Erschreckende fünfeinhalb Jahre ist es jetzt schon her, dass mit dem Album „F.E.A.R. (Fuck Everyone And Run)“ das letzte reguläre Studioalbum der britischen Band Marillion erschien. Ein Meisterstück, das eigentlich kaum zu toppen war. So ließ man sich auch Zeit mit dem neuen Werk. Zwischenzeitlich hatte das Rockquintett mit einem in Belgien beheimateten Streicherquartett namens In Praise Of Folly zusammen gearbeitet. Deren orchestrale Einsprengsel in die bekannten Artrock-Arrangements kamen bei den Fans so gut an, dass im Anschluss einige Tourdaten mit den Streicherinnen folgten und es gar eine Compilation von Neuaufnahmen unter dem Titel „With Friends from the Orchestra“ gab.
So weit – so gut. Folgt jetzt im Jahr 2022 die Rückkehr zur puren Lehre des Rock? Nicht unbedingt, denn es war schon immer eine große Stärke von Marillion, sich stetig weiterzuentwickeln. Mit Neoprog hat ihre Musik nach dem Ausstieg von Fish im Jahr 1988 nichts mehr zu tun. Die progressive Ausrichtung gestaltete sich unter Steve Hogarth eher in Richtung Artrock und Melodic Rock. Highlights wie „Brave“, „Afraid of Sunlight“, „Marbles“ und eben „FEAR“ waren die Folge.
Das neue Album wurde wie sein Vorgänger in Peter Gabriels Real World Studios aufgenommen. Der Titel des (je nach Zählung) zwanzigsten Studioalbums der Band hat eine vielseitige Bedeutung. Im englischen Sprachgebrauch handelt es sich dabei unter anderem um die letzte Stunde, in der man als Kind draußen spielen darf. Es ist aber sicher auch eine Anspielung auf den Kampf gegen die Zeit in der Klimakrise. Und geht es hier nicht auch um die letzten Minuten im Leben eines Menschen? Bassist Pete Trewavas hat uns im Interview die Idee folgendermaßen erklärt: „Die Aussage hat verschiedene Bedeutungen – und so ist es bei allen Songs auf dem Album. Alles hängt zusammen und das macht die Magie des Albums aus.“
So wird das neue Werk zum konzeptionellen Album, das sich den Problemen unserer Zeit auf verschiedene Weise nähert. „Reprogram The Gene“ befasst sich mit der Klimakatastrophe. Unglaublich, dass der Titelsong des ersten Marillion-Albums mit Hogarth vor 33 Jahren ebenfalls dieses Thema behandelte („Season’s End“). Gleich zwei Songs beschäftigen sich unterschwellig mit der Corona-Pandemie. „Murder Machines“ betrachtet die Menschen als Gefahr für sich selbst, wobei es auch darum geht, einen anderen mit seiner Liebe zu erdrücken („I put my arms around her and I killed her with love“). Ebenso groß im Pathos ist das abschließende „Care“ als Quasi-Titelsong des Albums, der allen Helfern und Pflegern („Angels on Earth“) gewidmet ist.
Wie von Marillion gewohnt, bekommt man kaum eine Verschnaufpause. Nur das Instrumental „Only A Kiss“ lässt den Hörer kurz zur Ruhe kommen. Die sechs großen epischen Tracks sind deutlich songorientierter als manche Titel von „FEAR“, die doch bisweilen arg zerstückelt wirkten. Auch hier gibt es mit Überschriften versehene Einzelkapitel in den Longtracks (siehe Tracklisting ganz unten), aber die Songs wirken eher als Einheit und sind nur thematisch unterteilt.
Das schon als Single-Auskopplung bekannte „Be Hard On Yourself“ ist kraftvoll und mit starken Lyrics versehen. Neu ist die Integration eines Chores namens Choir Noir, der stilvoll und sphärisch in die Arrangements integriert wird. Wie die Streicherinnen von In Praise Of Folly, die auch wieder mit dabei sind, hat er seine Beiträge aus der Ferne eingespielt und Produzent Mike Hunter hat sie in das musikalische Geschehen eingewebt. Selbst Meistergitarrist Steve Rothery war diesmal aus Pandemie-Gründen nicht durchgehend im Studio. Das tut allerdings seinen genialen Solo-Einlagen keinen Abbruch.
Klar gibt es Höhen und Tiefen, vor allem in der dynamischen Entwicklung des Albums. Zwei getragene Songs läuten die zweite Albumhälfte ein: „The Crow And The Nightingale“ ist eine Hommage an Leonard Cohen. „Sierra Leone“ bietet einen cineastischen Sound mit melancholischen Klängen. Doch der hymnische Charakter des Albums überwiegt und die 55 Minuten vollendeten Sounds wirken dann am besten, wenn man das Werk am Stück hört. Man darf gespannt sein auf die Konzerte im Herbst und auf die Herangehensweise der Band an die Songs.
Nach mehreren Marillion Weekend Terminen bis Sommer 2022, begeben sich Marillion im Herbst auf große Europatour mit vier Daten in Deutschland:
Am 4. März 2022 erscheint mit „An Hour Before It’s Dark“ das neue Album von Marillion. Wir hatten acht Tage vorher, am 24. Februar, die Gelegenheit zu einem längeren ZOOM Call mit dem Bassisten Pete Trewavas. Ein seltsamer Tag, der ganz unter dem Eindruck einer russischen Invasion in der Ukraine stand. Und doch stand uns Pete Rede und Antwort zum Album und zu seinem zweiten Projekt Transatlantic, das ihn ebenfalls gut auf Trab hält. Das Interview führte Andreas Weist.
Hallo Pete. Wir haben uns zuletzt im Dezember 2019 in Essen gesehen. Das war euer letzter Auftritt für lange Zeit.
Es war eine schöne Tour damals mit dem kleinen Orchester, unseren „Friends From The Orchestra“. Das habe ich sehr genossen. Schön, wieder mit dir zu sprechen.
Wie ist es dir seitdem ergangen?
Tatsächlich war ich sehr beschäftigt. Mal abgesehen vom Lockdown, der aber dazu führte, dass wir mehr Zeit mit dem neuen Marillion Album verbrachten. Außerdem war ich sehr mit dem neuen Transatlantic Album beschäftigt, das wir in dieser Zeit aufgenommen haben.
