So kurz nach dem letzten Album „The Zealot Gene“ (Januar 2022) haben wohl selbst hartgesottene Tull-Fans nicht mit einem neuen Output der Rock-Dinos gerechnet. Der für eine englische Band ungewöhnliche Albumtitel verweist zum einen auf die ursprüngliche Absicht, ein reines Instrumentalalbum mit der Jethro-Tull-typischen Rockflöte im Mittelpunkt herauszubringen.
Zum andern ist „rök“ die Endsilbe des altnordischen „Ragnarök“, was übersetzt „Schicksal der Götter“ bedeutet. Und das ist auch das Thema des 23. Studioalbums der Mannen um Ian Anderson. Es dreht sich um die Charaktereigenschaften und Bedeutungen der wichtigsten Götter des nordischen Heidentums. Auf das Thema ist Anderson gestoßen, als er sich mit seinen Ahnen befasste.
Der Opener „Voluspo“ startet mit einem ausgedehnten Stöhnen, das Darth Vader zu Ehren gereichen würde. Dann beginnt ein Monolog in einer fremden Sprache, die ich zunächst für norwegisch hielt, da sich einige Titel auf norwegische Sagen beziehen, aber beim Durchlesen der Lyrics vermute ich, dass es sich aufgrund der speziellen Buchstaben um isländisch handelt. Schon bald steigt Ian Anderson mit seiner prägnanten Stimme ein und die Rockflöte zaubert den typischen Jethro-Tull-Sound.
Die Melodien erinnern zuweilen an nordische Folklore oder Mittelalter, teils sind sie auch shanty-artig. An einer Stelle glaube ich sogar einen Wolf heulen zu hören. Die Songs sind eingängig und machen Lust, die Repeat-Taste zu drücken. Nach über 50 Jahren im Rockgeschäft haben Jethro Tull nichts von ihrer Relevanz eingebüßt. Ein Longtrack fehlt auf dem Album – die 13 Songs laufen knapp 50 Minuten.
Anspieltipps sind die drei Singles „Ginnungagap“, „Hammer on Hammer“ und „The Navigator“. Daneben „Wolf Unchained“ und der Opener „Voluspo“.
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube. Mehr erfahren
1. Voluspo
2. Ginnungagap
3. Allfather
4. The Feathered Consort
5. Hammer On Hammer
6. Wolf Unchained
7. The Perfect One
8. Trickster (And The Mistletoe)
9. Cornucopia
10. The Navigators
11. Guardian’s Watch
12. Ithavoll
Formate:
Ltd Deluxe Dark Red 2LP+2CD+Blu-ray Artbook incl. 2 x art-prints
Ltd Deluxe 2CD+Blu-ray Artbook
Special Edition CD Digipak
Gatefold 180g LP+LP-booklet
Digital Album
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube. Mehr erfahren
Viele werden wie ich überrascht sein, dass Ian Andersson doch noch ein Jethro Tull-Album herausbringt. Unverkennbar entpuppt sich der Sound dem blinden Hörer nach wenigen Sekunden als neues Tull-Werk. Vorab war mir der Titelsong „The Zealot Gene“ vom eclipsed-Sampler bekannt. Er ist für mich auch der stärkste Song auf dem Album. Was nicht heißt, dass die restlichen Songs nur dahinplätschern. Wenn ich das Album mit den Vorgängern vergleiche, ähnelt es für meinen Geschmack noch am ehesten „Stormwatch“, Ende der 70er. Einen total neuen Stil entdecke ich nicht, das erwartet aber auch kein Fan ernsthaft.
Wie eine „Stormwatch“ gestaltete sich auch die Entstehung des Albums. Als die Band zu Anfang der Pandemie noch vor dem ersten Konzert ihre Tournee abbrechen musste, zog sich Andersson in sein Haus zurück und wartete dort zunächst auf „das Ende des Sturms“ ab. Das Warten zog sich in die Länge und so entstanden Songs, die die Konfrontation mit dem Unerwarteten atmen. Die Wut und Verzweiflung, Traurigkeit, nicht auftreten zu dürfen, spiegelt sich in den Kompositionen wider. So überraschend das Album für die Fans kommen mag, war es das wohl längste, an der die Band arbeitete – und schwierigste, konnte man sich doch seltener zum Proben treffen, als über digitale Kanäle den Output auszutauschen.
