Wer meinen letzten Artikel zum Herrenmagazin-Konzert von diesem Wochenende gelesen hat (ja, er ist lesenswert), weiß, dass dieses Wochenende vom Buchstaben H dominiert ist (Hannah bei Herrenmagazin und Half Moon Run) – deswegen geht es heute weiter mit Teil 2: H wie Half Moon Run. Entspannt und gemütlich wollen wir vom Bonner Hauptbahnhof zur Live Music Hall anreisen. Doch aufgrund einer Neonazi-Demo im nahegelegenen Remagen kommt es zu Turbulenzen: Wir betreten Gleis 1 und werden von einem umfangreichen Polizeiaufgebot begrüßt, weil es eine Massenprügelei zwischen 100 Linken und 20 Rechten gibt. (Die Nazi-Demo findet jedes Jahr statt, falls ihr nächstes Jahr nichts vorhabt, schaut doch mal beim Gegenprotest vorbei.) Ich finde es wirklich wunderschön, dass die Linken in der Überzahl sind und sich den Nazis entgegen stellen, doch Gewalt muss ja nun nicht sein. Und sie passt auch so gar nicht zu unserem weiteren Abendprogramm, denn Half Moon Run spielen alles andere als aggressive Musik. Aufgrund dieser Verzögerungen haben wir Leif Vollebekk als „Warm Up“ leider fast komplett verpasst. Doch die letzten beiden Songs konnten wir noch hören und anhand dieser kleinen Kostprobe kann ich schon sagen, dass seine Musik ideal zu Half Moon Run und daher auch überhaupt nicht zu einer politischen Prügelei passt: ruhig, warm und friedlich. Eine ideale Musik für einen Kaminabend mit einem Kakao.
Als wir nach unserem Zuspätkommen ein Plätzchen nahe der Bar gefunden haben, betrachte ich mir mal das Publikum, das nicht nur älter ist als erwartet, sondern auch zu 95% aus Paaren zu bestehen scheint. Es wird getanzt, es wird gesungen, aber es wird mindestens genauso viel gekuschelt. Ich bin alleine da, doch schlimm ist das nicht, denn meine Begleitungen und ich können auch zu dritt nah zusammenrücken. Half Moon Run lädt einfach dazu ein, sich nah an seine Liebsten anschmiegen zu wollen, die Augen zu schließen und die besondere Stimmung zu genießen.
Als Half Moon Run 40 Minuten nach Vollebekk die Bühne betreten, machen sie es ganz schön spannend: Die Bühne ist erleuchtet, der Rest der Halle dunkel und elektronische Brummgeräusche erfüllen die Live Music Hall bevor Half Moon Run endlich unter tosendem Applaus der nicht-ausverkauften Location die Bühne betreten. Direkt der erste Song begeistert uns: „21 Gun Salute“ vom ersten Album „Dark Eyes“ begrüßt uns in den Abend. Weiter geht es mit „I Can‘t Figure Out What‘s Going On“ des zweiten Albums „Sun Leads Me On“ und die vier Kanadier singen wunderschön gemeinsam im Chor. Langsam kommt mehr Bewegung ins Publikum. Über „Unofferable“ und „Favorite Boy“, als erster Song des kürzlich erschienenen Albums „A Blemish In The Great Light“, geht es mit „Sun Leads Me On“ und „Need It“ weiter. Passend zum Titel erstrahlt die Bühne bei „Sun Leads Me On“ in einem sonnigen Orange. Das erinnert mich an mein „Kennenlernen“ von Half Moon Run, damals (2015) als ich mit zwei Freundinnen in Indonesien war. Urlaubsstimmung pur.
Immer wieder tauschen die Musiker die Instrumente, sodass teilweise während eines Songs zwischen Gitarre, Keyboard und Mundharmonika gewechselt wird. Bei „Call Me In The Afternoon“ spielt Sänger Devon Portielje parallel Schlagzeug, was ihn kein bisschen aus dem Takt bringt und der Qualität seines Gesangs keinen Abbruch tut. Immer wieder experimentiert er mit seiner besonderen Stimme, sodass die Songs zwar klingen wie auf den Alben, aber doch irgendwie besser, weil mehr passiert, weil es spannender ist und man sich auch als eingefleischter Fan doch noch überraschen lassen kann. Nach einer kurzen Pause spielen Half Moon Run als Zugabe „Jello On My Mind“ vom neuen Album, wobei die Lichtshow den Song ideal inszeniert: Die Bühne leuchtet in rosa, passend zur Stimmung des Songs, durch den man sich wie in einem Süßigkeiten-Museum fühlt. „Fire Escape“ und „Full Circle“ schließen das Set ab, nicht ohne noch einmal einen maximal schönen Gänsehaut-Moment bei „Fire Escape“ zu kreieren. Die Musik scheint aus allen Ecken zu kommen. „Full Circle“ schickt uns mit einem Grinsen in die Nacht, allerdings auch mit einem weinenden Auge, denn die Zeit verging viel zu schnell! Nach einer Stunde habe ich das Gefühl, gerade richtig angekommen zu sein, doch nach einer Stunde und zwanzig Minuten ist der Abend mit Half Moon Run auch schon wieder vorbei. Das ist wirklich schade, denn selten findet man auf einem Konzert eine so besondere Stimmung aus Tanzen, Gitarren, Frieden, Lächeln, Augen schließen und Treiben lassen. Davon gerne mehr!
Half Moon Run sind einfach ganz besondere Musiker. Sie scheinen alle unglaublich begabt zu sein, spielen alle mindestens drei Instrumente, jammen gemeinsam auf der Bühne und singen so herrlich im Chor, als würden sie das seit Kindertagen tun. Gegründet wurde die Band aber erst 2010, da kommt das mit dem Kindergarten alterstechnisch nicht so ganz hin… Besonders schön fand ich heute, dass sie nicht einfach ihr neues Album „runtergespielt“ haben, sondern aus allen drei Alben Songs ausgewählt haben, schön durchmischt und dadurch sowohl für Fans der ersten Stunde als auch für neue Half Moon Run-Anhänger*innen ein wirklich schöner Abend. Bei der nächsten Tour wünsche ich mir das auch, nur vielleicht in doppelter Länge!
In den vielerorts instabilen Zeiten, die wir im Moment erleben, ist es schön auf Konstanten zu treffen. Die Stone Temple Pilots sind eine solche Konstante. Mit der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Core“ gelingt der Band 1992 auf Anhieb der Durchbruch. Nach vier weiteren erfolgreichen Studioalben geben die Stone Temple Pilots 2003 aufgrund interner Differenzen ihre Auflösung bekannt, um 2008 erneut zusammenzufinden und 2010 ihr sechstes Album zu veröffentlichen. Nach dem tragischen Tod ihres legendären Frontmannes Scott Weiland 2015 übernimmt für kurze Zeit der inzwischen ebenfalls verstorbene Chester Bennington von Linkin Park das Mikrofon. 2017 findet die Band über ein Casting in Jeff Gutt schließlich einen neuen Leadsänger, der erstmals auf ihrem im März 2018 erschienenen, wie bereits sein Vorgänger ebenfalls schlicht „Stone Temple Pilots“ betitelten Album zu hören ist. In der Besetzung Dean DeLeo an der Gitarre, Schlagzeuger Eric Kretz, Robert DeLeo am Bass und eben Jeff Gutt sind die Grunge-Heroen aktuell für drei Termine in Deutschland unterwegs. Nach Berlin ist Köln heute ihre zweite Station, der morgen noch Frankfurt folgt.
Dieser Dienstag wird zum heißesten Tag der Woche. In der Spitze werden in der Domstadt 35 Grad gemessen. So führt unser erster Weg in der Live Music Hall auch direkt zum Bierstand. Aber offensichtlich hat selbst hier die Kühlung schon vor den Temperaturen kapituliert, denn das Bier ist bestenfalls laukalt. Also vertreiben wir uns die Zeit mit der Vorgruppe. Die heißt Walking Papers, kommt aus Seattle und dürfte hierzulande weitestgehend unbekannt sein. Dabei gehörten bei Gründung der Walking Papers vor sieben Jahren ein gewisser Duff McKagan von Guns N’Roses und Barrett Martin von den Screaming Trees zum Line-Up. Auf die beiden müssen die Kölner leider verzichten. Stattdessen ist das ursprüngliche Quartett inzwischen zum Sextett angewachsen und überzeugt eine halbe Stunde lang mit feinstem Bluesrock. Zudem ist Sänger Jeff Angell eine beeindruckende Rampensau, der zum Ende des Auftritts von der Bühne springt und quer durch die Live Music Hall spaziert. Ein Auftritt, der im wahrsten Sinne des Wortes aufhorchen lässt.
