Meine Erwartungen an die neue Emma6 EP waren hoch. Emma6 durfte ich auf einem Konzert als Vorgruppe von Gloria im Kölner Gloria-Theater kennenlernen und habe nach dem Konzert direkt ihre Platte „Wir waren nie hier“ gekauft. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen solchen musikalischen Spontankauf getätigt. Das will schon was heißen!
Drei Jahre nach diesem letzten Studioalbum erscheint am 24.01.2020 ihre neue „Möglichkeiten“ EP. Um diese fertig zu stellen, hat sich das Trio in eine kleine Holzhütte im Schwarzwald eingeschlossen, ausgestattet mit ein paar Mikrophonen, Instrumenten, kreativen Ideen und ihrem langjährigen Wegbegleiter Florian Sczesny, der die Band seit 2016 bei Live-Performances an der Gitarre unterstützt. Nach dem durchschlagenden Erfolg der letzten drei Alben und einer ausverkauften Headliner-Tour zu „Wir waren nie hier“ versucht Emma6 sich nun bewusst zu limitieren. Diese Limitierung passt irgendwie auch zur Geschichte der Band: Nach zwei Alben bei einem großen Label und unter anderem einer Tour durch Rumänien 2015 haben sie sich vor ihrem dritten Album bereits wieder mehr auf sich selbst besinnen wollen und ihre Musik wieder mehr in Eigenregie verwirklicht. Der Fokus auf das Wesentliche ist ihnen auch bei der neuen EP gelungen, sie klingen weniger voluminös, man hört mehr Akustikgitarren und kann sich dadurch noch besser auf die wohldurchdachten, poetischen, wunderbaren und ehrlich anmutenden Texte fokussieren. Dabei bauen sie soundtechnisch auf ihr letztes Album auf, sodass sich zusätzlich eine Kontinuität erkennen lässt.
Die EP startet mit dem gleichnamigen Song „Möglichkeiten“. Darin beschreiben Emma6 ein Phänomen, was vielen Menschen im Zeitalter der Individualisierung und des gesellschaftlichen Drucks, immer mehr wollen zu müssen, bekannt sein dürfte. Durch die schier unlimitierten Möglichkeiten scheint es immer noch etwas Besseres zu geben, was vielleicht nur hinter der nächsten Ecke wartet – und das überfordert. Emma6 verarbeiten in diesem Song vielleicht etwas, was uns die ganze Platte mit ihren „nur“ vier Songs auch sagen soll: Nicht „Das geht besser, schneller, höher, weiter!“, sondern Limitierung und sich damit zufrieden geben, was gerade ist. Davon können sich glaube ich viele, inklusive mir, eine dicke Scheibe abschneiden. Meine Lieblingsline dazu: „Jeder sagt, ich sei meines Glückes Schmied, doch jeder, der das sagt, ist ein kleines Stück naiv, denn ich seh Funken, die fliegen, wenn ich immer nur schmiede.“ Sie fasst die Stimmung des Songs perfekt zusammen und zeigt, wie subtil und doch eindeutig Emma6 die im Song thematisierte Problematik ansprechen: Wer zu viele Möglichkeiten bedenken will, reibt sich selbst auf. (Vielen Dank an den Kapitalismus an dieser Stelle!) An den tausenden Möglichkeiten wird sich nicht so schnell etwas ändern, aber an unserer Einstellung dazu vielleicht und vielleicht ja mithilfe dieses Songs.