Andersson selbst sagte in einem Interview, dieses Album sei über eine längere Zeit wie ein Whisky gereift. Eine gewisse Religiosität ist in den Songtexten erkennbar, aber die Botschaft ist eher, dass sich in religiösen Geschichten auch immer die Hässlichkeit wiederfindet. Die Texte sind weder auf Eiferer zugemünzt noch auf Hasser. Dennoch besteht die Gefahr, dass polarisierende Ansichten die gemäßigten übertönen.
Die 12 Titel haben eine Länge von 47 Minuten. Neben dem Titelsong gefielen mir noch der Einstieg „Mrs Tibbets“ und die beiden Songs am Albumende, „In Brief Visitation“ und „The Fisherman of Ephesus“. Ob das Mitwirken von Michael Barre an dem Album vermisst wird oder auffällt, mögen die Fans, die alle Alben, an denen er mitgewirkt hat, kennen, besser zu beurteilen wissen. Für mich klingt es jedenfalls nicht weniger nach Tull als andere Alben.
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube. Mehr erfahren
Was für ein wunderschön aufgemachtes Buch! Wie ein Märchenbuch kommt es daher – und erzählt doch eine wahre Geschichte. Die Geschichte vom Derwisch an der Querflöte, Ian Anderson, und seiner Band Jethro Tull.
Im Jahr 1967 wurde die britische Band gegründet und liefert seitdem anspruchsvolle, aufpeitschende und mitreißende Musik. Dabei spielte sie von Beginn an mühelos mit verschiedenen Stilen und bereicherte die Genres von Blues bis Hardrock. Dass Anderson dabei wahlweise wie ein Minnesänger, Hofnarr oder Folkrocker wirkte, gab der Band ihren besonderen Kick. Und auch heute noch ist er als Solokünstler eine feste Größe im Rockzirkus.
Das Buch aber widmet sich vor allem der Band, wenn ihr Mastermind an der Querflöte auch jederzeit im Zentrum steht. In der auf hochwertigem Papier gedruckten Edelausgabe werden alle Stationen einer so verrückten wie kreativen und ungewöhnlich langen Karriere zum Leben erweckt. Rare Fotos und Abbildungen von Memorabilia illustrieren und ergänzen den auf Interviews mit allen Musikern der Band basierenden Text. Noch nie wurden Jethro Tull so prägnant und intensiv dargestellt.
Wunderschön beispielsweise die Eröffnung durch das namensgebende Gedicht „Die Ballade von Jethro Tull“, das Ian im Jahr 2019 verfasst hat. Dann werden die Bandmitglieder, die Alben und die Bandgeschichte bis ins Jahr 2018 vorgestellt – illustriert mit unzähligen Fotos. Als Texte gibt es vor allem Auszüge aus Interviews mit den Bandmitgliedern, die Co-Autor Mark Blake geführt hat.
Die Mischung aus großformatigen Fotos und Bildern, garniert mit erklärenden Texten, ist absolut faszinierend. Außerdem natürlich die Sichtweise der einzelnen Bandmitglieder auf die eigene Historie. Das ergibt ein rundes Gesamtbild. Dieses Buch ist ein Muss für jeden Fan und ein sinnlicher Genuss, der nur noch durch das Hören der Musik und Livekonzerte getoppt werden kann.
Erst kürzlich haben wir über die Soulmates berichtet, als sie einen umfangreichen DVD Release vorlegten. Jetzt geht es weiter – und das gleich mit zwei Studioalben voller neuer Musik. Bekannt wurde der ungarische Musiker Leslie Mandoki im Jahr 1979 durch seine Mitwirkung bei der Gruppe Dschingis Khan. Später besann er sich auf seine Jazzwurzeln und begründete viele Jahre später sein Soulmates-Projekt, an dem viele nationale und internationale Künstler mitwirken.