Um kurz vor 21 Uhr ertönt dann das Intro von „Trippin‘ On A Hole In A Paper Heart“ und die vier Stone Temple Pilots betreten unter dem Jubel der geschätzt 1.000 Fans die Szenerie. Im Gegensatz zum Bierstand gibt die Klimaanlage im Inneren der Halle alles und macht die Temperaturen halbwegs erträglich. Warum Jeff Gutt und Robert DeLeo auf der Bühne eine Sonnenbrille tragen, erschließt sich mir allerdings nicht. Sei’s drum. Hinein ins Vergnügen. Auf die Frage, was die Fans während der kommenden Tour erwarten dürfen, hatte Robert DeLeo geantwortet: „Nach so langer Zeit voller Erfahrungen im Leben fühlen wir uns verpflichtet, tief in einem Katalog zu graben, der über 30 Jahre gewachsen ist. Dabei versuchen wir, jene Songs zu berücksichtigen, die wir noch nicht live gespielt haben. Wir wollen auch den Leuten, die uns in der Vergangenheit erlebt haben, die Chance geben, Songs zu hören, die wir auf früheren STP-Shows nicht gespielt haben. Wir wollen diese Lebenszeiten mit unseren Performances feiern!“.
Und so eröffnen mit „Wicked Garden“, „Crackerman“ und „Vasoline“ auch gleich drei Kracher aus der frühen Schaffensphase der Band das Set. Im Publikum sieht man viele Träger alter Tour-Shirts, die über diesen Auftakt sichtlich begeistert sind. Vor mir steht jemand im Shirt der 1994er „Purple“-Tour und es passt sogar noch. Hut ab! Jeff Gutt erinnert optisch tatsächlich ein wenig an Scott Weiland und hat neben einer überzeugenden Bühnenperformance auch eine ähnliche Stimme zu bieten. So ist in gleich zweierlei Hinsicht zu hoffen, dass er länger bleibt als sein Vorgänger. Und zu „Glide“ legt er auch endlich die etwas angeberische Sonnenbrille ab. So zieht die Band mit „Big Empty“, zu dem sich Gutt ein Bier aus dem Publikum reichen lässt (das er dann locker auf ex trinkt), einer grossartigen Gänsehaut-Version von „Plush“ und „Meadow“, der ersten Single ihres aktuellen Albums, eine musikalische Schneise durch die schwül-schwere Luft in der Live Music Hall. Die Stone Temple Pilots halten was Robert DeLeo versprochen hat und spielen sich einmal quer durch ihren Backkatalog, der ja schon immer mehr zu bieten hatte als „nur“ Grunge und in dem neben Psychedelic-Elementen und Blues auch Anleihen im Pop zu finden sind.
Als mit „Interstate Love Song“ dann mein ganz persönlicher Favorit folgt, verlange selbst ich meinem bereits komplett durchgeschwitzten T-Shirt nochmal alles ab. Jeff Gutt schmeißt sich sogar zu den Fans in die ersten Reihen, die ihn in die Luft heben, wo er scheinbar schwebend „Roll Me Under“ ins Mikrophon brüllt. Das Main Set endet so wie es begonnen hat, nämlich mit „Trippin‘ On A Hole In A Paper Heart“, diesmal in der Full Band-Version. Zurück bleibt eine im doppelten Sinne kochende Halle – was die Temperaturen und die Stimmung angeht. Bei den beiden Zugaben „Dead & Bloated“ und „Sex Type Thing“ sind dann alle im Feiern vereint – die alten T-Shirt-Träger und die jungen Neu-Fans, die zum Teil noch gar nicht auf der Welt gewesen sein dürften, als die Stone Temple Pilots ihren Siegeszug begannen. Nach 80 ebenso kurzen wie kurzweiligen Minuten verabschieden sie gemeinsam eine Band, die an diesem Abend in Köln nur glückliche und verschwitzte Gesichter zurücklässt und bewiesen hat, dass altes Eisen eindeutig anders klingt. Der einzige, der am Ende des Konzerts noch aussieht wie aus dem Ei gepellt, ist Robert DeLeo. Und seine Sonnenbrille hat er auch noch an.
Am 27.9.2018 war Passenger zu Gast in der ausverkauften Live Music Hall in Köln. Ich durfte zunächst ein Interview mit dem sympathischen Briten führen, musste mich danach aber wie alle anderen in die einige Hundert Meter lange Schlange durch die Kölner Lichtstraße einreihen. Kein Problem – in der wärmenden Abendsonne. Und eine gute Möglichkeit, die Atmosphäre der gespannt Wartenden zu schnuppern.
Vor einem Jahr sah ich ihn auf einem wundervollen, atmosphärischen Open Air in Luxemburg. Damals noch mit großer Band. Und er jagte den Zuhörern einen gehörigen Schrecken ein: jetzt sei erst einmal eine längere Pause angesagt. Eigentlich allzu verständlich, ist Mike David Rosenberg aus dem britischen Brighton doch seit Jahrzehnten auf fortwährender Tour. Bevor er pausierte, sollte allerdings noch ein neues Album erscheinen: „The Boy Who Cried Wolf“. Wie immer voller eingängiger und emotionaler Akustik-Balladen. Und schon ein Jahr später erschien das neue Album „Runaway“. Übrigens das zehnte Studioalbum in elf Jahren. War wohl nichts mit Pause. Die Gründe dafür erläutert Mike HIER im Interview.
Nun aber zum Konzert. Den Anfang machte Steph Grace aus Australien. Eine junge Songwriterin, die wie Passenger mit Straßenmusik angefangen hat und nun die große Chance erlebt, mit ihm auf Tour zu gehen. Ein schöner Support, der einen magischen Moment zu bieten hatte: Als Steph einen Song für ihren verstorbenen Vater ankündigte, ging plötzlich ein Handylicht in der Menge auf, dem viele viele Weitere folgten. Steph Grace war überwältigt von diesem Zeichen und brach mitten im Song in Tränen aus. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr das Publikum so aufmerksam zuhörte. Aber es war nun mal ein ganz besonderer Gig mit einem speziellen Publikum. Auch Passenger lobte die Kölner später für ihre Stille zwischen den Songs. Steph Grace hat sich auf jeden Fall mit diesem kurzen Support in die Herzen der Zuschauer gespielt. Man hoffte, noch mehr von ihr hören zu dürfen.
Passenger erschien kurze Zeit später allein mit Gitarre auf der Bühne und begann den Set mit dem ruhigen „Fairytales & Firesides“. Er hatte schon im Interview gesagt, dass es nach der großen Tour mit kompletter Band wieder an der Zeit ist, zurück zu den Wurzeln zu gehen. So spielt er die momentane Europatournee allein ohne Brimborium. Nur Stimme und Gitarre. Selbst die Rhythmus-Elemente erzeugt er auf dem Gehäuse selbst.
Trotzdem gab es aber nicht nur stille Momente. Schon „Life’s For The Living“ wurde als Rockhymne ordentlich abgefeiert, gefolgt von dem nicht weniger starken neuen Song „Hell Or High Water“. Das ruhige „David“ widmete Passenger einem Obdachlosen, den er einmal vor einem Hostel getroffen und mit dem er sich mehrfach unterhalten habe. Eine Geschichte, voll aus dem Leben gegriffen. Und er erzählte nicht nur bei den Ansagen zwischen den Songs, sondern auch im Stück selbst. Die Leute hingen an seinen Lippen, was Passenger auch erfreut bemerkte.
Ein besonders intimer Moment entstand bei der Ballade „To Be Free“, die Passenger seinen Großeltern widmete. Der Großvater stammte aus Köln, die Großmutter aus Polen. Beides Juden, die während der Nazizeit aus Deutschland fliehen musste. Er appellierte an die Fans, allen Flüchtlingen zu helfen, was ihm großen Applaus einbrachte. Während des Songs kochten die Emotionen hoch – vielleicht als Passenger klar wurde, dass er hier in Köln singt. Dem Ort, aus dem sein Großvater fliehen musste. Zumindest brach ihm für einen kurzen Moment die Stimme. Die Liebe des Publikums war ihm sicher.