In „Nirgendwo“ geht es um die Frage, wohin man gehen will und woher man kommt. Die Band kommt ursprünglich aus Heinsberg, was mit seinen knapp 42.000 Einwohner*innen nicht gerade eine Weltstadt ist, vermute ich. Dass sie von Heinsberg singen, kann man anhand der Line „Hier ist nicht mal ein Bahnhof, hier gibt‘s nur Schranken, zu viel Platz zwischen meinen Gedanken“ schlussfolgern, denn erst 2013 wurde Heinsberg nach 33 Jahren wieder an den Schienenpersonennahverkehr angeschlossen. In dem Song verarbeiten die Musiker gleichzeitig auch das Thema Freundschaft, Vergessen und Vermissen, indem sie ein Lyrisches Du (Der Deutschunterricht ist schon lange her, ich weiß nicht, ob das Lyrische Du das Pendant zum Lyrischen Ich ist, aber wir tun mal so.) ansprechen, das den Ort verlassen hat. Dabei geht es um den Konflikt, dass es im Nirgendwo, wie der Heimatort genannt wird, keine Zukunft gibt und zwar noch so ist wie früher, der Umgang damit aber schwerer ist und dass es trotzdem nicht leicht ist, loszulassen. Irgendwann, singen sie, werden sie vielleicht auch gehen. „Doch irgendwer Schlaues hat einmal gesagt ‚Irgendwann ist auch nur ein anderes Wort für nie!‘.“ Ist das etwa ein Rekurs auf Kettcars „Benzin und Kartoffelchips“?
„Meine Wege deinetwegen“ ist vielleicht der persönlichste Song des Albums. Peter Trevisan, Henrik Trevisan, Dominik Republik und Florian Sczesny beschreiben den Song so, dass sie etwas zurückgeben wollten an die Menschen, die einen zum Guten verändern. Sinnbildlich dafür nochmal eine Zeile aus dem Songtext, ich kann nicht umhin, diese poetischen Sätze niederzuschreiben: „Nur weil es dich gegeben hat und auch noch immer gibt, gehen wir unsere Wege unseretwegen, so als wären sie das Ziel.“ Das bedeutet nicht, so kommt es im Song gut durch, dass andere Personen die Arbeit der Persönlichkeitsentwicklung für uns übernehmen, denn das machen wir selbst, jedoch bekommen wir immer wieder Starthilfe von anderen wunderbaren Menschen. Musikalisch ist der Song ruhig wie stilles Wasser und gleichzeitig so tief wie der Ozean. Und wo wir gerade bei Wassermetaphern sind: Es hat mir die Tränen sturzbachartig aus den Augen fließen lassen, so schön ist dieses Lied. Und mir sind direkt Menschen eingefallen, die den Song mit einer dicken Umarmung beim nächsten Treffen vorgespielt bekommen.
Der Song „Überwintern“ bildet den Abschluss der EP, die nach knapp 15 Minuten leider auch schon wieder vorbei ist. „Überwintern“ soll uns Mut machen und uns zeigen, dass auch die kältesten und härtesten Zeiten des Lebens vorüber gehen. Denn die Wege, die zum Guten führen, sind oft die, auf denen uns die meisten Steine im Weg liegen – wie wahr. Das Mut-Machen zeigt sich nicht nur im Text mit Sätzen wie „Das kälteste Davor hat ein Dahinter, du musst nur überwintern!“, sondern auch musikalisch mit einer fröhlichen Gitarre und einem fast schon treibenden Rhythmus. Ich kann ihn mir schon nach den ersten fünf Sekunden live vorstellen: Ich würde meine Augen schließen, passend zu der Gitarre meinen Kopf hin und her wiegen und mit sehr großer Sicherheit lächeln und weil ich so viele Emotionen in meinem kleinen Körper habe, das sicherlich auch wieder mit Tränen in den Augen.
Doch mit den vier Songs haben sich die Musiker dann doch nicht begnügt. Zu jedem Song haben sie eine Video-Einheit aufgenommen, welche sich genauso wie die EP zu einem Gesamtbild zusammenfinden. Der Protagonist, gespielt von Zhenja Isaak, ist bei „Möglichkeiten“ verloren in der Stadt, setzt sich am Ende des Videos in sein Auto und fährt hinaus auf‘s Land in‘s „Nirgendwo“. Am Ende des zweiten Videos schaut er in ein Fenster hinein, bei „Meine Wege deinetwegen“ aus einem hinaus. Er befindet sich in einem weißen Zimmer und ich kann nicht genau benennen wieso, aber das Video sieht aus wie ein Erinnerungsprozess. Am Ende geht er los. Auf das letzte Video warten wir genauso gespannt wie auf die Veröffentlichung der neuen EP. Wer aber gar nicht mehr auf den Release der Songs warten kann, kann sich hier die ersten drei Videos schon einmal anschauen und „Möglichkeiten“-Klängen lauschen!