Hamburg. St. Pauli. Die Reeperbahn ist gefüllt wie eh und je. Menschenmassen drücken sich aneinander vorbei, Punks und Obdachlose, Drags und andere bunte Hunde, Männer wie Frauen werben für ihre Anliegen. Dazwischen sieht man lange Schlangen und Menschen mit Festival-Bändchen, teils mit Presse- oder Team-Ausweis. Gerade am oberen Ende, von der U-Bahn-Haltestelle St. Pauli kommend, klingt über den üblichen Geräuschpegel etwas, das man in den letzten Monaten eher selten hörte: Livemusik. Auf dem Spielbudenplatz spielen an vier Tagen jeweils drei Bands.
Das Reeperbahn-Festival fand vom 16. bis 19. September 2020 statt – trotz Corona. Als großes Experiment, wie ein Festival in Pandemiezeiten ablaufen kann. Kein Wunder also, dass die Veranstaltungsbranche nicht wie sonst vor allem nach Hamburg blickt, wenn das Festival ansteht. Nicht, um gesehen zu werden, alte und neue Bekannte zu treffen, neue Musik zu hören und sich gegenseitig zu verständigen. Sondern vor allen Dingen, um herauszufinden: Gibt es Hoffnung für die stark gebeutelte Branche, die seit Monaten keine Einnahmen verzeichnen kann, mit am längsten die Türen geschlossen halten musste und für die es noch immer keine Perspektive gibt, die auch finanziell ein „Weitermachen“ ermöglicht.
Natürlich sind es nicht nur die neun Konzerte auf der Spielbuden-Bühne. In 19 weiteren Clubs und Veranstaltungsorten finden an den vier Festivaltagen über 100 Konzerte statt. Viele werden live im Internet gestreamt – und 150.000 Menschen schalten dafür ein. Vor Ort sind es deutlich weniger: Gerade einmal 8000 Besucher:innen kommen physisch zum Festival. Verglichen mit den 50.000 im Vorjahr ist das quasi nichts. Daher wirkt auch vieles eher leer. Das Festival Village auf dem Heiligengeistfeld (mit zwei Bühnen: der kleinen Festival Village Fritz Bühne und der großen Festival Village Stage) ist nur wenig besucht. 30000 Quadratmeter stehen hier zur Verfügung. Normal passen hier locker bis zu 7000 Menschen hin. Zugelassen sind allerdings gerade einmal 1300.
Überall werden Kontaktdaten hinterlassen. Betritt man eine Venue, muss vorab ein QR-Code eingescannt werden. Erst nach Bestätigung und Kontrolle darf man eintreten. Das gleiche Spiel erneut beim Auschecken. Während es Mittwoch und Donnerstag noch ruhig war und die meisten Menschen ihre Wunschkonzerte sehen konnten, wurde es zum Wochenende deutlich voller. Die Schlangen wurden länger – und die enttäuschten Gesichter derjenigen, die nicht mehr hineingekommen sind, waren häufiger zu sehen. Doch trotz allem: Großer Protest oder Beleidigungen blieben aus. Die Sicherheitsleute berichten, dass sie gerade einen sehr entspannten Job hätten. Man könne sich mehr Zeit beim Einlass lassen, aber vor allem seien die Menschen verständiger und weniger aggressiv, wenn sie nicht hineinkämen. Vor allem aber: Man habe endlich wieder etwas zu tun. Das gilt für alle hier: Die Ton- und Lichttechniker, die Stagehands und Menschen hinter der Theke, genauso wie viele mehr, die dabei mithelfen, dass die Konzerte überhaupt stattfinden können.
Wie das alles dann finanziert wird? Vor allem durch Subventionierung von Bund und Ländern. Mit insgesamt 1,3 Millionen Euro wurde das Reeperbahn Festival in diesem Jahr bezuschusst.
In den einzelnen Clubs, Kirchen und Open-Air-Bereichen stehen zumeist Stühle, manchmal sind es auch nur Markierungen auf dem Boden. Maximal zwei Menschen dürfen zusammensitzen oder stehen. Ein kurzer Besuch bei Bekannten zwei Reihen weiter wird von der Security sofort unterbunden. Außer am eigenen Platz herrscht zudem überall Maskenpflicht. Statt des sonst nicht unüblichen Konzert-Hoppings, also überall mal kurz reinzuschnuppern, muss sich diesmal im Voraus entschieden werden, wohin man möchte – nachdem das Konzert begonnen hat, darf niemand mehr hinein. Raus kommt man jederzeit, aber der Platz wird nicht nachbesetzt.
Während also im Rahmen des Festivals penibel auf die Einhaltung aller Hygienevorschriften geachtet wird, ist genau das außerhalb der mit QR-Code abgesperrten Bereiche auf dem Rest der Reeperbahn fast allen ziemlich egal.
Ob das Konzept gelungen ist? Es ist möglich, Live-Konzerte zu spielen. Das wird derzeit im ganzen Land gezeigt. Die Autokonzerte sind weitestgehend vorbei und der Sommer mit seinen Outdoor-Möglichkeiten und einigen Lockerungen wurde von vielen genutzt. Wie es im Herbst weitergeht, ist absolut ungewiss. Was jedoch sicher ist: Ohne Subventionierung ist es nicht umsetzbar. Bei knapp 50 statt 300 Besuchern kommt kein (Club-)Veranstalter jemals zu schwarzen Zahlen – und horrende Ticketpreise kann sich derzeit nur ein Bruchteil der Gesellschaft leisten. Dennoch: Mit dem passenden Hygienekonzept und verantwortungsbewussten Menschen sollte eine Aufstockung der Besucherzahlen in Erwägung gezogen werden. Der Fussball macht vor, wie eine Steigerung der Besucherzahlen möglich sein kann. Dass die Besucher:innen sich an Regeln halten können, hat das Reeperbahn Festival eindeutig gezeigt.