Eine Coverversion von „Sound Of Silence“ leitete er mit der Geschichte von einem jungen Fan ein, der ihm unlängst versicherte, was für einen tollen Song er da geschrieben habe. „Wenn ihr den zufällig mal trefft: Bitte erzählt ihm nicht, dass das Stück nicht von mir ist.“ Was man dann aber hören durfte, war eine Hammerversion des altbekannten Titels mit viel Energie und enormer Lautstärke. Aus der Ballade wurde ein starker Rocksong.
Das lustige „I Hate“ mutierte zur lang ausgedehnten Mitsingnummer. Dann sagte Passenger mit vielen Worten die neue Single „Survivors“ an. Die Leute hörten so gebannt zu, dass er irgendwann die bange Frage stellte, ob noch Überlebende anwesend seien. Eine Frau rief „We are here“ und Passenger konnte erlöst in den Song starten. Auch zu „Let Her Go“ entstand ein Moment, den Passenger bisher noch nicht erlebt hatte: Im Publikum gab es einen Heiratsantrag und die Menge jubelte dem frisch verlobten Paar zu. Passenger änderte dann auch prompt eine Textzeile in „Don’t Let Her Go“.
Bereits nach einer Stunde begann der Zugabenblock. Solo gibt Passenger keine ellenlangen Konzerte, aber diese sind so intensiv, dass sich kaum einer darüber ärgert. Nochmal eine Coverversion: Bruce Springsteens „Dancing In The Dark“. Und den Abschluss bildete eine ausgedehnte Version von „Holes“, die wieder zum Mitsingen anregte. Man kann nur sagen, dass die 75 Konzertminuten absolut rund waren und Passenger das Publikum im Sturm eroberte. Der ehemalige Straßenmusiker weiß noch gut, wie er mit der Menge umzugehen hat. Und er entließ eine bestens gelaunte Zuschauerschar in die Kölner Nacht.
Als wir uns an diesem Dienstagabend auf den Weg nach Köln-Ehrenfeld machen, neigt sich über der Domstadt ein Sommertag mitten im Frühling seinem Ende entgegen. Um 19 Uhr ist es immer noch stramm über 20 Grad warm und so verbringen viele Besucher die Wartezeit auf Monster Magnet lieber bei einem kalten Bier im Innenhof der Live Music Hall als dem Auftritt der Vorgruppe ¡Pendejo! aus den benachbarten Niederlanden zu lauschen. Wobei bei deren Gemisch aus Stoner Rock und Doom Metal von „lauschen“ kaum die Rede sein kann. Immerhin lernen wir, dass „pendejo“ aus dem Spanischen kommt und „Arschloch“ bedeutet. Aha!
Derlei Wortspielereien haben Monster Magnet nicht nötig. Die Mannen um Mastermind Dave Wyndorf gehören bald seit unglaublichen 30 Jahren zu den wichtigsten und einflussreichsten Bands in den Bereichen Schnell, Hart und Laut. Ende März erschien ihr elftes Studioalbum „Mindfucker“, das Wyndorf als „eine Bombe voller Detroit-Style, frühe Siebziger mit Rock in Erinnerung an MC5 und die Stooges“ angekündigt und damit keineswegs übertrieben hatte. „Mindfucker“ ist ein dreckiges Stück Musik, irgendwo zwischen Sludge und Stoner Rock, also genau so wie man sich ein Monster Magnet-Album vorstellt. Kein Wunder, dass die Live Music Hall heute aus allen Nähten platzt. Die geschätzt 1.500 Fans sorgen in kürzester Zeit dafür, dass die Temperatur im Inneren der Halle locker auf das Doppelte der Außentemperatur steigt.
Monster Magnet-Konzerte sind wie eine Zeitreise in die Neunziger Jahre. Das Publikum scheint optisch jedenfalls in genau dieser Zeit stehengeblieben zu sein. Ich sichte sogar ein Mudhoney-T-Shirt. Monster Magnet-Konzerte sind aber auch wie ein Trip, eine Mischung aus Heavy Metal, psychedelischen Anfällen, purem Punk, Krautrock, schwerem Space Rock, bluesigen Harmonien, unglaublichen Gitarren und seltsamen Texten. Da macht Köln keine Ausnahme. Dave Wyndorf hat im Vergleich zum letzten Gastspiel vor vier Jahren an gleicher Stelle ordentlich abgespeckt, was ihm sicht- und hörbar gut tut. Das hier ist ganz klar seine Veranstaltung. Wild gestikulierend animiert er die Fans zum Mitsingen und füllt die Rolle als Rampensau auch sonst perfekt aus. Da bleiben für Garret Sweeny, Phil Caivano, Chris Kosnik und Bob Pantella, von ein paar gelegentlichen Gitarrensoli abgesehen, allenfalls nur Nebenrollen übrig.
Der Start ins Set fällt mit „Dopes To Infinity“ standesgemäß aus. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß: Es werden lediglich elf weitere Stücke folgen. „Mindfucker“ ist gleich mit fünf Songs vertreten und stellt damit quasi im Alleingang die Hälfte der kompletten Setlist. Während mir der Schweiß langsam in die Schuhe läuft und ich beginne an meinen Nebenleuten festzukleben, knallt uns die Band kompromißlos einen Song nach dem anderen vor den Latz. Vor der Bühne bildet sich währenddessen ein amtlicher Mosh Pit und die ersten Crowd Surfer werden ebenfalls gesichtet. Der Sound ist perfekt ausbalanciert und schön fett, die Bühneneffekte mit dem obligatorischen aufgemotzten Stierkopf im Hintergrund ebenso sparsam wie Wyndorf’s Ansagen. So sind wir nach 60 Minuten auch schon mit dem Main-Set durch, das ebenso standesgemäß mit „Space Lord“ endet.
Was folgt sind weitere drei Songs als Zugabe, wobei die Fans besonders beim abschließenden „Powertrip“ nochmal alles geben. Zumindest diejenigen, deren Kreislauf angesichts der kostenlosen Sauna in der Live Music Hall noch stabil ist. Nach knapp 80 Minuten verschwindet Dave Wyndorf grußlos von der Bühne und lässt seinen Mitstreitern wenigstens noch die letzten Akkorde alleine im Scheinwerferlicht. Man könnte nun angesichts der relativen „Länge“ des Konzerts von einem faden Beigeschmack schreiben, aber dieses Gefühl stellt sich nicht ein. Auch von den Fans kommen keinerlei Unmutsäußerungen. Im Gegenteil. Um mich herum wringen nur zufrieden grinsende Gesichter ihre T-Shirts aus und bestellen noch ein frisches Bier. So muss Rock’n’Roll heute wohl sein: Kurz, knackig und voll auf die Zwölf. Wenn das der Auftrag war, dann haben ihn Monster Magnet in Köln hundertprozentig erfüllt. Getreu dem „Mindfucker“-Motto „When The Hammer Comes Down“.
Am vergangenen Donnerstag, den 07. Dezember 2017, brachte Gogol Bordello aus New York jede Menge Wärme in die nasskalte Winterluft. Genauer gesagt brachte die vielköpfige Combo gemeinsam mit der Vorband Lucky Chops die Live Music Hall in Köln zum Kochen!
Bereits von Beginn an war die Halle sehr gut gefüllt. Vor dem Einlass hatte sich gar eine Schlange gebildet, was bei dem regnerischen Wetter nicht unbedingt angenehm war, mit dem Betreten des Saales dann aber vergessen war. Lucky Chops waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu Gange und wärmten die durchfrorenen Besucher schon mal auf. Die Bläsertruppe mit Schlagzeug sind vor allem durch ihre Interpretationen bekannter Pop-Songs in den U-Bahnstationen New Yorks bekannt geworden. Auch alleine füllt die 2006 gegründete Band mittlerweile Hallen und eignete sich hervorragend, um für Gogol Bordello den Abend zu eröffnen. So viel sei bereits verraten, im Laufe des Abends sollte man die Jungs noch öfter sehen, der Abschied nach ihrem Set sollte kein endgültiger sein.
