalten und uns darin zu verlieren, wie sechs “klassische” Musiker die wundervollen Arrangements unseres Produzenten Mike zum Leben erwecken. Das hat wirklich eine andere emotionale Ebene und oft auch eine spielerische Freude an unserer Musik erzeugt.”
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Schon bei ihrem legendären Marillion-Weekend im Jahr 2017 waren die Fans der britischen Progband begeistert von der Zusammenarbeit mit dem belgischen Streichquartett In Praise of Folly. Deren orchestrale Einsprengsel in die bekannten Artrock-Arrangements kamen bei den Fans so gut an, dass im Anschluss einige Tourdaten mit den Streicherinnen folgten (der Konzertmitschnitt von de Royal Albert Hall in London gilt jetzt schon als legendär) und für 2019 gar eine komplette Tour mit Gästen aus der klassischen Musik geplant ist, wobei die Band und das Quartett noch um dem Hornisten Sam Morris sowie Emma Halnan an der Flöte ergänzt werden.
Da Marillion keine halben Sachen machen, hat man neun der Songs, die jetzt auf der Tour geboten werden, mit den Orchestermusikern im Studio aufgenommen. Für Fans und solche, die es werden wollen, ist es ein wundervolles Klangerlebnis. Die Arrangements wurden nicht so stark verändert, wie man vermuten sollte. Kelly, Rothery und Co. können ihre instrumentale Stärke weiterhin voll ausleben, doch Streicher, Horn- und Blechbläser verfeinern das Ganze mit einer sehr eleganten Note.
„Estonia“ wirkt ohnehin schon emotional, doch die Streicher klingen wie eine zusätzliche Umarmung in Richtung der Hinterbliebenen. „A Collection“ ist ein unentdecktes Juwel aus den vielen B-Seiten der Band. „Fantastic Place“ und „Beyond You“ gehören zu den Lieblingssongs vieler Fans und klingen hier noch getragener als im Original. Gerade diese Titel erfahren eine neue Tiefe.
Dass „This Strange Engine“, einer der Keyboard-Kracher schlechthin, ebenfalls für eine Neuaufnahme ausgewählt wurde, ist eine echte Überraschung. Die vielen gesampelten Elemente bleiben auch erhalten, doch vor allem die Streicher entfachen eine enorme Energie in den lauten Passagen dieses Longtracks. Das erklingt mit viel Schmackes.
„The Hollow Man“ und „Sky Above The Rain“ sind balladeske Standards. Ersterer lebt ohnehin von den Pianoparts, die auch den zweiten Song sehr schmücken. Piano und Streicher ergänzen sich hervorragend, während Hogarth stimmlich alles aus sich raus holt. Ein wundervolles Beispiel dafür, warum es gut war, dieses Album im Studio aufzunehmen.
Den Abschluss bilden das klimapolitisch absolut aktuelle, aber schon dreißig Jahre alte „Seasons End“ mit Rotherys prägnanten Gitarrenklängen, gefolgt vom Longtrack „Ocean Cloud“, der offiziell auch als B-Seite gilt aber aus dem Repertoire der Band nicht wegzudenken ist. Sehr sphärisch und erzählend – als Hommage an Don Allum, den ersten Menschen, der den Atlantik in beiden Richtungen per Ruderboot durchquerte – führt „Ocean Cloud“ durch die Tiefen dieses Abenteuers. Und das Orchester kann die dramatischen Szenen in Form eines Soundtracks noch stärker wirken lassen.
Man hätte noch viele Titel auf dieses Album packen können, doch einige Stücke wurden ja schon auf „All One Tonight – Live at the Royal Albert Hall“ veröffentlicht. Wer sich auf die kommenden Konzerte, beispielsweise in Essen, einstimmen will, liegt hier goldrichtig. Wer keine Karten mehr bekommen hat (die Auftritte sind seit Monaten ausverkauft) kann das Album entspannt zuhause genießen. Eigentlich sollte es nur auf der Homepage der Band zu erwerben sein, doch der große Zuspruch der Fans veranlasste EARmusic, die CD auch als Digipack und sogar auf Doppel-Vinyl im freien Verkauf anzubieten. Eine gute Entscheidung, passt es doch von seiner Atmosphäre hervorragend in die besinnliche Zeit des Jahresendes.
Schaut euch auch die Videos an. Es macht große Freude, die jungen Streicherinnen von In Praise of Folly (drei Violinen, ein Cello) in ihrem Element zu bewundern. Man sieht, wie sie die kunstvollen Songs verstanden haben und um ihre Spielfreude bereichern.
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