Auf jeden Fall war es eine seltsame Zeit und wir waren auch sehr frustriert, denn wir wollten unbedingt das Album rausbringen. Die Themen, mit denen wir uns beschäftigt haben, waren sehr aktuell und wir wollten nicht, dass sie an Relevanz verlieren. Aber das haben sie wohl auch nicht. Wenn sie auch etwas sekundär geworden sind nach dem Chaos, das wir heute erleben müssen
Du meinst den Krieg in der Ukraine?
Genau. Niemand hätte doch jemals gedacht, dass so etwas wirklich passieren wird. Also ich zumindest nicht.
Mark Kelly und Ian Mosley haben ihre Biografien geschrieben. Auch Steve Hogarth ist schon länger mit seinen Tagebüchern am Start. Hat es dich nicht auch gejuckt, in dieser konzertlosen Zeit unter die Schreiber zu gehen?
Nein. Ich verbringe meine Zeit lieber damit, Musik zu schreiben. Das ist auch bequemer. Seltsamerweise haben mich aber viele Leute nach einem Buch gefragt. Sie sagten, es sei ein Vermächtnis für die Familie und die Freunde, wenn man seine Gedanken niederschreibt. Damit auch die Enkel verstehen, was man mit seinem Leben gemacht hat.
Aber ich denke, du lieferst dein Vermächtnis mit deiner Musik.
Ja, das stimmt. Musik ist einfach ein riesiger Teil meines Lebens. Schon als ich noch sehr jung war, war sie eine große Inspiration. Und ich habe Musik nicht einfach nur geliebt. Von Beginn an habe ich sie auch verstanden. Die Sprache der Noten. Mein Vater war Pianist und spielte Saxofon. Allerdings habe ich ihn nie am Saxofon gehört. Er hat das Instrument verkauft, um einen Verlobungsring zu kaufen. Eine sehr schöne Geschichte.
Ich habe also auf dem Piano geübt. Ich hatte auch Klavierstunden, aber ich habe es gehasst. Ich wollte alles für mich selbst entdecken und ich habe gefühlt, dass ich das kann.
Hast du dir auch den Bass selbst beigebracht?
Im Prinzip schon. Ich hatte ein paar Gitarrenstunden von einem Typen namens Keith. Er hat mir einige Akkorde gezeigt. Eigentlich wollte meine Schwester Gitarrespielen lernen und ich durfte dabei sitzen. Wenn sie dann die Gitarre beiseite gelegt hat, habe ich sie genommen und geübt. Was sie recht schwer fand, fiel mir leicht. Ich habe mit sieben angefangen, Gitarre zu spielen. Ich habe Songs von den Beatles und den Monkees gehört. „Last Train To Clarksville“ war damals ganz aktuell. Ich hatte ein gutes Ohr für die Musik und konnte alles nachspielen.
Die Fans schauen ja auch gespannt darauf, was mit Transatlantic passiert. Gibt es da Tourpläne nach dem Album “The Absolute Universe”?
Wenn alles gut geht, werden Marillion im April eine Convention in Polen spielen. Dann werde ich umgehend nach Amerika fliegen und es wird eine kleine Tour mit Transatlantic geben. Wir werden auch an zwei Abenden Headliner beim „Morsefest“ sein und auf der Kreuzfahrt „Cruise To The Edge“ werde ich mit beiden Bands spielen. Du merkst also, ich bin sehr beschäftigt. Ich muss ja auch alle Songs lernen.
Dann wird es weitere Marillion Conventions geben. In Schweden, Portugal, Leicester (UK) und in Montreal. Und mit Transatlantic gehen wir auf eine kleine Tour durch Europa. Die Priorität liegt aber ganz klar bei Marillion und im Moment promoten wir das neue Album. Es gibt eine große Resonanz in den Medien. Das freut uns.
Ich finde es ist ein großartiges Album, das alle Aufmerksamkeit verdient hat.
Oh danke. Ja, wir sind auch sehr stolz auf das Album. Wir sind die Sache diesmal anders angegangen. Auf „F.E.A.R.“ haben wir die Musik atmen lassen. Wir haben sehr lange Geschichten erzählt wie beispielsweise „The New Kings“. Das ist ein Song, der im Moment wieder sehr aktuell ist weil er vom russischen Geld in Europa erzählt.
Das neue Album „An Hour Before It’s Dark“ ist eher songorientiert, oder?
Ja. Es ist anders. Der Titelsong erinnert mich an die frühen YES. Er trägt eine chaotische Energie in sich und die Musik kann überall hin gehen. Wir wollen uns von Album zu Album verändern und uns auch selbst überraschen. Es passiert viel in den Raum, wenn wir zusammen sind und Musik schreiben. Normalerweise setzen wir uns nicht einfach zusammen und haben vor, einen bestimmten Song zu schreiben. Vielmehr lassen wir die Ideen fließen und jammen zusammen. Wir schauen, was passiert, und lassen die Musik ihren eigenen Weg finden. So verbringen wir oft drei oder vier Jahre, bevor wir ein Album zusammenstellen.
Unser Produzent Mike Hunter ist sozusagen das sechste Bandmitglied. Er sammelt die Ideen und schneidet alles mit. Er ist unsere Bücherei. Außerdem ist jedes Schnipsel unserer Musik in einer Cloud und wir alle können jederzeit drauf zugreifen. Irgendwann fügt sich dann alles zusammen und das Album entsteht.
Man hört, Steve Rothery sei aus Gründen der Pandemie nicht so oft im Studio präsent gewesen. Habt ihr dann aus der Distanz gejammt und geschrieben?
Ja, das stimmt tatsächlich. Wir haben schon sehr früh entschieden, uns zu isolieren. Schließlich sind wir alle in einem Alter, in dem die Krankheit Probleme bereiten kann. Vor allem Steve Rothery war sehr gefährdet. Inzwischen sind wir aber alle voll geimpft – inklusive Booster – und fühlen uns sicher. Am Anfang der Pandemie hatten wir uns aber entschieden, nicht alle zusammen im Studio zu sein. Obwohl es sehr groß ist und wir es mit Trennwänden coronakonform ausgestaltet haben. Wir haben die Räume gut belüftet und Masken getragen. So konnten wir nach einiger Zeit wieder zusammen im Studio sein, aber Steve Rothery war nicht dabei.