Während der Umbaupause füllte sich der Saal weiter, bis schließlich die Band des Abends die Bühne betrat: Mit voller Wucht eroberte das multikulturelle Ensemble die Halle und ließ von Beginn an kaum jemanden still stehen. Die weitgereiste Gruppe ist live – wohl auch dank langjähriger Bühnenerfahrung – ein großer Spaß. Der Mix setzt sich aus etlichen Genres zusammen und lässt seit 1999 das Publikum im Takt hüpfen und tanzen.
Dabei steht auch die Band selbst nie still. Allen voran natürlich Frontmann, Bandgründer, Sänger und Zwischendurch-mal-Gitarrist Eugene Hütz. Der drahtige Mann mit dem Schnauzer und mittellangem, wildem Haar scheint unermüdlich zu sein und hat während all dem Hin und Her, dem Auf und Ab noch die Puste aus voller Kehle zu singen. Pause gibt es hier nicht, von allen wird alles gefordert und das über zwei Stunden lang.
Gypsy-Punk stößt auf lateinamerikanische Klänge, Folk, Rock, Dub, Ska und vieles mehr. Zur klassischen Bandbesetzung kommen hier noch Akkordeon und Geige hinzu und weil das nicht reicht, dürfen in Köln auch die Bläser von Lucky Chops für mehrere Songs mit auf die Bühne. Damit werden die Lieder noch ein bisschen runder, Ashley Tobias übernimmt Gesangparts und hilft an den Percussions aus – zwischendurch tummeln sich bis zu 13 Musiker*innen vor dem ausgelassen feiernden Publikum.
Neben einigen Songs vom aktuellen Album Seekers and Finders wie Break Into Your Higher Self oder Saboteur Blues wurden auch die alten Hits ausgegraben: Wonderlust King kam genauso wie My Companjera ziemlich zu Beginn, mit Start Wearing Purple neigte sich das Set dem Ende zu.
Doch die Spiellust war an diesem Abend sichtbar groß, und so spielte die Combo um den charismatischen Frontmann nicht nur eine, sondern direkt zwei Zugaben.
Für die Anwesenden war es ein Fest – schweißtreibend und anstrengend, aber dafür konnte man für zwei Stunden den Kopf abschalten, tanzen und passend zur Show die verrückte Seite auch mal ein wenig rauslassen, die viel zu viele Leute zu oft tief im Inneren begraben.
Vier Jahre nach ihrem letzten Studioalbum „Magma“ haben sich Selig Anfang November mit „Kashmir Karma“ auf dem Musikradar zurückgemeldet. In den Neunzigern galten die Hamburger als einzige ernstzunehmende deutschsprachige Alternative zu Grunge-Helden wie Nirvana oder Pearl Jam. Auf „Kashmir Karma“ kehren sie zu ihren musikalischen Wurzeln zurück. Das Album wurde in der Abgeschiedenheit der schwedischen Westküste aufgenommen und schließt den Kreis zu früheren Werken wie „Hier“ oder „Blender“. Einerseits inspiriert von der unberührten Natur, andererseits von dem aufgewühlten Zustand, in dem sich die Welt gegenwärtig befindet.
„Kashmir Karma“ steht deswegen vielleicht auch ein Stück weit sinnbildlich für die bewegte Geschichte der Band. Die als Newcomer direkt mächtig durchstartete, drei Hammeralben rausbrachte, sich eine zehnjährige Pause gönnte und dann ebenso fulminant mit dem nächsten Album in den Zweitausendern zurückkehrte – um sich dabei ganz nebenbei selbst neu zu erfinden. Auf der aktuellen Tour gibt es deshalb nicht nur Neues auf die Ohren, sondern auch Songs aus zwanzig Jahren bewegter Bandgeschichte.
Musicheadquarter-Chefredakteur Thomas Kröll traf Jan Plewka, Lenard „Leo“ Schmidthals, Christian Neander und Stephan „Stoppel“ Eggert vor ihrem Konzert in der Kölner Live Music Hall zu einem ausführlichen Interview über die Tour, das neue Album, die Zeit in Schweden oder die Suche nach einer Plattenfirma.
Selfie mit Selig (Foto: Jan Plewka)
Erstmal willkommen in Köln. Ich war vorgestern auch bei eurem Konzert in Essen und da habt ihr das neue Album „Kashmir Karma“ komplett durchgespielt.
Christian: Wir spielen das die ganze Tour komplett durch.
Stephan: Wir konnten einfach nichts aussortieren. Wir haben versucht da irgendwas wegzulassen, aber bei den Proben haben wir dann festgestellt, dass das alles zu viel Spass macht. Wir muten den Leuten das jetzt einfach mal zu lauter neue Songs zu hören.
Dafür hat es ja schon super funktioniert.
Christian: Ja, erstaunlich. Auch gestern in Frankfurt haben extrem viele die neuen Songs mitgesungen. Was man jetzt nicht so erwarten musste. Aber es macht auch so einen Bock, weil das ist eine gute Challenge die neuen Sachen zu spielen. Es ist irgendwie so befruchtend und aufregend.
Das neue Album habt ihr in Schweden aufgenommen. Ich nehme an ihr seid nicht wegen Ronja Räubertochter nach Schweden gefahren. Warum also gerade Schweden?
Jan: Da ist die Ruhe eine andere. Man kommt besser zu sich und kann sich besser konzentrieren. Im Nichts war das eigentlich. Auf einem Felsen. In so einer kleinen Hütte. Da konnte man sich dem ganzen Trubel entziehen und sehen wer wir sind, wieder zurück zu unserem Wesen kommen, zu unserem Mittelpunkt der Band. Und jetzt im urbanen Wahnsinn, wo hier ein Club ist und da eine Kneipe, da hätten wir das nicht gefunden. Wir sind richtig so in buddhistischer Ruhe zurückgekehrt.
Christian: Das war auch eine Art Neuanfang. Wir hätten auch in Berlin oder Hamburg arbeiten können, wollten uns aber so richtig zurückziehen. Dann kam Jan’s Frau auf die Idee: Fahrt doch in das Haus. Das war die beste Idee der letzten zehn Jahre. (alle lachen)
Jan: Die beste Idee der Menschheit eigentlich.
Christian: Wir wussten selbst nicht was passiert. Das Best Of war irgendwie ein Abschluss für die Reunion und Malte (Neumann, d.Red.), unser Keyboarder, ist nicht mehr dabei. Es war ein Neuanfang und dafür war das ideal. Wir sind dahin gefahren um Songs zu schreiben, hatten ein bisschen Aufnahmezeugs mit, aber einfach nur zum Dokumentieren. Wir sind ganz viel spazieren gegangen und haben gemeinsam die ersten Songs geschrieben und auch gleich aufgenommen. Irgendwann keimte dann der Gedanke auf: Ey, ist das die Produktion? Das kriegen wir doch nie wieder so hin, diese Aufregung des ersten Mal. Und dann sind wir mit den Aufnahmen nach Hause und haben einen befreundeten Mischer, der auch schon zwei Alben für uns gemischt hat, Michael Ilbert, gefragt: Hast du Lust auf ein lustiges Schweden-Projekt? Wir haben ihm die Sachen vorgespielt und er hat gesagt: Yes I can do it. Let me try.
Leo: Wir wussten natürlich, dass die Aufnahmen auch schon speziell sind, aber er hat das sofort verstanden. Er war fast wie ein fünftes Bandmitglied. Das entstand auch so sukzessiv. Da waren diese ersten zehn Tage und dann war noch gar nicht klar, dass wir da nochmal hinfahren. Ich weiß noch wie wir das dann den Familien zuhause erzählt haben, dass wir da jetzt nochmal hin müssen. Dann sind wir ein zweites Mal dahin und noch ein drittes und noch ein viertes Mal.
Christian: Als das dann so klar war, dass das der Prozess ist und dass es funktioniert, war das schon geil. Wir waren ja auch noch völlig vogelfrei. Kein Management, kein Deal. Und dann sind wir mit den Aufnahmen zu Plattenfirmen gegangen, um mal zu gucken was die sagen. Wir waren so vollkommen euphorisiert von unserer Kommune da. Ist uns alles egal, wir finden es mega geil. Also so glücklich wie noch nie. Wir waren dann bei fünf Plattenfirmen und es war auch so spannend wie das dann auf den Anlagen klingt und was die dazu sagen. Danach hatten wir vier Angebote und konnten in Ruhe gucken, wer das so am besten versteht.