Die Soulmates sind eine musikalische Wertegemeinschaft. Und als musikalische Rebellen fühlen sie sich auf den Plan gerufen, um ihre Stimmen zu erheben. „Dabei“, so Mandoki, „reklamieren wir nicht die allein objektive Wahrheit für uns, sondern versuchen einfach authentisch, integer, ehrlich zu sein und Antworten auf Herausforderungen unserer Zeit zu geben.“
Das Doppelalbum aus den einzeln betitelten CDs „Living in the Gap“ und „Hungarian Pictures“ nimmt eindringlich zu gesellschaftlichen Veränderungen Stellung. Es ist ein Album, das sich durch eine Eigenschaft besonders auszeichnet: Relevanz. Dieses Doppelalbum ist ein kraftvolles Statement, verpackt in anspruchsvolle Musik. Starke Songs, in virtuoser Form dargeboten von großen Künstlern, eine knallharte Abrechnung mit dem eigenen Generationsversagen der vergangenen Dekaden. Ein „Stopp!“ dem „Weiter-so“. „Als Künstler ist es mir ein besonderes Anliegen, überall dort Brücken zu bauen, wo Risse entstanden oder wenn eine Spaltung so eklatant zu Tage tritt“, so Leslie Mandoki zum neuen Album.
Wer hier alles mitwirkt, hat schon WHO-IS-WHO-Charakter: Bobby Kimball (Toto), Chris Thompson (Earth Band), Ian Anderson (Jethro Tull), Jack Bruce (Cream), Nick van Eede (Cutting Crew), Peter Maffay, David Clayton-Thomas (BS&T), Tony Carey (Rainbow), John Helliwell und Jesse Siebenberg (Supertramp), Julia Mandoki, Al di Meola, Mike Stern, Simon Phillips, Randy Brecker, Ada Brecker, Bill Evans, Till Brönner, Cory Henry, Richard Bona, Steve Bailey – und das sind noch nicht alle!
Ob die „Fridays For Future“ Bewegung wirklich auf einen Soundtrack wie „Young Rebels“ gewartet hat, mag dahingestellt sein. Zumindest ist Mandoki einfach ein genialer Netzwerker und nutzt seine Kontakte gekonnt. Die erste CD funktioniert als Konzeptalbum zur Gesellschaftspolitik. Musikalisch ist das vielschichtig mit einer kreativen Rock-Attitüde. Sehr spannend bezieht sich die progressive zweite CD auf klassische Themen von Béla Bartók mit Neukompositionen und inkludierten Songs. Ambitioniert!
50 Jahre Jethro Tull – das feierte Ian Anderson in den letzten Monaten und Jahren vor allem mit einem ReRelease der unzähligen Studioalben, neu abgemischt von Steven Wilson. Macht Sinn, denn seine Musik ist einfach Kult! Wer gar nichts von Jethro Tull zu kennen glaubt, dem kann man immer noch „Locomotive Breath“ vorspielen. Oder eben die neue Compilation zum 50. Geburtstag in die Hand drücken. „50 for 50“ heißt das feine Teil.
Vor 50 Jahren betrat die Progressive-Folk-Rock-Band im Vereinigten Königreich die Bühne der Rockmusik und begann einen unvergleichlichen Trip durch Rock, Folk, Progressive und Konzeptrock. Ihre erste Show spielten sie am 2. Februar 1968 im heute legendären Londoner Marquee-Club. Dies war der erste Schritt einer epischen Reise, in deren Verlauf Jethro Tull eine der einflussreichsten und erfolgreichsten Progressive Rock-Bands wurden. Auch heute noch ist die Band unter der Leitung von Gründer Ian Anderson unterwegs und wird ihre Fans mit einer umfassenden Welttournee zur Feier ihres 50-jährigen Bandbestehens elektrisieren.
Um Jethro Tull bei den Feierlichkeiten ihrer historischen Erfolge zu unterstützen, veröffentlichen Parlophone ein karriereumfassendes 3-CD-Set mit 50 Songs aus allen 21 Studioalben der Band – ausgesucht und zusammengestellt von Bandleader Ian Anderson persönlich. Mir liegt zur Review leider nur die „50th Anniversary Collection“ als Einzel-CD vor, die die wichtigsten Tracks aus dem Dreierpack zusammenfasst. Aber das reicht schon aus – denn eigentlich sollte man die kultigen Album ohnehin besser am Stück hören.