In dieser Zeit haben wir stärker an den keyboardlastigen Stücken gearbeitet. Und wir haben uns auf die lyrische Struktur konzentriert Trotzdem konnten wir immer auf Steves Aufnahmen zugreifen. So hat das in dieser Zeit funktioniert. Aber frustrierend war es schon, weil wir unsere Ideen nur über Zoom diskutieren konnten. Als wir alle wieder zusammen waren, wurde die Arbeit auch wieder einfacher.
Auf dem neuen Album habt ihr erstmals mit einem Chor gearbeitet. Wie lief das ab? Waren die Sänger bei euch im Studio oder habt ihr digital mit ihnen gearbeitet?
Der Chor war Mikes Idee. Er wurde auf den Choir Noir aufmerksam und hatte eine ziemlich klare Idee, wie sie klingen sollten. Sehr gotisch und disharmonisch mit Close Harmonies. Sie waren nicht im Studio und haben uns ihre Teile von zuhause aus zugeschickt. Der Chor ist es ohnehin gewohnt, digital zu arbeiten. Es sind acht Stimmen, aber manchmal haben wir sie doppelt übereinander gelegt, um mehr weibliche Stimmen zu haben.
Außerdem waren die Streicherinnen von In Praise Of Folly wieder dabei, mit denen wir in der Vergangenheit schon zusammen gearbeitet haben. Sie haben auch digital eingespielt. Mike hat ihnen grob ausgearbeitet Teile zugeschickt und sie haben daran gefeilt und uns Vorschläge zugeschickt. Außerdem war ein Harfenspieler mit dabei und ein Perkussionist. Mike hatte den Überblick und brachte alles zusammen.
Mike Hunter kennt euch schon sehr gut. Ich denke, seit dem „Brave“ Album.
Oh ja, da war er noch sehr jung. Später haben wir ihn dann wieder dazu geholt, um Dave Meegan beim „Marbles“ Album zu unterstützen. Wir haben großes Vertrauen in ihn und er mischt auch unsere Livealben ab. Er ist ziemlich im Einklang mit allem, was wir tun, und er macht einen fantastischen Job. Die letzten drei Alben klingen hervorragend und Mike hat einen großen Anteil daran.
Lass uns noch über einige Songs sprechen. Mir gefällt die Idee des Albumtitels. Es sind nicht “2 minutes to midnight” wie bei Iron Maiden, sondern “One Hour Before It’s Dark”. Der Zeitpunkt, den Eltern bei ihren Kindern wählen, um sie nach Hause zu rufen.
Genau. Komm rein, es wird dunkel. Das haben meine Eltern auch zu mir gesagt und es wurde zum geflügelten Wort. Heute funktioniert das nicht mehr so. Die Kinder haben schon Smartphones und werden einfach angerufen. Früher hatten wir strenge Regeln und Anweisungen. Tu dies nicht, tu das.
Man kann den Titel also auf zwei Arten lesen: In einer Stunde ist alles dunkel. Oder: Kommt jetzt nach Hause, bevor es zu spät ist. Was ist deine Sicht?
Es ist eine unterschiedliche Interpretation und das ist die Schönheit des Albums. Die Aussage hat verschiedene Bedeutungen – und so ist es bei allen Songs auf dem Album. Alles hängt zusammen und das macht die Magie des Albums aus.
Den letzten Song “Care” findet ich sehr berührend. Es geht um die Pflegekräfte in der Pandemie. Was hat euch dazu bewogen, ihnen ein Denkmal zu setzen?
Ich denke, sie haben es einfach verdient. Sie haben so viele Menschen gerettet und tun es immer noch jeden Tag. Wir haben in unseren Ländern so viel Glück, dass die medizinische Versorgung so gut ist. Das ist nicht in allen Ländern so. Meine Frau war auch Krankenschwester und sie hatte diese Berufung: über sich hinaus zu wachsen, um anderen zu helfen. Die Pflegekräfte haben diese Herausforderung mit großer Leidenschaft auf sich genommen.
Auch “Murder Machines” dreht sich um Corona und Social Distancing. Ich habe das Gefühl, viele Bands vermeiden es, direkt über diese Thematik zu schreiben. Warum habt ihr euch dafür entschieden?
Wir haben die Pandemie natürlich schon zu Beginn diskutiert. Steve Hogarth wollte eigentlich keinen Text dazu schreiben, weil wir alle dachten, es sei eine vorübergehende Sache, die bei Erscheinen des Albums nicht mehr aktuell ist. Und überhaupt würde ja jede Band darüber schreiben. Und dann kam der Moment, in dem wir schon so lange mit der Pandemie lebten. Es wäre fast schon seltsam, wenn wir kein soziales Statement dazu hätten. Plötzlich wurde es zu einer großen historischen Sache, mit der wir alle leben mussten. Man spricht auch heute noch über die Pest. Wie in den 1920ern die Wall Street zusammenbrach und die Weltwirtschaftskrise begann, so gibt es in den 2020ern die Pandemie als Start einer neuen Ära.
Die Aussage von „Murder Machines“ kann viel bedeuten. Es geht zum Beispiel darum, jemanden mit zu viel Liebe zu erdrücken. Es kann auch darum gehen, eine Beziehung aufrecht zu erhalten, bis sie sich zum schlechten wendet. Oder es geht darum, jemandem zu nahe zu kommen und ihm den Virus zu übertragen.
“Seasons End” ist schon über 30 Jahre alt. Jetzt gibt es mit “Reprogram The Gene” wieder ein Stück über die drohende ökologische Katastrophe. Macht ihr euch gemeinsam Gedanken über solche Themen oder kommen diese Ideen meist von Steve Hogarth?