Ich stelle mir vor, dass doch jede Plattenfirma ja sagt wenn Selig kommt, oder?
Stephan: Es hätte ja alles passieren können. Die Leute hätten ja genauso gut sagen können: Hey, das ist nicht zeitgemäß, die Musik geht gerade überhaupt nicht. Oder ihr seid zu alt oder so. Aber wir sind da total offene Türen eingerannt. Die waren schier aus dem Häuschen. Das war toll.
Leo: Die hatten auch alle so Blätter in der Hand. Das war echt interessant.
Blankoverträge?
(alle lachen)
Leo: Nee, so wieviel Googleanfragen, wieviel Facebookfreunde, wieviel Verkäufe. Also man ist da echt ein gläserner Mensch. Das war echt irre. Die waren alle gut vorbereitet. Zum Glück haben aber viele Leute gesucht und bei Youtube wurde das auch geklickt. Das wussten die halt.
Jan: Aber wir wissen jetzt auch einiges über Sony. Es war ein Austausch, ein Geben und Nehmen. (lacht)
Christian: Dann war Willy Ehmann, der Chef von Sony, beim Konzert in Frankfurt. Und wir haben ihm gesagt: So, wir wissen alles über dich. (grosses Gelächter)
Das neue Album klingt weniger glattgebügelt als „Magma“, obwohl ich „Magma“ auch mag. Es hat mehr Ecken und Kanten und ist ein bißchen rauer. Es klingt so als hättet ihr es ausgeschwitzt. Das war ja ein Prozeß, vielleicht auch nicht immer einfach. Man musste sich irgendwie finden. Ihr habt es ja schon beschrieben. Jan hat beim Konzert in Essen gesagt, dass euch zuerst gar nichts einfiel.
Leo: Das stimmt nicht so ganz. Eigentlich war es echt super. Wir kamen an und haben aufgebaut und es waren so glückliche Zufälle. Also erstmal klang dieser Raum total gut. Dann waren die Instrumente, die wir uns geliehen haben, ideal. Und wir waren auch einfach in einer super Laune. Wir waren wie aufgeregte Jungs. Es ging eigentlich gleich am ersten Abend los. Wir wollten das auch pur machen. Wir sind halt eine Rockband. Das stimmt schon mit „Magma“. Da war ja Steve Power Produzent. Ein super Typ. Wir hatten eine super Zeit in England und auch so einen kleinen Radiohit. Aber es ist halt ein Pop-Produzent. Wir sind aber eigentlich viel rockiger. „Alles auf einmal“ ist super und die „Magma“-Platte ist toll, aber es war schon bewusst so, dass wir wieder zurück zu unseren Wurzeln wollten.
Ich finde auf jeden Fall, dass „Kashmir Karma“ sehr authentisch und ehrlich klingt. Und auch sehr abwechslungsreich. „DJ“ zum Beispiel kommt eher esoterisch rüber, „Feuer und Wasser“ rockt, „Lebenselixier“ ist so eine fröhliche Mitklatschnummer und „Kashmir Karma“ hätte auch von Alice In Chains oder Soundgarden sein können. Ich brauchte ein wenig um mich damit anzufreunden, aber meistens sind ja im Nachhinein die Alben die besten, die erst mit Verzögerung zünden. Würdet ihr mir zustimmen, wenn ich sage „Kashmir Karma“ ist das beste Selig-Album aller Zeiten?
Christian: Ja, irgendwie ja. Also die Nähe, die wir da zu Viert haben, die haben wir vielleicht noch nie erreicht. Das erste Album ist natürlich auch super stark, aber der Entstehungsprozess von „Kashmir Karma“ und dieses Gemeinsame, das man auch hört, das ist schon echt sehr nah.
Jan: Ich würde sagen, es ist mal wieder das beste Selig-Album aller Zeiten. (alle lachen)
Leo: Es ist halt echt ein Album. Wir haben es selber so oft gehört und so lange gehadert mit der Reihenfolge. Heute ist ja alles so ein Trackbusiness. Da gibt’s dann eine Single und der Rest des Albums ist so naja. Auf „Kashmir Karma“ hat jedes Stück seine eigene Atmosphäre. Das ist wie ein Poesiealbum oder wie ein Fotoalbum. Ich schlage die nächste Seite auf und da kommen andere Erinnerungen oder Bilder. Wenn man das so durchhört dann hat das auch eine Dramaturgie. Jan hat mal gesagt: Elf Stufen zur Seligwerdung.
Jan: Was wir dieses Mal echt vergessen haben ist ein Hidden Track. Das haben wir noch nie vergessen. Oder? Auf der „Magma“ ist auch kein Hidden Track. Irgendwann haben wir aufgehört Hidden Tracks zu machen.
Leo: Wir waren diesmal auch mutiger, glaube ich. Wir haben uns selber die „Hier“-Platte nochmal angehört und gedacht: Wow, das ist irgendwie gut als wir uns um nix gekümmert haben und das gemacht haben was wir wollten. „Unsterblich“ war zum Beispiel eine Session.
Stephan: Die konnten wir erst nicht nehmen. Bei den Aufnahmen hatte es irgendwelche technischen Ungereimtheiten gegeben. Das fanden wir schade. Und dann haben wir echt versucht das nachzuturnen. Das ist immer schwierig. Bis wir gesagt haben: Okay, das ist jetzt so nah dran, das können wir nehmen.
„Kashmir Karma“ erschien am 03.11.2017 bei Sony Music.
Das Intro zu „Zu bequem“ klingt auch so als hätte es jemand mit einem Kassettenrecorder aufgenommen.
Christian: Die erste Strophe ist tatsächlich eine iPhone-Aufnahme. Wir hatten halt diesen Fetzen, den wir so abgefeiert haben. Was machen wir nun damit? Dann kam Jan und hatte noch mehr Text. Dann war halt die Idee damit anzufangen und dann weiter zu bauen. So haben wir daran rumgedoktert und einen Abend ganz schreckliche stinkende Bluesrock-Kacke gemacht. Ganz furchtbar.
Leo: Aber an demselben Abend hat Christian durch Zufall noch so einen Treter gedrückt. Das war spät Abends. Da ging plötzlich dieses Pedal an und dann wussten wir, das ist der Weg.
Christian: Morgens nach dem Frühstück haben wir es dann gleich aufgenommen. First Take, yes. Leo war der Löffel- und Schnips-Spezialist. Am Abend haben wir es dann angehört und gedacht: Wow, das ist richtig gut. Dann kam Jan und wollte im Mittelteil noch irgendwie so Flugzeuggeräusche. Leo und ich haben also noch Flugzeug gespielt und dann war das Lied fertig. (alle lachen)
Dann ist „Zu bequem“ ja vielleicht so ein bißchen das Sinnbild für die Zeit in Schweden insgesamt.
Christian: Auf jeden Fall. Es war so ein schöner Abend mit dem Nachbarn da. Der heisst Pelle und kam ab und zu rüber. Pelle war früher Punkgitarrist in einer ziemlich wilden Band und dann hat seine Freundin gesagt: Also entweder die Band oder ich. Und dann ist er Postbote geworden. Pelle kam halt immer rüber, der ist jetzt 65. Kurz vor Midsommer hatte er seinen letzten Arbeitstag. I’m a free man. Ein extrem cooler Typ. Dann haben wir gesagt: Okay free man, du musst jetzt bei „Zu bequem“ Ukulele spielen. Weil er auch dabei war als das entstand. Und dann hat er in Hamburg auf der Bühne Ukulele gespielt. Das war so geil. Er hat das sehr genossen. Sein Schwiegersohn hat so ein kleines Studio und sammelt alte Instrumente. Alles was gut aussieht und alt ist kauft der. Von dem haben wir uns Sachen ausgeliehen. Und das sind beides ganz schöne Styler. Also mit einem sehr klaren Musikgeschmack. Das ist cool, das ist uncool. Das waren eigentlich die einzigen Menschen, die uns da in Schweden begegnet sind und die am Wochenende mal vorbeikamen und zugehört haben. Das war so ein Weltgeschmack. Die coolen Schweden. Bei „Wintertag“ gibt es eine Bridge wo wir dachten, da machen wir was aus der Beatleschor-Abteilung. Und Pelle sagte: I won’t do. You hear it anyway. Und wir so: Okay. Er war so etwas wie der heimliche Produzent. Auch wenn er das nicht weiß.
