Es scheint gerade groß in Mode zu sein deutschsprachige Musik in ein akustisches Gewand zu kleiden. Die Toten Hosen haben das zuletzt mit „Alles ohne Strom“ vorgemacht (hier unser Review), jetzt zieht Marius Müller-Westernhagen nach. Sogar Pur dürfen nächstes Jahr ein „MTV Unplugged“-Konzert aufnehmen, womit der vorläufige Tiefpunkt der einst legendären Akustik-Reihe erreicht sein dürfte. Bleiben wir also lieber im Hier und Jetzt und blicken nach Woodstock/ New York, wo ein hagerer Mann mit Cowboystiefeln und einem breitkrempigen Hut gerade auf eine alte Holzkirche zugeht. Die Kamera wechselt von Farbe zu Schwarz-Weiß, als er das Aufnahmestudio im Inneren betritt und die dort versammelten Musiker begrüsst. Der Mann ist Marius Müller-Westernhagen und er hat zehn Songs mitgebracht, die in den USA niemand kennt und in Deutschland fast jeder. Sie stammen von einem Album, das über vierzig Jahre alt ist und „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ heißt. Das Experiment beginnt. Kann man die Songs von damals neu interpretieren? Als Musik von heute? Wenn man sie bis auf die Knochen reduziert? Dass ein solches Experiment gelingen kann hat Westernhagen bereits 2016 zu seinem 50-jährigen Bühnenjubiläum bewiesen, als er in Berlin einen einmaligen Unplugged-Auftritt absolvierte.
Die musikalischen Fußstapfen von „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ sind groß, schließlich gelang Marius Müller-Westernhagen damit 1978 der Durchbruch. Und so entstanden die neuen Arrangements auch erst nach endlosen Diskussionen. Aus dem vorhandenen Material – Melodien, Akkorde, Texte – erschufen Westernhagen und seine amerikanischen Begleiter neue Versionen voller Intensität, Atmosphäre und Seele. Zunächst ist es noch etwas ungewohnt „Zieh‘ dir bloß die Schuhe aus“ als gemütlichen Countrysong zu hören oder „Oh, Margarethe“ als dunkel dahinrollenden Blues. Insgesamt aber besticht „Das Pfefferminz-Experiment (Woodstock Recordings Vol. 1)“ durch eine derart souveräne Lässigkeit, die den originalen Stücken eine ungeheure Spannung und Tiefe verleiht. In „Willi Wucher“ blitzt sogar der ursprüngliche Dreck unter Marius‘ Fingernägeln durch, mit denen er sich in den Achtziger Jahren als Spargeltarzan durch die „Theo“-Filme grub. Das waren herrliche Zeiten!
In „Mit 18“ spricht Westernhagen die ersten Zeilen zur gezupften Gitarre, um sich dann durch den Rest des Klassikers zu heulen, nur unterstützt von einem Banjo, einer säuselnden Violine, einem sparsamen Schlagzeug und einem Piano. Was für ein geiler Scheiß! Aus „Alles in den Wind“ wird ein Trauermarsch mit Akkordeon und einem Marius, der wohl noch nie in seinem Leben so viel Schmerz in der Stimme hatte wie hier. „Dicke“ passt perfekt zum Soundtrack für den nächsten Mafia-Film von Francis Ford Coppola. Nicht zu vergessen das tiefenmelancholische „Giselher“ oder „Grüß mir die Genossen“ in der Verkleidung eines Schrammelblues. Und natürlich der Titelsong, der hier in ein fröhliches Countrygewand gesteckt wird und so entspannt daher kommt wie das nur ein Song kann, der sich seines Kultstatus bewusst ist. Zum krönenden Abschluss singt Marius Müller-Westernhagen dann noch von ganz tief unten, quasi vom Boden der Flasche „Johnny Walker“.
Dazu gibt es noch eine gleichnamige Dokumentation, in der Shahin Shokoui, Agnesz Pakozdi und Chris Hegedus-Pennebaker Marius Müller-Westernhagen bei der Arbeit beobachtet und die neuen, alten Songs filmisch in Szene gesetzt haben. Das Video zu „Mit 18“ findet ihr weiter unten. Außerdem befragten sie ihn selbst über seine Annäherung an „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ sowie einige seiner Zeitgenossen wie Joschka Fischer, Iris Berben, Hape Kerkeling oder Jürgen Klinsmann dazu, wie sie das Album damals erlebt haben.
Zugegeben, spätestens nach „Radio Maria“ von 1998 ist mir der frühere Kumpeltyp Westernhagen fremd geworden. Sein versnobtes Gehabe und sein „Armani-Rock“ gingen mir zunehmend gegen den Strich. „Das Pfefferminz-Experiment“ ist deshalb wie das Wiedersehen mit einem alten Freund. Wir sind zwar beide etwas in die Jahre gekommen, aber es macht Spass gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen, auch wenn die Erzählungen hier und da mal eine kleine Länge aufweisen.