Die Lyrics schreibt Steve Hogarth und er fügt sie zu der Musik, wie es passt. In dem Song sprechen wir ganz klar vom ökologischen Zustand der Welt. Er ist aus der Sicht eines jungen Menschen geschrieben. Die jungen Menschen interessieren sich für das Thema, im Gegensatz zu den Regierungen und der Wirtschaft. Der Planet wird ausgebeutet und wir haben keinen anderen zur Verfügung.
Was sind eure Planungen für die Zukunft? Es wird mehr Marillion Weekends geben als sonst. Und dazwischen eine Tour. Dürfen wir etwas Besonderes erwarten?
Ich glaube, ich darf das sagen: Wir werden das neue Album in voller Länge auf den Weekends spielen. Mit 55 Minuten ist es eigentlich ein kurzes Album. Obwohl es sehr dunkle und melancholische Themen verarbeitet, ist es doch ein sehr lebendiges Album.
Vielen Dank für deine Zeit, Pete! Ich hoffe, wir sehen uns bei den Konzerten im Herbst und natürlich auch beim Marillion Weekend in Holland 2023. Ich wünsche euch viel Erfolg mit dem neuen Album!
Danke, Andi. Es war mir eine Freude. Das Weekend in Holland wird großartig werden.
Ein herzliches Dankeschön geht an Kai Manke für die Vermittlung des Interviews und an earMUSIC für Organisation und Schaffung der technischen Voraussetzungen.
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earMUSIC freut sich über die Veröffentlichung des 20. Studioalbums von Marillion: „An Hour Before It’s Dark” erscheint am 04. März 2022. Ab sofort gibt es einen ersten Einblick in das Album mit der Single “Be Hard On Yourself”.
Was bedeutet Marillion „eine Stunde bevor es dunkel ist“, wie der Albumtitel übersetzt heißt? Im englischen Sprachgebrauch handelt es sich dabei unter anderem um die letzte Stunde, in der man als Kind draußen spielen darf. Es ist aber sicher auch eine Anspielung auf den Kampf gegen die Zeit in der Klimakrise. Und geht es hier auch um die letzten Minuten im Leben eines Menschen? Der Titel „Care“ legt es nahe.
Marillion haben mit dem Album lyrisch den Finger einmal mehr am Puls der Zeit. Seien es soziale, politische oder persönliche Themen; Marillion nehmen kein Blatt vor den Mund und schaffen es, diese bewegenden Themen mit ihrem einzigartigen Sound zu verbinden und Menschen zu bewegen. Nicht ohne Grund ist die Band für brillantes Songwriting, außergewöhnliche Melodien und überragendes musikalisches Können bekannt. Gleichzeitig schwimmen sie stets gegen den Strom und beugen sich nicht den Normen und Erwartungen.
Die erste Single “Be Hard On Yourself” vom kommenden Album könnte dafür kein besseres Beispiel sein.
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„Trotz der scheinbar düsteren Betrachtungen auf diesem Album – das Virus, unsere Sterblichkeit, die medizinische Wissenschaft, die Pflege UND Leonard Cohen (ha ha) – ist das Gesamtgefühl der Musik überraschend optimistisch. Ich denke, die Band ist so gut in Form wie eh und je, und der „Choir Noir“ hat dem Ganzen noch mehr Seele und Farbe verliehen“ – h (Sänger Steve Hogarth)
“An Hour Before It’s Dark” wurde in Peter Gabriels Real World Studios aufgenommen, wie auch schon der von der Kritik umjubelte und in den Charts erfolgreiche Vorgänger “F*** Everyone And Run (F E A R)”. Dabei entstand auch eine Dokumentation über den Schaffensprozess mit viel Behind-the-Scenes Material sowie eine Performance des Songs “Murder Machines” im Studio. Man kann das Album HIER vorbestellen.
Marillion befinden sich derzeit auf der „Light At The End Of The Tunnel“-Tour in Großbritannien. Danach folgen mehrere Marillion-Weekends bis zum Sommer 2022 und eine große Europatour im Herbst 2022. Marillion wurde 1979 gegründet. Seitdem hat die Band 19 Studioalben veröffentlicht und sich in den 80ern zu einer der erfolgreichsten Prog-Rock Bands der Welt entwickelt. Auch heute sind sie einer der wichtigsten Vertreter des Genres. Marillion ist zudem die erste Band, die das Potenzial des Internets für die direkte Interaktion mit ihren Fans erkannte und auf Crowdfunding zurückgriff.
Tracklist:
1. Be Hard On Yourself
i. The Tear In The Big Picture
ii. Lust For Luxury
iii. You Can Learn
2. Reprogram The Gene
i. Invincible
ii. Trouble-Free Life
iii. A Cure For Us?
3. Only A Kiss (Instrumental)
4. Murder Machines
5. The Crow And The Nightingale
6. Sierra Leone
i. Chance In A Million
ii. The White Sand
iii. The Diamond
iv. The Blue Warm Air
v. More Than A Treasure
7. Care
i. Maintenance Drugs
ii. An Hour Before It’s Dark
iii. Every Call
iv. Angels On Earth
Marathon ist das neue Bandprojekt von Mark Kelly, der seit fast 40 Jahren als Keyboarder von Marillion fungiert. Die Aufnahmen für das Debütalbum entstanden in Peter Gabriels Real World Studios. Und wie es der Zufall will, hat Mark einen Vokalisten gefunden, der sich in weiten Teilen wie der junge Peter Gabriel anhört. Allein das ist schon Freude genug für Fans des guten Progressive Rock. Darüber hinaus steht Kelly als Instrumentalist natürlich für breite Keyboardflächen und atmosphärische Musik. Bei Marillion kann er das nicht mehr so ausleben wie noch in den 80er Jahren – jetzt hat er wieder die Chance dazu. Und er nutzt sie!