Jan: Wir meinten dann zu ihm: Hey, wir überlegen ob wir die Platte „Kashmir Karma“ nennen sollen. Und die Tour auch. Und er so: Gibt es schon, könnt ihr nicht machen. Und wir so: Och schade, aber wenn er das sagt. Und am nächsten Tag kam er dann mit dem Cover von so einer Platte und sagte: Okay, ich hab mich verguckt, ich meinte das. Und dann stand da „Kuala Lumpur“ (grosses Gelächter)
Wie muss ich mir den Prozess des Songschreibens bei euch vorstellen?
Leo: Nehmen wir als Beispiel „Feuer und Wasser“. Da war ein Kamerateam dabei und die haben gesagt, dass sie uns einfach beim Aufnehmen filmen. Wir wollten eigentlich was ganz anderes machen. Wir hatten einen richtigen Plan für den Tag gemacht. Und dann hat es draußen geregnet und das Fenster stand auf. Es kamen Luftzüge rein und die Gardinen wehten ein wenig. Christian daddelte an der Gitarre rum. Ich kam rein und sagte: Das ist gut. Ich weiß auch nicht mehr genau. Und dann haben wir plötzlich angefangen zu jammen und dachten: Hier entsteht gerade was. Und der Regen passte so gut zu diesem Moment. Dann haben wir das aufgenommen und gemerkt, dass da gerade ein Song entsteht. Das Kamerateam hatten wir total vergessen. Wir haben unseren Plan umgeschmissen und an der Strophe gefeilt und tausendmal umgestellt. Bei „Feuer und Wasser“ haben wir wirklich ganz viel ausprobiert. Und plötzlich war der Refrain da. Dann kam Jan mit dieser Textidee und dann nahm das so seinen Lauf. Am Ende des Tages war der Song da.
Christian: Wir haben tierisch viel gejammt und dann immer nochmal angehört. Man merkt meistens beim Spielen schon, dass da irgendwas rumfliegt. Dann ist es natürlich wichtig eine textliche Haltung dazu zu finden. Wir haben sowieso immer viel gesprochen und Jan hat Ideen reingebracht. So wächst das dann so langsam. Plötzlich hast du das Gefühl, dass da was ist. Und dann musst du weiterforschen. Manchmal kommt das so bäm, bäm, bäm und fertig. Und manchmal ist es Knechterei. Was echt ganz geil war, dass wir Pausen gemacht haben. Also wir sind immer zehn Tage hin und dann wieder nach Hause und hatten dazwischen immer Zeit zu reflektieren. Leo hat zum Beispiel immer sehr an „Unsterblich“ geglaubt, an diese Session. Wir haben ihm auch zu danken, dass er da so gebissen hat.
Leo: Oder Stoppel kam mit der Aufnahme zu „Zu bequem“ an. Das war ja auch eine Session. An dem Abend war der Hammer eigentlich schon gefallen. Wir haben am Küchentisch gesessen und zufälligerweise lief dieses iPhone. Zwei Runden später kam Stoppel in Schweden dann wieder damit an. Er hatte das ein bißchen zurechtgeschnitten und wir dachten, dass wir daraus was machen müssen. Es war ein Sammeln und Entdecken von Tönen.
Christian: Wir haben uns Zeit genommen. Ohne Stress. Wir hatten genug Zeit zu forschen. Und wir hatten aber auch total Lust, weil es so einen Spass gemacht hat. Und wir waren frei von dem normalen Bedröhnungsfaktor.
Leo: Oder eine andere Situation die mir einfällt. Wir saßen vor dem Kamin und Christian daddelt aus Spass auf der Gitarre rum. Dann habe ich einfach so mitgespielt und plötzlich war da wieder was. Wir wollten eigentlich ins Bett gehen und dann entstand da doch noch was nachts um Eins.
Das hört man ja auch. Das Album klingt ja jetzt nicht so als müsste man irgendwie auf die Radioquote schielen. Was ist mit den Texten? Wie entstehen die? Läufst du da so klassisch mit der Kladde unter dem Arm rum, Jan, und notierst dir Dinge, wenn sie dir in den Kopf kommen?
Jan: Ja, eigentlich so alles was geht. Ich nehme alle Werkzeuge die mir zur Verfügung stehen. Ich bin mit sehr wenigen selbstgeschriebenen Textbüchern nach Schweden gefahren, weil mir in der Zwischenzeit so viele Textzeilen durch den Kopf gegangen sind. Einige lagen dann so eingefräst und die habe ich dann alle rausholen können. Es war ein Schwall (lacht). Es war so reduziert. Und das steht eigentlich auch ein bißchen als Überschrift bei dieser Platte. Echt reduzieren. Ohne Produzent, ohne Techniker, ohne großes Brimborium, ohne andere Menschen. Die Töne sind in dem Sinne ja auch sparsam. Die sind ja nicht überproduziert. Gerade in dieser Zeit, wo du schon an einem Vormittag zwölf Reizüberflutungen kriegen kannst, wenn du nur ins Netz schaust, ist es tatsächlich auch eine Platte, die zur Entschleunigung beiträgt.
Christian: Der einzige Spiegel für uns waren eigentlich die beiden Schweden. Es gab da einen Moment, wo wir „Unsterblich“ fertig hatten und das Martin, dem Schwiegersohn von Pelle, vorgespielt haben. Und Martin ist so dermaßen abgegangen. Yeah, this is crowd rock. If you have this sound you can travel the world. Das ist auch so ein grosser, lauter, geiler Styler und der ist so abgegangen. Das war ein guter Spiegel und hat einen so motiviert. Das war sehr nett.
Leo: Wir sind ja immer mit der Fähre gefahren und dann haben wir die Aufnahmen auf CD gebrannt und die auf der Fähre gehört. Das war sehr schön.
Christian: Wenn ein Song fertig war, haben wir den auch immer ungefähr zehn bis zwanzig Mal durchgehört und abgefeiert. (alle lachen)
Selig am 17.11.2017 in der Live Music Hall in Köln.
Wenn ich den Rest meines Lebens auf einer einsamen Hütte in Schweden verbringen müsste, welche vier Platten müsste ich unbedingt mitnehmen?
Jan: „Music For Airports“.
Leo: Und dann die „Kashmir Karma“.
Jan: Und „Blue Note“ von Miles Davies. Das haben wir da oft beim Kochen gehört.
Stephan: Und eine Astrud Gilberto-Platte.
Jan: Ja, da bin ich dabei. Das ist geil.
Welche Bedeutung steckt hinter dem Titel „Kashmir Karma“?
Leo: Wir haben echt viel geredet über das Weltgeschehen. Das war auch eine Facette, die neu war. Es war so viel im Wandel. Trump war Präsident geworden. Dann gab’s den Brexit. Das waren eigentlich schon alles sehr sehr beängstigende Nachrichten. Die Erdogan-Nummer war da auch, glaube ich. Einmal am Tag haben wir immer „Tagesschau“ geguckt und uns gefragt was da eigentlich los ist. Der Name „Kashmir Karma“ schwebte wie so ein Karma über dem Ganzen. Dass man eben Sachen tun sollte, die gut für’s Karma sind. Im Gegensatz zu diesen ganzen schlechten Nachrichten. Oder jetzt, Trump will Nordkorea auslöschen. Dass man so etwas überhaupt sagen darf heutzutage. Das ist eigentlich eine Katastrophe. Früher wären die Leute, wenn ein Präsident sowas gesagt hat, auf die Straße gegangen. Man hat sich so daran gewöhnt. Man stumpft ab. Und das darf eigentlich nicht sein. Ganz wichtig für unsere Demokratie und dass das weitergeht, ist, dass man sich unterhält, dass man sich ausreden lässt und dass man Interessenausgleich betreibt. Dass man zusammenkommt und zusammen was herstellt. Und das bedeutet auch so ein bißchen der Name „Kashmir Karma“. Also dass man versucht Gutes zu tun. Und auch sagt und das benennt, was wir meinen, was Gutes sein kann. Bei „Feuer und Wasser“ in der zweiten Strophe, da gibt es richtig deutliche Ansagen wie man sich das eigentlich vorstellen kann. Als Utopie in der Zukunft. Wie geht das nochmal?