„50 for 50“ bietet einen umfassenden Gesamtüberblick über den reichhaltigen und außergewöhnlich vielfältigen musikalischen Katalog, in dem sich zahlreiche Platin- und Gold-Alben befinden. Das Tracklisting wurde in chronologischer Reihenfolge zusammengestellt und offenbart die stete musikalische Evolution der Band mit frühen, bluesbeeinflussten Tracks wie „Beggar’s Farm“ und „A New Day Yesterday“, mit klassischen Rockern wie „Aqualung“ und „Locomotive Breath“, mit ProgRock-Highlights wie „Skating Away“ und „Critique Oblique“ und beeindruckenden Folk-Tunes wie „Songs From The Wood“ und „Heavy Horses“.
Die Einzel-CD „50th Anniversary Collection“ ist dann halt eine (auf jeden Fall beeindruckende und überzeugende) Best-Of-Platte. Nicht essentiell, aber ein schönes Nostalgiestück zum Jubiläum.
Mit „Stand Up“, ihrem zweiten Album, haben Jethro Tull schon früh den Schritt vom blues-lastigen „This Was“ hin zu einer Mischung aus Progressive Rock und Folkrock geschafft, die über Jahrzehnte ihr Markenzeichen darstellte. Es ist übrigens das einzige Werk, das Jethro Tull auf Platz 1 in den britischen Charts platzieren konnten. Im Entstehungsjahr 1969 stieß Gitarrist Martin Barre zur Band, und Frontmann und Blickfang Ian Anderson führte die Folkrock-Klänge in den Sound der Band ein. Parlophone präsentiert nun eine Deluxe-Version als Doppel-CD plus DVD unter dem Titel „Stand Up (The Elevated Edition)“ – und wieder ist es Remaster-Spezialist Steven Wilson, der sein goldenes Händchen mit im Spiel hat.
„Stand Up“ war das erste Album, auf dem Ian Anderson die Regie übernahm und sowohl die Musik als auch die Texte beaufsichtigte. Das Ergebnis besteht in einer Reihe von unterschiedlichen Songs, deren stilistische Bandbreite vom wirbelnden Blues „A New Day Yesterday“ bis zur ausgelassenen Party mit Mandoline auf „Fat Man“ reicht. Auch das in den Siebzigern kultig verehrte „Bourée in E-Minor“ von Johann Sebastian Bach gehört zum Repertoire – ein Stück, das zum Markenzeichen der Band werden sollte und noch heute auf Konzerten Ian Andersons gern gehört ist.
Auf CD1 befinden sich Steven Wilsons neue Stereomixe des Original-Albums sowie eine ganze Reihe rarer Aufnahmen, darunter auch eine bisher unveröffentlichte Version von „Bourée“. Weitere Höhepunkte bieten einige Songs, die in den BBC-Studios aufgenommen wurden, sowie die Stereo-Single-Mixe von „Living In The Past“ und „Driving Song“.
CD2 präsentiert Jethro Tull live in Schweden, wo die Band den Support-Gig für Jimi Hendrix im Januar 1969 spielte. Nur kurze Zeit, nachdem Barre zu Band gestoßen war, enthielt das Repertoire einige Songs aus dem Debüt-Album („A Song For Jeffrey“ und „My Sunday Feeling“), aber auch zwei Songs, die auf „Stand Up“ landen sollten: „Back To The Family“ und „Nothing Is Easy“. Die Disc wird abgerundet von den Mono-Single-Mixes von „Living In The Past“ und „Driving Song“. Ein schönes Zeitdokument, das uns die Jethro Tull der Anfangszeit auch live nahebringt.
Die DVD enthält Konzert-Ausschnitte, in denen Jethro Tull „To Be Sad Is A Mad Way To Be” und „Back To The Family” performen. Viel wichtiger ist aber Wilsons Art der klangtechnischen Vergangenheitsbewältigung im DVD-Audio-Format, die mal wieder einen Sound-Genuss vom Feinsten abliefert. Die Disc bietet Steven Wilsons Remix des Original-Albums in PCM-Stereo und im DD/DTS 5.1. Surround-Sound, eine hochaufgelöste 96/24-Übertragung der Original-Stereo-Mastertapes sowie die Direktübertragung der Original-Mono- und Stereomixes von „Living In The Past“ und „Driving Song“. Damit ist dieser Release im Hardcover-Book-DVD-Style mal wieder ein Meilenstein im Backkatalog der großartigen Jethro Tull.