“Seit jeher sehnt sich die Menschheit nach der Fähigkeit zu fliegen, angefangen beim Erreichen von Höhen, weiter bis zum Überqueren von Kontinenten, dann Ozeanen, der Umrundung der Welt, bis hin zum Aufbrechen ins All und ersten Versuchen mit dem zu kommunizieren, was auch immer da draußen ist. Doch was, wenn die Kommunikation ausfällt?” Das ist die inhaltliche Idee hinter dem Album, das zwar nicht als echtes Konzeptalbum daher kommt, doch einer Mission folgt – nämlich die Musik als Mittel zur Verständigung heranzuziehen. Alle Lyrics stammen von Guy Vickers und er nutzt die Liner Notes des Booklets, um Hintergründe zu erklären. So geht es im Zehnminüter „Amelia“ um die Frauenrechtlerin und Flugpionierin Amelia Earhart, die 1937 im Pazifik verschollen ist. „Puppets“ beschäftigt sich philosophisch mit dem freien Willen und das viertelstündige Epos „Twenty Fifty One“ diskutiert die Existenz außerirdischen Lebens.
Zusammen mit Guy Vickers, Oliver M. Smith (Vocals), Pete “Woody” Wood (Gitarre), John Cordy (Gitarre), Henry Rogers (Schlagzeug) und seinem Neffen Conal Kelly (Bass), hat Mark Kelly seine Visionen in Realität umgesetzt. Es sind nur fünf Songs insgesamt, doch das Album dauert ordentliche 44 Minuten. Die Longtracks stehen am Anfang und am Schluss – jeweils in kleine Abschnitte eingeteilt – und sind extrem facettenreich.
Marathon ist in weiten Teilen ein sehr modernes Rockalbum. Man muss sich also keine Sorgen machen, dass Mark hier nur alte Ideen auslebt. Mal dominieren die Gitarren, dann gibt es wirklich elegische Keyboardparts. Auch Marillion Bandkollege Steve Rothery hat es sich nicht nehmen lassen und hat für den Song „Puppets“ seine Gitarre in die Hand genommen. Die solistischen Einlagen Rotherys sind unverkennbar. Dieses Markenzeichen haben Marillion in 40 Jahren niemals aufgegeben – und auch hier schwelgt er in seinen typischen Akkorden und Läufen.
Das Marathon-Projekt beschert Fans von Marillion und Bands wie IQ, Jadis, Arena oder Spock’s Beard ein schönes Nostalgie-Feeling, doch es ist eigenständig und modern genug, um nicht als Kopie durchzugehen. Mark Kelly hat hier seine Ideen verwirklicht, die er in einer demokratischen fünfköpfigen Band nicht immer durchsetzen kann. Das Ergebnis ist überragend gut.
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Schon bei ihrem legendären Marillion-Weekend im Jahr 2017 waren die Fans der britischen Progband begeistert von der Zusammenarbeit mit dem belgischen Streichquartett In Praise of Folly. Deren orchestrale Einsprengsel in die bekannten Artrock-Arrangements kamen bei den Fans so gut an, dass im Anschluss einige Tourdaten mit den Streicherinnen folgten (der Konzertmitschnitt von de Royal Albert Hall in London gilt jetzt schon als legendär) und für 2019 gar eine komplette Tour mit Gästen aus der klassischen Musik geplant ist, wobei die Band und das Quartett noch um dem Hornisten Sam Morris sowie Emma Halnan an der Flöte ergänzt werden.
Da Marillion keine halben Sachen machen, hat man neun der Songs, die jetzt auf der Tour geboten werden, mit den Orchestermusikern im Studio aufgenommen. Für Fans und solche, die es werden wollen, ist es ein wundervolles Klangerlebnis. Die Arrangements wurden nicht so stark verändert, wie man vermuten sollte. Kelly, Rothery und Co. können ihre instrumentale Stärke weiterhin voll ausleben, doch Streicher, Horn- und Blechbläser verfeinern das Ganze mit einer sehr eleganten Note.
„Estonia“ wirkt ohnehin schon emotional, doch die Streicher klingen wie eine zusätzliche Umarmung in Richtung der Hinterbliebenen. „A Collection“ ist ein unentdecktes Juwel aus den vielen B-Seiten der Band. „Fantastic Place“ und „Beyond You“ gehören zu den Lieblingssongs vieler Fans und klingen hier noch getragener als im Original. Gerade diese Titel erfahren eine neue Tiefe.
Dass „This Strange Engine“, einer der Keyboard-Kracher schlechthin, ebenfalls für eine Neuaufnahme ausgewählt wurde, ist eine echte Überraschung. Die vielen gesampelten Elemente bleiben auch erhalten, doch vor allem die Streicher entfachen eine enorme Energie in den lauten Passagen dieses Longtracks. Das erklingt mit viel Schmackes.
„The Hollow Man“ und „Sky Above The Rain“ sind balladeske Standards. Ersterer lebt ohnehin von den Pianoparts, die auch den zweiten Song sehr schmücken. Piano und Streicher ergänzen sich hervorragend, während Hogarth stimmlich alles aus sich raus holt. Ein wundervolles Beispiel dafür, warum es gut war, dieses Album im Studio aufzunehmen.
Den Abschluss bilden das klimapolitisch absolut aktuelle, aber schon dreißig Jahre alte „Seasons End“ mit Rotherys prägnanten Gitarrenklängen, gefolgt vom Longtrack „Ocean Cloud“, der offiziell auch als B-Seite gilt aber aus dem Repertoire der Band nicht wegzudenken ist. Sehr sphärisch und erzählend – als Hommage an Don Allum, den ersten Menschen, der den Atlantik in beiden Richtungen per Ruderboot durchquerte – führt „Ocean Cloud“ durch die Tiefen dieses Abenteuers. Und das Orchester kann die dramatischen Szenen in Form eines Soundtracks noch stärker wirken lassen.
Man hätte noch viele Titel auf dieses Album packen können, doch einige Stücke wurden ja schon auf „All One Tonight – Live at the Royal Albert Hall“ veröffentlicht. Wer sich auf die kommenden Konzerte, beispielsweise in Essen, einstimmen will, liegt hier goldrichtig. Wer keine Karten mehr bekommen hat (die Auftritte sind seit Monaten ausverkauft) kann das Album entspannt zuhause genießen. Eigentlich sollte es nur auf der Homepage der Band zu erwerben sein, doch der große Zuspruch der Fans veranlasste EARmusic, die CD auch als Digipack und sogar auf Doppel-Vinyl im freien Verkauf anzubieten. Eine gute Entscheidung, passt es doch von seiner Atmosphäre hervorragend in die besinnliche Zeit des Jahresendes.