Jan (erhebt seine Stimme): Organisiere die Liebe. Zelebriere den Frieden. Kannst du dir das nicht merken? (lacht)
Christian: Wir haben ja auch schon einiges durch in unserem Zusammenleben. Und wie friedlich und respektvoll und begeistert das in Schweden war. Wir haben da eine kleine Kommune gegen diesen ganzen Wahnsinn veranstaltet. Wir alle Vier sind schon sehr extrem, aber wir haben das über die Zeit schätzen gelernt, was man eigentlich doch für ein Glück hat.
Das ist doch ein schönes Schlusswort. Ich danke euch für eure Zeit und das überaus nette Gespräch.
Musicheadquarter bedankt sich ebenso bei Annett Bonkowski (Verstärker Medienmarketing GmbH) für die freundliche Vermittlung des Interviews und bei Mika Bode für die nette Betreuung vor Ort! Wir werden uns wiedersehen!
Für die Aufnahmen zu ihrem siebten Studioalbum „Kashmir Karma“ hatten sich Selig in die Abgeschiedenheit der schwedischen Westküste zurückgezogen, um dort inspiriert von der Natur und der aus dem Ruder geratenen Weltpolitik ihre ganz persönliche Sicht auf die Dinge zu vertonen. Das Ergebnis sind elf neue Songs, mit denen Jan Plewka, Gitarrist Christian Neander, Leo Schmidthals am Bass und Stephan „Stoppel“ Eggert hinter dem Schlagzeug wieder dort anknüpfen, wo sie vor 22 Jahren mit „Hier“ angefangen haben. Wie stolz die Band auf ihr neues Werk ist, lässt sich auch daran ablesen, dass sie „Kashmir Karma“ auf der aktuellen Tour komplett durchspielen. So auch heute in Köln.
Bevor es soweit ist, begrüsst Jan Plewka die 1.100 Fans in der nicht ganz ausverkauften Live Music Hall erstmal mit der Frage „Was ist nur aus dem alten Rock’n’Roll geworden?“. Was er meint, ist der ungewöhnlich zeitige Beginn des Konzertabends. „Halb Acht, ganz schön früh, oder?“, fragt er in die zu diesem Zeitpunkt erst zu zwei Dritteln gefüllte Halle und schiebt quasi als Trost hinterher „Raucht wenigstens noch einer?“. Die Begründung für den frühen Auftakt ist die Partyreihe „Clash Of Trash“, deren Einlass an diesem Freitagabend um 22 Uhr beginnt. Und da müssen die Selig-Fans halt alle wieder draußen sein. Die Band lässt sich davon nicht beirren und spielt ein zweistündiges Set vom Feinsten, das auch all diejenigen erfreut zurücklässt, die es aufgrund des Kölner Dauerstaus nicht rechtzeitig zum Beginn nach Ehrenfeld geschafft haben.
Los geht es mit „Unsterblich“. Ein Song, der die gesamte Geschichte von Selig überschreiben könnte. Jan Plewka legt für einen kurzen Moment seinen schwarzen Schlapphut ab und lässt sich in die vorderen Reihen fallen, wo ihn die Fans ein Stück auf Händen tragen. Überhaupt herrscht eine Stimmung wie bei einem Klassentreffen. Man erzählt sich was es Neues gibt und schwelgt in Erinnerungen. Das Neue sind die Songs von „Kashmir Karma“ (von Jan Plewka mit der einen oder anderen Anekdote versehen) und die Erinnerungen tragen bekannte Namen wie „Bruderlos“, „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ oder „Wir werden uns wiedersehen“. Während Lehrer Plewka auf der Bühne umhertänzelt und mit den Armen rudert, singt der Kölner Schulchor aus voller Kehle mit. Dabei wirkt die Band (und besonders Jan Plewka mit seinem Hut und dem Hippie-Hemd) als wäre sie komplett aus der Zeit gefallen. Wer fragt denn seine Fans heutzutage noch, ob sie Feuerzeuge dabei haben? Selig zaubern eine so herrlich ausgelassene und friedliche Stimmung in die Live Music Hall, dass sogar ich anfange die mir eigentlich verhasste Halle zu lieben. Der abgesehen von ein paar Kabelproblemen glasklare und druckvolle Sound trägt seinen Teil dazu bei.
Dass sie selbst am meisten Spass an dem haben, was sie da tun, sieht man den vier Bandmitgliedern deutlich an. Das ist kein durchchoreografiertes Konzert von vier Musikerkollegen. Das hier ist (wieder) ein verschworener Haufen Freunde, der Musik mit der Hand und vor allem mit dem Herzen macht und das auch noch sympathisch rüberbringt. Das zeigt sich nochmal deutlich in einem grossartigen Zugabenblock („Sie hat geschrien“, „Wenn ich wollte“, „Ohne dich“ und „Kashmir Karma“), aber vor allem im letzten Song des Abends „Regenbogenleicht“. Da stehen sie am Bühnenrand und flüstern den Text fast, während Christian Neander zur Begleitung die Akustikgitarre zupft. Man möchte in diesem Moment am liebsten zu ihnen hochklettern und sie alle Vier mal feste in die Arme nehmen.
Als wir danach aus der Halle gekehrt werden (die Party ruft!) ist die Welt ein besserer Ort geworden. Das was sich um halb Acht noch ungemütlich und kalt angefühlt hat, erscheint jetzt ein Stückchen schöner und wärmer. Wer an einem kommenden „Wintertag“ ein bißchen „Lebenselixier“ gebrauchen kann und nicht „Zu bequem“ ist, der sollte auf jeden Fall „Kashmir Karma“ hören und am besten auch sehen! In diesem Sinne: Bleibt alle Selig!
Von dem Tag an, als das Abschluss-Konzert der Tour zum Album „The North Borders“ im frühen 2016 auf Youtube entdeckt wurde, stand das Vorhaben ganz oben auf meiner Liste, eines Tages an einem solch beeindruckenden musikalischen Happening (unter anderem vier verschiedene SängerInnen, plus ein gesamtes Streichorchester!) teilzunehmen. Die Freude war dementsprechend groß, als das Kollektiv um Simon Green, aka Bonobo, schon Ende des selben Jahres ein neues Album und die damit einhergehende Tour ankündigte.
Es ist Freitag Abend, man reiht sich ein in die moderat große Menschenschlange vor der Live Music Hall in Köln und findet sich schon nach wenigen Minuten in eben jenem Saal wieder, in dem in Kürze akustischer Zauber auf 1500 Leute niederregnen soll. Eine halbe Stunde und zwei KiBas später fängt der Veranstaltungsort an, sich gemächlich zu füllen. In aller Ruhe und ohne ein einziges nötiges Ausweichmanöver gelangt man an die auserkorene Position fast unmittelbar vor der Bühne, an der sich für die nächsten zwei Stunden stehend nichts ändern wird. Ich bin bereit. Spiel‘ für mich, Bonobo.
Doch zunächst gehört die Bühne dem Opening Act: Jens Kuross. Von einem einsamen Lichtkegel beleuchtet sitzt der junge Amerikaner, eine rote Wollmütze tragend, am Keyboard und spielt seine Lieder. Sehr intim, sehr melancholisch und sehr überzeugend. Mal mit, mal ohne parallelem Beat, singt er von Glück und Schmerz, von Liebe und Angst, immer jedoch begleitet von seinem feinfühligen Spiel am Piano, das ziemlich unmissverständlich an die Klavier Balladen eines Thom Yorke erinnert. Jens Kuross‘ Liebe zur Musik findet ihren Weg hinab von der Bühne, hinein ins Herz derjenigen, die sich nicht dazu entschieden haben, noch draußen zu warten bis das „eigentliche“ Konzert seinen Anfang findet. Persönliches Highlight: Steadier.
Techniker checken noch einmal die Bühne auf Funktionalität und nun kommt der Moment, auf den alle gewartet haben. Ein Blick nach hinten offenbart: Ja, der Saal hat sich gefüllt und spätestens jetzt sollte dies auch so sein. Die Sicht offenbart einem ein wild durchgemischtes Publikum. Hier ist jung und alt vertreten, gestriegelt und lässig, Bonobo-Fans sind keiner Nische zuzuordnen.
