Deutschland neigt ja seit Jahren dazu, seinen ESC-Teilnehmer bereits im Vorfeld in Grund und Boden zu kritisieren. Zu jung, zu abgehoben, zu bekannt, zu politisch, zu spaßig, zu abgekupfert – egal. Neider gibt es an allen Ecken. Dabei sind im Vorfeld des Contest schon viele neue Talente entdeckt worden. Und Levina hat definitiv Zukunftspotential. Die in Bonn geborene und in Chemnitz aufgewachsene Sängerin kam quasi wie Phönix aus der Asche des kaputt geredeten Vorentscheids und nahm mit riesigem Charme die Herzen der Zuschauer ein. Wenn man jetzt auf Facebook ihre Sympathie-Reise durch die europäischen Teilnehmerstaaten verfolgt, kann man nur Staunen, wie frisch und fröhlich sie sich dem Publikum präsentiert und mit wieviel Herzblut sie Deutschland vertritt.
Schön, dass noch vor dem ESC ihr Debütalbum erscheint – mit zwölf starken, energischen Songs, die zeigen, dass Levina das Zeug zum nachhaltigen Star hat und nicht nur wie ein Strohfeuer aufleuchtet. immerhin ist die 25jährige Isabella Lueen (so heißt sie bürgerlich) Vollprofi, gewann bereits in jungen Jahren bei „Jugend musiziert“, hat in London Gesang sowie Komposition studiert und wurde dort am King’s College, wo sie Bandleaderin von Miss Terry Blue war, als „Best Vocal Performer“ ausgezeichnet. Mit Recht!
Levina wirkt sehr nordisch, bisweilen gar britisch, überzeugt aber zudem mit einer rauchigen Stimme. Ihre Vocals bieten viele Facetten und sie zeigt unbestreitbare Songwriter-Qualitäten.
Fangen wir trotzdem mal mit den beiden Auswahlsongs für den ESC an. Mir persönlich hätte das von Marit Larsen mit verfasste „Wildfire“ zwar besser gefallen, doch die Eurodance-Anleihen von „Perfect Life“ machen bei diesem Wettbewerb sicher Sinn und vielleicht war dies tatsächlich die bessere Wahl – wenn der Stil auch an David Guetta erinnert. Klaro. Aber das Team aus den US-amerikanischen Songwritern Lindsey Ray, Dave Bassette und Lindy Robbins hat Guetta nicht kopiert, sondern sich der gleichen stilistischen Elemente bedient. Macht Sinn, wenn man in Europa derzeit erfolgreich sein will.
Interessanter finde ich aber die übrigen zehn Stücke, an denen Levina in vielen Fällen mit geschrieben, komponiert und getextet hat. „Nothing At All“ hat sie komplett allein geschrieben. Der Song, der auf den zweiten Blick auch eine politische Message hat, war schon vor der Produktion des Albums „Unexpected“ fertig. „In dem Lied geht es um Fremdenfeindlichkeit und darum, dass man nachdenken sollte, bevor man sein eigenes Leid auf andere projiziert. Dass man manchmal vielleicht lieber nichts sagen sollte, bevor man etwas Dummes sagt.“ Ähnlich entschlossen und besonders klingen auch Tracks wie „Echo“, „Ordinary People“ oder „Nothing More Beautiful“. Das sind alles Songs, die eine angemessene Visitenkarte für ein brillantes Album abgeben, das von einer jungen Musikerin kommt, die weiß was sie tut, ihre Meinung vertritt, ohne sie als Selbstzweck vor sich herzutragen, und für die Empowerment kein bloßer Hashtag ist.
Am Anfang steht „The Current“ mit einprägsamem Refrain. Und auch „Love Me All The Time“ geht sofort ins Ohr. „Courage To Say Goodbye“ ist eine wundervolle und traurige Ballade, während „One In A Million“ als düsterer Bond-Song durchgehen könnte.
Das ganze Album zeigt, dass Levina gewiss keine Verlegenheitslösung für den diesjährigen ESC darstellt. Stattdessen sehen und hören wir hier eine sympathische und reife Künstlerin, die sich unaufgeregt durch die Medienlandschaft bewegt und selbstbewusst in die großen Fußstapfen dieses Fernsehereignisses tritt. Bleibt zu hoffen, dass Qualität sich durchsetzt. Sie wird den Wettbewerb vermutlich nicht gewinnen – doch selbst wenn sie auf den hinteren Plätzen landet (die Deutschland seit der Vergrößerung des Teilnehmerfeldes weitestgehend gepachtet hat), wäre es schön, wenn sich ihr Talent durchsetzt. Ein „unerwartet“ gutes Album!