Schaut euch auch die Videos an. Es macht große Freude, die jungen Streicherinnen von In Praise of Folly (drei Violinen, ein Cello) in ihrem Element zu bewundern. Man sieht, wie sie die kunstvollen Songs verstanden haben und um ihre Spielfreude bereichern.
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Am 23.11.2018 waren Marillion in der Jahrhunderthalle Frankfurt zu Gast. Die Progressive Rocker sind momentan auf „Theatre Tour“ durch Europa und hatten in der Main-Metropole ihren ersten Gig. Ungewöhnlich war es ja schon: Marillion mit Sitzplätzen… Aber die Fans werden nicht jünger und zur aktuellen live-CD/DVD aus der Londoner Royal Albert Hall passen die halbwegs bequemen Stühle dann doch irgendwie. Das Streichorchester war leider nicht dabei. Allerdings haben die Briten schon ihre nächste UK- und Europatour für Ende 2019 angekündigt, auf der sie dann von einem kleinen Orchester-Ensemble begleitet werden. Man darf gespannt sein. Erst einmal galt es aber abzuwarten, wie die Setlist 2018 aussehen wird. Long- oder Shorttracks, noch viele Stücke vom aktuellen Album „F.E.A.R.“ – oder gar ganz alte Stücke?
Den Anfang machten um 20.30 Uhr Jennifer Rothery und Riccardo Romano im kongenialen Doppel. Der stolze Vater Steve Rothery kam sogar höchstpersönlich auf die Bühne, um das Duo anzukündigen. Allerdings führte das auch dazu, dass einige Anwesende, die schon vor 19 Uhr am Einlass gewartet hatten, den Konzertbeginn von Marillion vermuteten, als der Gitarrist auftrat. Umso größer war die Enttäuschung, dass es noch bis 21.30 Uhr dauern sollte. Die Vorgruppe war nicht angekündigt. Aber dafür konnten ja Jennifer und Riccardo nichts. Zunächst präsentierten sie Songs von Jennifer, die sie normalerweise unter dem Künstlernamen Sylf darbietet. Sphärische Balladen, die sie mit hoher Stimme sang und die von Riccardo filigran begleitet wurden. Danach gab es Stücke von Riccardos Rockoper „B612“, die die Geschichte des kleinen Prinzen erzählt. Insgesamt waren es 40 Minuten, die schnell vorbeigingen. Der Marillion-Bezug war ja immerhin gegeben – vor allem, da Riccardo auch in der Steve Rothery Band spielt.
Marillion starteten dann um 21.30 Uhr gleich mit einem Knaller. „The Leavers“ ist eine 5teilige Suite, die sich mit melancholischen Klängen den Menschen widmet, die immer wieder Abschied nehmen. Sie verbreitet düstere Stimmung, die aber durch den Abschnitt „One Tonight“ aufgelöst wird. Damit boten Marillion keinen Opener zum Auflockern, sondern ein atmosphärisches Stück Musik in 20 Minuten Länge, das schon alles auffuhr, was die Band zu bieten hat: Einen stimmlich bestens aufgelegten Sänger, den coolen Ian Mosley am Schlagwerk, Pete Trewavas als Anheizer am Bass und Steve Rothery (Gitarre) sowie Mark Kelly (Keyboards), die sich mit elegischen Soli abwechselten.
Danach galt es erst einmal zu verschnaufen und Sänger Steve Hogarth führte mit launigen Ansagen durch ein Programm einiger kurzer Songs, die Schlag auf Schlag fielen. Der Popsong „No One Can“ gehört nun sicher nicht zu meinen Favoriten und wurde auch nur mit Höflichkeitsapplaus bedacht. „Seasons End“ als Titelsong des ersten Albums nach der Trennung von Fish ist schon ein anderes Kaliber. Damals hatten die Fans erfreut gemerkt, dass das Kapitel Marillion noch nicht abgeschlossen ist. Und auch hier in Frankfurt wurde der Song frenetisch gefeiert. Gefolgt von „Beautiful“, das ebenfalls in den Pop-Bereich abdriftet, aber im Gegensatz zu „No One Can“ zeigte, dass dies auch ohne seichte Langeweile möglich ist. „Living in FEAR“ führte schließlich zurück zum aktuellen Album.
Die Show wurde anhand einer LCD-Leinwand im Hintergrund visuell untermalt. Die Bilder unterstrichen kunstvoll die Lyrics. Das funktionierte auch bei „Quartz“. Mir ist dieser Song aber allzu verkopft. Als Entschädigung gab es zum Glück mit „This Strange Engine“ einen weiteren Longtrack, in dem Hogarth weite Teile seiner Biographie in ein wundervolles musikalisches Gerüst einpasst. Es lief einiges schief bei diesem Song. Mark Kellys Keyboard-Programmierung wollte dem korrekten Ablauf nicht folgen – und als ein Roadie Hogarths Sampler einsammelte, riss er ihm gleich das komplette In-Ear-Monitoring runter. Egal – der Song war trotzdem eine Bank und der Jubel kannte keine Grenzen.
Im Zugabenblock gab es den dritten Longtrack: „El Dorado“. Ein Song, der sich (für Marillion ungewöhnlich politisch) mit der Situation des Vereinigten Königreichs auseinander setzt. Und es wurde wohlgemerkt lange vor dem Brexit geschrieben. Dabei startet es wie ein fröhliches Songwriterstück, bevor die ganze Härte der Realität auf den Hörer einprasselt. Bilder von Menschen, die an der Grenze ausharren, um wieder existieren zu können. Gewaltig und verstörend.
Erschöpfung machte sich allerdings noch nicht breit und die ausverkaufte Jahrhunderthalle verlangte frenetisch nach mehr. Das bekam sie zunächst mit dem Mitsing-Hit „Cover My Eyes“, gefolgt von einem wundervoll sphärischen und nicht enden wollenden „Neverland“, dem vierten Longtrack des Abends. Inzwischen war es 23.45 Uhr und ein fantastischer Konzertabend ging zu Ende. Die Setlist war äußerst spannend und bunt gemischt. Und (natürlich) war kein Song aus der Marillion-Zeit vor 1989 am Start. Fans der Band sind das so gewohnt und haben keine Probleme damit. Man stelle sich aber vor, wenn Größen wie Deep Purple, Saga oder Manfred Mann’s Earth Band plötzlich auf die Klassiker aus den 80ern verzichten würden. Der Aufschrei wäre kilometerweit hörbar. Marillion haben sich stetig weiter entwickelt – und ihre musikalische Größe konnten sie in Frankfurt mal wieder hervorragend unter Beweis stellen.
