Es scheint sich zu bewahrheiten, dass Marillion in jedem Jahrzehnt ihres Bestehens ein ultimatives Album schreiben, das sie in neue Sphären ihres musikalischen Schaffens führt. In den 80ern war dies definitiv „Misplaced Childhood“. Das Werk mit dem Hit „Kayleigh“, das die Band quasi über Nacht weltberühmt machte. Der damalige Sänger Fish verarbeitete in dem Konzeptalbum seine Jugenderinnerungen und für viele ist es das Aushängeschild des Neoprog schlechthin.
In den 90ern folgte mit „Brave“ wiederum ein fulminantes Konzeptwerk. Der damals noch recht frische Frontmann Steve Hogarth war inspiriert von einem Radiobericht über ein Mädchen, das orientierungslos auf einer Brück aufgegriffen wurde, und spann daraus eine Geschichte über Verzweiflung und Suizid. Eine moderne Rockoper aus verschachtelten musikalischen Themen – komplex und virtuos.
2004 erschien das von Fans vorfinanzierte Album „Marbles“. Mit drei Longsongs und verbindenden Musikthemen. Zwar kein Konzeptwerk, aber es hatte durchaus thematische Verbindungen zwischen den Songs. Die Idee der Vorfinanzierung war nicht neu. Die hatten Marillion quasi erfunden, als drei Jahre zuvor beim Vorgängeralbum 12.000 Fans eine CD bezahlten von der sie noch keinen Ton gehört hatten. Somit schließt sich jetzt ein Kreis. Die Idee des Crowdfundings ist zum florierenden Geschäftsmodell geworden. Mit PledgeMusic nutzen Marillion diesmal ein bestehendes Portal, das es vielleicht ohne ihre 15 Jahre alte Idee nie gegeben hätte. Und das Ergebnis ist ein Album, das im aktuellen Jahrzehnt den Platz des Ausnahmewerks einnimmt.
Ein Konzeptalbum? Urteilt selbst: Es trägt den Titel „FEAR“, eine Abkürzung aus „Fuck Everyone And Run“. Es geht um das Wegsehen und Davonlaufen. Auch darum, dass alles Übel der Welt aus Angst entsteht, während das Gute von der Liebe kommt. So enthält „FEAR“ fünf Songs, die sich in siebzehn Abschnitte gliedern. Mit fast sieben Minuten ist „Living In Fear“ quasi der kürzeste Titel. „Tomorrow’s New Country“ wird zwar als eigenständiger Song geführt, gehört aber zum Longtrack „The Leavers“.
Man braucht einige Zeit, um sich in das Album hinein zu hören. Der freundliche Promoter hat es mir schon vor Wochen zugeschickt – und es verließ meinen Player seitdem nur für kurze Auszeiten. „FEAR“ bietet alles, was sich der Fan progressiver Rockmusik von Marillion wünscht. Steve Hogarth zieht alle Register seines stimmlichen Könnens. Er schwelgt, belehrt, jammert und wütet. Er windet sich durch alle Tonlagen – manchmal kurz vor der Hysterie. Ebenso stark agiert Gitarrengott Steve Rothery. Seine Soli sind das Salz in der Suppe, während Bass und Keyboards unentwegt Atmosphäre kreieren.
Man hatte in den letzten Jahren häufig das Gefühl, dass Bands wie Gazpacho oder Riverside Marillion den Rang ablaufen. Hier wird die Rangordnung wieder gerade gerückt. Marillion liefern schlicht ein Meisterwerk, das die Zeit überdauern wird. „The New Kings“ war als viertelstündiger Vorabtrack schon zu hören (unter anderem auf den aktuellen Livekonzerten) und handelt von der Macht der Banken, die sich als neue Weltherrscher aufspielen. Atmosphärischer Beginn, ein durch und durch rockiges Ende. Megasong!
Ebenso wie „El Dorado“, das sich (für Marillion ungewöhnlich politisch) mit der Situation des Vereinigten Königreichs auseinander setzt. Und es wurde wohlgemerkt lange vor dem Brexit geschrieben. Dabei startet es wie ein fröhliches Songwriterstück, bevor die ganze Härte der Realität auf den Hörer einprasselt. Bilder von Menschen, die an der Grenze ausharren, um wieder existieren zu können. Gewaltig und verstörend.
„The Leavers“ widmet sich mit melancholischen Pianoklängen den Menschen, die immer wieder Abschied nehmen. Es verbreitet düstere Stimmung, die aber durch den Abschnitt „One Tonight“ aufgelöst wird. Während „El Dorado“ und „The New Kings“ das Album mit eindringlichen Botschaften nach vorne treiben, ist „The Leavers“ so etwas wie das gefühlvolle Mittelstück zum Innehalten.
Neben diesen langen Tracks drohen die Einzelsongs „Living In Fear“ und „White Paper“ fast unterzugehen. Doch sie sind bei weitem keine Lückenfüller. Vielmehr kleine Inseln zum Atemholen. Und gerade „White Paper“ lässt großen Interpretationsspielraum, den Steve Hogarth bewusst nicht öffnet. Es bietet etwas Mystik neben all den handfesten Aussagen des Albums.
Mit einem Song wie „Gaza“ vom Vorgänger (inzwischen vier Jahre alt), war die Öffnung der Band in eine politische Richtung vorgezeichnet. Dieser Schritt ist jetzt endgültig vollzogen. Marillion haben erneut ein Album geschaffen, das als Gesamtkunstwerk funktioniert. Man wird kaum einzelne Fragmente heraus ziehen können, um vielleicht ins Radio oder auf die Spotify-Hitlist zu gelangen. „FEAR“ ist ein Album, das man gefälligst am Stück hören muss. Und es bietet puren Genuss von fünf leidenschaftlichen Musikern. Manchmal wirft man Marillion vor, dass sie keine echten Songs schreiben sondern so lange im Studio jammen, bis sich aus musikalischen Fragmenten etwas Brauchbares entwickelt. Was soll’s? Wenn das Ergebnis solch geniale Musik bietet, können sie noch lange damit weitermachen.