Migration beginnt zu spielen. Das Titel- und zugleich erste Lied des neuen Albums leitet auch heute Abend die Kompilation an musikalischer Vielfalt ein und schnell wird klar warum. Der langsame Aufbau eben jenes Songs bietet sich perfekt an für die Attitüde, mit der die Gruppe so gerne ihre Bühnen betritt. Angefangen mit Simon Green – Brain, Herz und neben anderem Bassist dieses musikalischen Unternehmens – betreten die einzelnen Künstler (Keyboarder, Gitarrist, Drummer und Blasinstrumentalist) mit großzügigen Abständen die Bühne Richtung ihrer respektiven Instrumente und kosten den Anbruch des nun Unausweichlichen exzessiv aus.
Man sagt, jedem Anfang wohne ein Zauber inne und Bonobo lässt seine Konzertbesucher genau dies spüren. Hinter der sich darbietenden Akkumulation von Talenten türmen drei große, vertikal ausgerichtete Bildschirme, die das gesamte Konzert mit hypnotisierenden Bildeindrücken in Form von Videokunst untermalen. Die Darstellungen reichen von abstrakten Lichtcollagen, die an Blitz und Feuer erinnern zu Landschaften, die sich auffällig trocken und frei jeden Lebens, jedoch ebenfalls mit Formationen aus Lichtmalereien, darbieten.
Migrations Töne klingen aus, fünf Musiker stehen auf der Bühne. Das 2. Lied des Abends – Towers – lädt ein, das Team des heutigen Abends zu komplettieren. Mit ihm betritt nämlich Szjerdene die Bühne, seit „The North Borders“ regelmäßige Kollaborateurin von Bonobo. Ihre kraftvolle Stimme führt das Lied mit einer nuancierten Intensität an, die die Album Version mit Leichtigkeit in den Schatten stellt. Man ist nun vollends drin, meine Sinne ergeben sich dem Klangspektakel.
Als weitere Musikstücke folgen abwechselnd Titel verschiedener Alben. Dabei wird ein gutes Mittelmaß gefunden aus gemächlicheren, sphärisch klingenden Liedern wie Break Apart und beatbestimmten, zum Mittanzen animierenden wie Kiara und Kong. Letzteres stellt den dynamischen Höhepunkt des Abends dar. Ich schaue nach links und sehe eine Gruppe etwa 20 jähriger laut expressiver Mädchen. Ich schaue nach rechts und erkenne ein älteres Pärchen, etwa 50. Sie alle tanzen zur Musik, kaum ein Beinpaar bleibt statisch. Es ist wie eine Party.
Das nächste Lied – First Fires – stellt für mich eine Überraschung dar. Dieser Titel wird üblicherweise von Grey Reverend gesungen, der bei diesem Konzert jedoch nicht zugegen ist. Szjerdene betritt erneut die Bühne und gibt ihre Interpretation dieses in originaler Form von einer Männerstimme intonierten Stücks zum Besten.
Im Laufe des Abends wird ihre Stimme noch häufiger Titel anführen, die in ihrer ursprünglichen Form auf einen anderen Vokalisten zugegriffen hatten. Einige Stücke später singt sie Nick Murphys (ehemals Chet Faker) No Reason und in der Zugabe schließlich Cornelia Dahlgrens Pieces. Wenn es auch prinzipiell schade ist, dass Nick Murphy und Cornelia Dahlgren an diesem Abend nicht mit auf der Bühne stehen, so wissen die Varianten Szjerdenes doch sehr zu überzeugen und zu berühren. Im Falle von No Reason gefällt mir ihre Interpretation sogar einen Tick besser als die Fassung des Albums.
Nach dem Set inklusive zweier Lieder als Zugabe ist die Stimmung ausgelassen. Es war ein großartiges Konzert. Die räumlich relativ begrenzte Location und die mit sechs Personen überschaubare Anzahl an Musikern führten zu einer intimeren Atmosphäre als man sich vorgestellt hatte. Es war somit nicht das imposante Spektakel mit zehn, beziehungsweise weit über zehn Musizierenden auf einer Bühne, bei dem sogar die Streichorchester Parts live vor dem Publikum gespielt werden, auf der anderen Seite kam ich in den wahrscheinlich raren Hörgenuss von Szjerdenes No Reason und konnte eine vermutlich ebenfalls seltene Nähe zu den Künstlern genießen. Top!
Mittwoch Abend. Es regnet seit gefühlten 16 Tagen, man steht in seinem WG-Zimmer und muss eigentlich in fünf Minuten die Bahn bekommen um in Kölns schönsten Stadtteil, Ehrenfeld, zur Live Music Hall zu fahren und sich zum ersten Mal die Antilopen Gang anzusehen. Allerdings verweilt man noch längere Zeit am Fenster und wartet darauf, dass der graue Himmel aufreißt. Bahn verpasst, vergeblich gewartet. Also raus und rein in die Bahn. Angekommen in Ehrenfeld lässt man es sich nicht nehmen beim Döner König Arslan zu speisen und dann wieder durch den Regen zu Halle zu laufen.
In der Live Music Hall bietet sich ein sehr gemischtes Publikum. Vom Punk über den Bilderbuch Nerd sowie Eltern mit Kindern ist hier wirklich jede erdenkliche Menschengruppierung vertreten. Das Bühnenbild ist unauffällig gestaltet: Ein Riesen Antilopen Banner im Hintergrund, ein Turntable in der Mitte, links und rechts Sichtschutz mit einem „A“.
Dann betritt Juse Ju als Support die Bühne. Die ersten drei Songs sieht man sich fragend an und weiß nicht so recht was man davon halten soll. Schlechter Freestyle, durchschnittliche bis nervige Beats und Texte bei denen man sich fragt ob der Gute Juse 15 ist und von seinem ersten MDMA Rausch träumt. Dann bessert sich das Set langsam und Juse Ju weiß nun auch mit einigen Beats und Texten zu überzeugen, ein eingefleischter Fan nebenan rappt und gestikuliert gar als wäre er auf der Bühne. Das Highlight ist mit Sicherheit ein Song der gegen Wichtigtuer ist und es mit einer Zeile auf den Punkt bringt. „Übertreib nicht deine Rolle“ versetzt die Live Music Hall beinahe in anarchistische Zustände.
Kommen wir nun aber zum Headliner, der Antilopen Gang, die nach dem Song „We Are The Champions“ von Queen hüpfend die Bühne betreten und die Menge mit „Das trojanische Pferd“ und „Die Kyngz Sind Back“ erst mal ordentlich zur Bewegung animieren. 10 Meter vor der Bühne herrschen tropische Temperaturen und man fragt sich langsam doch warum die Winterjacke immer noch am Körper ist. Die Bühnenshow ist schlicht gehalten, die Antilopen alle in schwarz rennen die Bühne auf und ab, das Bild ist insgesamt sehr schwarz. Der Fokus liegt auf der Band. Bis, ja, bis die Sichtschutze gedreht werden und das Banner fällt. Plötzlich erstrahlt die Bühne im Look des neuen Albumcovers.
Ebenso ist nun eine Band auf der Bühne, die die Antilopen bei ihren punklastigen Rapsongs unterstützt. Besonderer Moment: zu „Der Goldene Presslufthammer“ betritt als Gast Ingo von den Donots die Bühne. Der Song überzeugt dank ihm auch diejenigen, die den Song bisher nicht so prächtig fanden. Juse Ju findet auch nochmal Zeit und gibt sich die Ehre als Gast zu „Liebe Grüße“ auch nochmal die Ehre. Bei einer kurzen Abkühlung an der frischen Luft laufen zwei Rettungsdienstleister an einem vorbei die mit den Worten „Liegen lassen, tritt sich fest“ absolutes Vertrauen erwecken.
Schnell wieder rein. Sonnenbrillen wären bei den momentan vorhandenen Lichteffekten ein angemessenes Accessoire gewesen. Nach einer Ansprache der Antilopen an das Publikum, bei der Songs wie Celine Dions „My Heart Will Go On“ und „I Will Always Love You“ schief singend zelebriert werden, folgt mit „Pizza“ ein absoluter Favorit der Menge. Mit „Fick Die Uni“ beenden die Antilopen ein gelungenes Konzert und überzeugen auf ganzer Linie.
Schweißgebadet verlässt man die Live Music Hall und mit Hinblick auf die Festival Saison hat man mit Sicherheit heute eine weitere Band gefunden für die man sich mal vom Zelt zur Bühne quält.