2016 haben Marillion mit „F.E.A.R.“ ein herausragendes Album raus gehauen. Vielleicht das Beste in ihrer Karriere mit Sänger Steve Hogarth, der bereits 1988 das Zepter von Altmeister Fish übernahm. Seitdem haben sich Marillion stetig weiter entwickelt und sind einerseits Garant für ganz speziellen und zum größten Teil fantastischen Progressive Rock („Brave“, „Afraid Of Sunlight“, „Marbles“), andererseits gehören sie aber auch zu den am meisten unterschätzten Band im Rock- und Popbereich überhaupt, da man sie wahlweise gern vorurteilsmäßig als schottische Metalband oder als 80er-Genesis-Klone abhandelt. Beides ist absoluter Blödsinn. Vielmehr sind sie Vorreiter in vielen Bereichen: Ihr melodischer Artrock der 90er Jahre hat Generationen von Publikumslieblingen wie Gazpacho, Radiohead, Muse oder Coldplay beeinflusst. Sie haben quasi das Crowdfunding erfunden, als sie sich eine Nordamerika-Tour und ein Studioalbum von ihren Fans vorfinanzieren ließen. Und sie sind ein Paradebeispiel für Fan-Nähe, seit sie im Zweijahresrhythmus einen kompletten Centerpark anmieten, um ihren Anhängern exklusive Konzertabende vom Feinsten zu bieten.
„F.E.A.R.“ ist das neunzehnte (!) Studioalbum der Band. Dass es zugleich als eines ihrer Besten gilt, ist auch ein Phänomen – werden doch die sonstigen Heroen der 80er meist an ihren ersten Werken gemessen. Marillion haben es nicht einmal nötig, überhaupt einen Song zu spielen, der älter als dreißig Jahre ist. Stellen wir uns das doch mal bei Deep Purple, Manfred Mann’s Earth Band oder Saga vor. Die Fans wissen, was auf sie zukommt. Und Rufe nach „Kayleigh“ oder gar „Grendel“ gibt es schon lange nicht mehr. Im Gegenteil: Man bejubelt, dass Marillion ihr aktuelles Album seit Erscheinen auf den meisten Konzerten quasi komplett spielen. So überzeugt sind sie von ihrer Musik. Und so erfolgreich läuft die sogenannte „Theatre Tour“, die das Quintett momentan hauptsächlich in Locations mit sitzendem Publikum führt.
In diesem Zuge spielten Marillion am 13. Oktober 2017 zum allerersten Mal in der Royal Albert Hall in London. Das Konzert war innerhalb kürzester Zeit ausverkauft und das Publikum, welches aus verschiedenen Teilen der Welt angereist war, wurde mit einer herausragenden Marillion Show belohnt. In zwei Teilen präsentiert “All One Tonight – Live At The Royal Albert Hall” zunächst das komplette, von Fans und Kritikern gleichermaßen gefeierte Album „F.E.A.R.“ (die Abkürzung steht übrigens für „Fuck Everyone And Run“). In dem konzeptionell angelegten Album geht es um das Wegsehen und Davonlaufen. Auch darum, dass alles Übel der Welt aus Angst entsteht, während das Gute von der Liebe kommt. So enthält „F.E.A.R.“ fünf Songs, die sich in siebzehn Abschnitte gliedern. Steve Hogarth zieht alle Register seines stimmlichen Könnens. Er schwelgt, belehrt, jammert und wütet. Er windet sich durch alle Tonlagen – manchmal kurz vor der Hysterie. Ebenso stark agiert Gitarrengott Steve Rothery. Seine Soli sind das Salz in der Suppe, während Bass und Keyboards unentwegt Atmosphäre kreieren. „The New Kings“ behandelt die Macht der Banken, „El Dorado“ setzt sich mit der politischen Situation in Großbritannien auseinander, „The Leavers“ widmet sich mit melancholischen Pianoklängen den Menschen, die immer wieder Abschied nehmen.
Begleitet von einer beeindruckenden Lichtshow und Projektionen spielen Marillion ihren prägnanten und prägenden Zeitgeist mit unvergleichbarer Leidenschaft und Energie. Es ist ein Fest, dieses Livekonzert in der Kulisse des altehrwürdigen Londoner Konzertsaals zu erleben – wenn auch nur am heimischen Fernseher.
Die zweite Hälfte stellt „In Praise Of Folly and Guests“ vor, ein Streicherquartett mit Flöte und Französischem Horn, das dem Rest der Show mit einigen der beliebtesten Marillion Livesongs zusätzliche Tiefe und Emotionen verleiht. Da erklingen „Afraid Of Sunlight“, „Man Of A Thousand Faces“ und das epische „Neverland“ in ganz neuer Pracht. Der Mitschnitt entstand unter der Regie von Tim Sidwell und wurde aufgenommen und gemixt von Michael Hunter. Die Blu-ray erscheint mit exklusivem Bonus-Material wie z.B. der 35-minütigen Dokumentation „We Will Make A Show“. Wer hören und erleben will, was Marillion im Jahr 2018 tun und wie sie klingen, liegt hier goldrichtig – egal ob er CD, DVD oder Blu-ray wählt.
