„Negative Is The New Positive“ – so heißt der fast 9minütige Abschluss des neuen Albums von Long Distance Calling. Okay – sie selbst bezeichnen es eher als EP. Und mit 33 Minuten Albumlänge gehört es nicht zu den umfangreichsten Veröffentlichungen der instrumentalen Postrocker. Doch „Ghost“ wirkt schon als eigenständiges Album und hat mal wieder viel Innovatives zu bieten.
Als Long Distance Calling Anfang 2020 ins Studio gingen, um ihr aktuelles Album „How Do We Want To Live?“ aufzunehmen, schlug die Pandemie punktgenau ein wie eine Bombe. Die Band entschied sich dennoch das Album zu veröffentlichen und wurde trotz der Umstände mit sagenhaften Reaktionen belohnt. Nicht nur Kritiker waren sich einig, dass Long Distance Calling damit einen großen Wurf gelandet hatten, auch die Fans zeigten sich begeistert und bugsierten „How Do We Want To Live?“ in die Top 10 der Charts, was für ein Instrumentalalbum recht außergewöhnlich ist.
Unser Rezensent Alexander Moell schrieb dazu: „Waren die Songs der Vorgängeralben oftmals mäandrierende und sich hochschaukelnde Meisterwerke auf Longtrackniveau, so sind die zehn Titel dieses Konzeptalbums eher songdienlich über 52 Minuten auf den Punkt gebracht. […] Dieses Album ist zum einen ein Höhepunkt im Schaffen der Instrumental-Rocker und zum anderen ein Aspirant auf das Album des Jahres.“ (Lest HIER die komplette Review.)
Das Konzept traf nicht nur vom Albumtitel her den Zeitgeist. LDC schafften es irgendwie, auf Mini-Tour mit geringer Sitzplatzanzahl und strengen Hygieneauflagen zu gehen. Es war etwas gewöhnungsbedürftig, in der Gebläsehalle Neunkirchen im Lounge-Sessel zu fläzen – doch so konnte man die fantastische Musik mal auf andere Weise genießen und ein 90minütiges Konzert voller Atmosphäre und instrumentaler Spielfreude erleben. Sehr genial nach all dem Streaming- und Autokino-Getue.
Um die trotzdem weitestgehend konzertfreie Zeit bestmöglich zu nutzen, entschieden sich die Münsteraner ihrer Kreativität keine Zwangspause zu verordnen, sondern das Beste aus der aktuellen Situation zu machen: Musik. Ende November entstand in einem abgelegenen Landhaus die Jam EP „Ghost“, die am 26.02.2021 über das bandeigene Label Avoid The Light Records erschienen und physisch nur exklusiv im Bandshop (HIER) erhältlich ist. Dafür startete die Band eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne, um die Produktion zu finanzieren. Das Konzept der EP folgt der Idee der 2014 erschienen „Nighthawk“ EP: keine Vorbereitung, kein doppelter Boden. Nur eine Band, die zusammen aus dem Nichts Musik entstehen lässt, indem sich die Musiker in einer dreitägigen Jamsession Ideen zuwerfen, um damit zu spielen und diese direkt für die Ewigkeit festzuhalten.
Entstanden ist eine spannende Reise durch verschiedene Stile und Atmosphären, auf der man neben Vertrautem auch wieder jede Menge Neuland entdecken kann. Musikalisch ist „Ghost“ kein Nachfolger oder eine Fortsetzung von „How Do We Want To Live?“, sondern zeigt eine Band in voller Blüte, der ihre Experimentierfreude nie abhandengekommen ist. „Ghost“ wurde live eingespielt, keine Overdubs, kein Editing, the real deal.
Man arbeitet mit kantigen Soundmalereien („Dullahan“), die für sich selbst stehen und die perfekte Einleitung bieten. „Old Love“ funktioniert als melancholische Hymne mit melodischen Gitarren, ebenso wie das sphärisch-verträumte „Black Shuck“ nebst genialem erzählendem Video. Der hektische elektronische Übersong „Fever“ wird eingerahmt von zwei Longtracks. „Seance“ schafft eine eher träge Grundstimmung, während „Negative Is The New Positive“ als vermutlicher Soundtrack zur Corona-Pandemie mit vielfältigen Emotionen – von düster bis verhalten optimistisch – überzeugt. Inklusive dystopischer Spoken-Word-Passagen.
„Ghost“ zeigt mal wieder, was diese Band aus Münster locker aus dem Ärmel schütteln kann: Ein starkes Stück Musik!