Wer sich live überzeugen will, hat Möglichkeiten:
23.11.2018 Frankfurt, Germany – Jahrhunderthalle
25.11.2018 Essen, Germany – Colosseum (Sold Out)
26.11.2018 Essen, Germany – Colosseum
28.11.2018 Berlin, Germany – Admiralspalast
29.11.2018 Erfurt, Germany – Alte Oper
01.12.2018 Bremen, Germany – Musical Theater
02.12.2018 Hamburg, Germany – Mehr Theater
04.12.2018 Stuttgart, Germany – Hegel Saal
05.12.2018 Vienna, Austria – Gasometer
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Es scheint sich zu bewahrheiten, dass Marillion in jedem Jahrzehnt ihres Bestehens ein ultimatives Album schreiben, das sie in neue Sphären ihres musikalischen Schaffens führt. In den 80ern war dies definitiv „Misplaced Childhood“. Das Werk mit dem Hit „Kayleigh“, das die Band quasi über Nacht weltberühmt machte. Der damalige Sänger Fish verarbeitete in dem Konzeptalbum seine Jugenderinnerungen und für viele ist es das Aushängeschild des Neoprog schlechthin.
In den 90ern folgte mit „Brave“ wiederum ein fulminantes Konzeptwerk. Der damals noch recht frische Frontmann Steve Hogarth war inspiriert von einem Radiobericht über ein Mädchen, das orientierungslos auf einer Brück aufgegriffen wurde, und spann daraus eine Geschichte über Verzweiflung und Suizid. Eine moderne Rockoper aus verschachtelten musikalischen Themen – komplex und virtuos.
2004 erschien das von Fans vorfinanzierte Album „Marbles“. Mit drei Longsongs und verbindenden Musikthemen. Zwar kein Konzeptwerk, aber es hatte durchaus thematische Verbindungen zwischen den Songs. Die Idee der Vorfinanzierung war nicht neu. Die hatten Marillion quasi erfunden, als drei Jahre zuvor beim Vorgängeralbum 12.000 Fans eine CD bezahlten von der sie noch keinen Ton gehört hatten. Somit schließt sich jetzt ein Kreis. Die Idee des Crowdfundings ist zum florierenden Geschäftsmodell geworden. Mit PledgeMusic nutzen Marillion diesmal ein bestehendes Portal, das es vielleicht ohne ihre 15 Jahre alte Idee nie gegeben hätte. Und das Ergebnis ist ein Album, das im aktuellen Jahrzehnt den Platz des Ausnahmewerks einnimmt.
Ein Konzeptalbum? Urteilt selbst: Es trägt den Titel „FEAR“, eine Abkürzung aus „Fuck Everyone And Run“. Es geht um das Wegsehen und Davonlaufen. Auch darum, dass alles Übel der Welt aus Angst entsteht, während das Gute von der Liebe kommt. So enthält „FEAR“ fünf Songs, die sich in siebzehn Abschnitte gliedern. Mit fast sieben Minuten ist „Living In Fear“ quasi der kürzeste Titel. „Tomorrow’s New Country“ wird zwar als eigenständiger Song geführt, gehört aber zum Longtrack „The Leavers“.
Man braucht einige Zeit, um sich in das Album hinein zu hören. Der freundliche Promoter hat es mir schon vor Wochen zugeschickt – und es verließ meinen Player seitdem nur für kurze Auszeiten. „FEAR“ bietet alles, was sich der Fan progressiver Rockmusik von Marillion wünscht. Steve Hogarth zieht alle Register seines stimmlichen Könnens. Er schwelgt, belehrt, jammert und wütet. Er windet sich durch alle Tonlagen – manchmal kurz vor der Hysterie. Ebenso stark agiert Gitarrengott Steve Rothery. Seine Soli sind das Salz in der Suppe, während Bass und Keyboards unentwegt Atmosphäre kreieren.
Man hatte in den letzten Jahren häufig das Gefühl, dass Bands wie Gazpacho oder Riverside Marillion den Rang ablaufen. Hier wird die Rangordnung wieder gerade gerückt. Marillion liefern schlicht ein Meisterwerk, das die Zeit überdauern wird. „The New Kings“ war als viertelstündiger Vorabtrack schon zu hören (unter anderem auf den aktuellen Livekonzerten) und handelt von der Macht der Banken, die sich als neue Weltherrscher aufspielen. Atmosphärischer Beginn, ein durch und durch rockiges Ende. Megasong!
Ebenso wie „El Dorado“, das sich (für Marillion ungewöhnlich politisch) mit der Situation des Vereinigten Königreichs auseinander setzt. Und es wurde wohlgemerkt lange vor dem Brexit geschrieben. Dabei startet es wie ein fröhliches Songwriterstück, bevor die ganze Härte der Realität auf den Hörer einprasselt. Bilder von Menschen, die an der Grenze ausharren, um wieder existieren zu können. Gewaltig und verstörend.
„The Leavers“ widmet sich mit melancholischen Pianoklängen den Menschen, die immer wieder Abschied nehmen. Es verbreitet düstere Stimmung, die aber durch den Abschnitt „One Tonight“ aufgelöst wird. Während „El Dorado“ und „The New Kings“ das Album mit eindringlichen Botschaften nach vorne treiben, ist „The Leavers“ so etwas wie das gefühlvolle Mittelstück zum Innehalten.
Neben diesen langen Tracks drohen die Einzelsongs „Living In Fear“ und „White Paper“ fast unterzugehen. Doch sie sind bei weitem keine Lückenfüller. Vielmehr kleine Inseln zum Atemholen. Und gerade „White Paper“ lässt großen Interpretationsspielraum, den Steve Hogarth bewusst nicht öffnet. Es bietet etwas Mystik neben all den handfesten Aussagen des Albums.
Mit einem Song wie „Gaza“ vom Vorgänger (inzwischen vier Jahre alt), war die Öffnung der Band in eine politische Richtung vorgezeichnet. Dieser Schritt ist jetzt endgültig vollzogen. Marillion haben erneut ein Album geschaffen, das als Gesamtkunstwerk funktioniert. Man wird kaum einzelne Fragmente heraus ziehen können, um vielleicht ins Radio oder auf die Spotify-Hitlist zu gelangen. „FEAR“ ist ein Album, das man gefälligst am Stück hören muss. Und es bietet puren Genuss von fünf leidenschaftlichen Musikern. Manchmal wirft man Marillion vor, dass sie keine echten Songs schreiben sondern so lange im Studio jammen, bis sich aus musikalischen Fragmenten etwas Brauchbares entwickelt. Was soll’s? Wenn das Ergebnis solch geniale Musik bietet, können sie noch lange damit weitermachen.