Kult, Kult, Kult! Wer gar nichts von Jethro Tull zu kennen glaubt, dem kann man immer noch „Locomotive Breath“ vorspielen. Kein Donnerstag in meiner Stammdisco, an dem dieser Titel nicht lief. Und keine Klassenparty in den 80ern, an der er nicht mindestens einmal gespielt wurde. Doch trotz des Überhits wollen wir die Klasse des kompletten Albums „Aqualung“ nicht vergessen, die nun in einer „40th Anniversary Adapted Edition“ auf den Markt kommt.
40 Jahre? Das stimmt nicht so ganz – erschien das Album doch 1971. So gab es bereits vor fünf Jahren die Special Edition im Remaster von Steven Wilson, welche nun mit zusätzlichen Songs, der EP „Life Is A Long Song“, einem Promo-Video von 1971 und allen Tracks in mehreren audiophilen Formaten erweitert wird. Im DVD-Format eine schöne Ergänzung zu den in den letzten Jahren erschienenen ReReleases.
Es war im Jahr 1971 das vierte Album der Briten und ist bis heute der unbestrittene Höhepunkt ihrer Karriere. Neben „Locomotive Breath“ nehmen auch „Crosseyed Mary“ und „My God“ im Backkatalog von Jethro Tull eine Sonderstellung ein. Es gibt kaum Songs, die charakteristischer für das Werk der Band stehen als „Aqualung“ in seiner Gesamtheit. Virtuos von der ersten bis zur letzten Minute und ein Konglomerat aus Rock, Blues, Folk und klassischen Versatzstücken.
Die Doppel-CD beinhaltet auf CD1 den Stereo Mix des Albums von Steven Wilson. Er ist behutsam an die Aufnahmen heran gegangen, hat den multi-instrumentalen und geradlinigen Stil bearbeitet, aber nicht zu seinen Ungunsten verändert. Klar, Wilson ist Perfektionist und das bringt stets einen Tick Sterilität in seine Produktionen. Es muss aber niemand ein Umstülpen fürchten. Vielmehr werden schon immer vorhandene Feinheiten stärker heraus gearbeitet und in das Album, das seit jeher als songbasiertes Konzeptalbum funktioniert, integriert.
Die zweite CD enthält frühe und zum Teil unveröffentlichte Versionen einzelner Titel aus den Jahren 1970 und 1971. „Als ich damals diese Songs schrieb und aufnahm, hätte ich nie gedacht, dass wir jemals eine 40th Anniversary Version feiern würden“, erinnert sich Ian Anderson rückblickend. Nun ist es doch der Fall und wir freuen uns an frühen Versionen einzelner Songs. Nicht essentiell, aber eine nette Ergänzung, die den Spirit der frühen 70er Jahre einfängt. Höhepunkt ist auf jeden Fall die neu eingearbeitete EP „Life Is A Long Song“, die auf der 2011er Veröffentlichung nicht enthalten war.
Im DVD-Teil gibt es die für Steven Wilson inzwischen unentbehrlichen Audio-Mixe im 5.1 Surround Sound und diverse Soundspielereien wie eine Direktübertragung des Original-Stereomasters in 96/24 LPCM Stereo sowie den Original-Quadrophonie-Mix 4.1. als DTS 96/24 und AC3 Dolby Digital Surround. Ich muss ehrlich sagen, dass ich solche technischen Finessen nicht brauche, aber so funktioniert der gute Wilson nun mal – und wird auch von Musikfreunden weltweit für diese Arbeit anerkannt. Immerhin liefert DVD 2 zusätzliches Bildmaterial, nämlich den Promotion-Film „Life Is A Strong Song“ von 1971 mit dem neu gemixten Stereo-Soundtrack, der hiermit zum ersten Mal erscheint.
Das Album „Aqualung“ gehört in jede Musiksammlung – und die hier vorliegende Version dürfte die ultimate sein. Dem ist nichts mehr hinzu zu fügen.
Bei den Tull-Jüngern weltweit füllt sich nach und nach das Bücherregal mit Neuauflagen der frühen Alben im Hardcover-Deluxe-Format. Aktuell gibt es den Klassiker „Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die!“ in einer Neu-Edition zum 40jährigen Jubiläum. Den Remix hat wiederum Meister Steven Wilson übernommen. Es gibt ohnehin keine Prog-Alben, an die er sich nicht heran wagt. Und was Wilson aus den alten Bändern macht, hat immer Hand und Fuß. Zudem wird immer eine Masse an neuem Material ausgegraben, das Fans und Musikkenner glücklich macht.
„Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die!“ sollte ursprünglich ein Werk für die Bühne werden. Ein Musical über einen alternden Rockstar, das jedoch nie fertig gestellt wurde. Stattdessen verwendete man das Material für Jethro Tulls neuntes Studioalbum, das somit logischerweise wieder zum Konzeptalbum wurde. Der Handlung kann man anhand eines Comics folgen, der ursprünglich auf der Innenseite der Doppel-LP abgedruckt wurde. Hier findet er sich im buchformatigen Booklet.
Ein Kuriosum haben wir direkt bei CD 1: Wilson verwendet nicht das originale Studioalbum für den Remaster, sondern eine TV-Studioaufnahme. Seinerzeit existierte eine Vorgabe der Gewerkschaften, die es der Band untersagte, das Original-Album lippensynchron für die Ausstrahlung im Fernsehen zu nutzen. Daher mussten Jethro Tull im März 1976 erneut ins Studio, um das gesamte Album für diesen Zweck neu einzuspielen. Diese Aufnahme verwendet Wilson für seinen Remix, da die originalen Multi-Track-Bänder des Albums nicht mehr auffindbar waren. Da, wo es möglich war, gibt es noch Remixe des Originals, die als fünf Bonustracks angehängt wurden.
Der Vollständigkeit halber bietet dann CD 2 das Originalalbum unbearbeitet sowie eine Reihe von Bonustracks wie „Commercial Traveller“, „Salamander Ragtime“ und eine frühe Version von „One Brown Mouse“. DVD 1 lässt uns an besagtem TV Special teilhaben, das bisher nicht käuflich zu erwerben war. Und da Steven Wilson seinen Perfektionismus – wie wir wissen – nie zügeln kann, liefert DVD 2 als Audio-DVD nochmal viele Tracks, die er zum Bearbeiten in die Finger bekommen hat, in Topqualität. Auch hier hat das Originalalbum seinen Platz.
In der bisherigen Remaster-Reihe ist „Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die!“ das Schwierigste, da Wilson weniger Original-Material zur Verfügung stand als bei den Werken zuvor. Trotzdem hat er das Beste daraus gemacht und liefert ein ansehnliches und vor allem anhörbares Gesamtpaket, das sie Historie von Jethro Tull fortschreibt. Im 80seitigen Booklet gibt es viele Infos zur Entstehungsgeschichte des Albums, massig unveröffentlichte Fotos und Track-by-Track-Infos von Ian Anderson himself. Fügt sich wunderbar in die Reihe ein.
Der Nächste bitte: Jetzt feiert „Minstrel In The Gallery“ von Jethro Tull Jubiläum. 40 Jährchen hat das Teil schon auf dem Buckel. Fans der Band haben sowieso inzwischen ein ganzes Bücherregal für die neu editierten Alben frei geschaufelt. Bei „Thick As A Brick“ sah das ja noch wie ein kleiner Gag am Rande aus. Aber das Backstein-Format, äh, ich meine die Hardcover-Deluxe-Box, hat sich bei den weiteren Releases mehr als durchgesetzt. Und verdammt – das sieht auch wirklich edel aus an der Wohnzimmerwand.
Das Album entstand, während man mit „War Child“ auf Tour war. Alle Kompositionen stammen von Ian Anderson. Aufgenommen wurde es innerhalb von zwei Monaten in Monte Carlo. Auffällig ist erneut die Vielfalt von Streicher-Arrangements hin zur akustischen Gitarre und natürlich Ians Virtuosität an der Querflöte. Dabei war es zudem das rockigste Werk seit dem Meilenstein „Thick As A Brick“. Kein Wunder, dass es auch ohne echte Single die Charts stürmte. Fans denken mit wohligem Gefühl an das erste Hören von „Baker St. Muse“, diesem viertelstündigen, progressiven Meisterwerk, das sich als Suite dem Leben eines Straßenmusikers widmet.
Disc 1 enthält das remasterte Originalalbum plus sieben Bonustracks. CD 2 enthält eine Live-Aufnahme aus der legendären Olympia-Halle in Paris vom 5. Juli 1975, die ein paar Monate vor der Veröffentlichung von „Minstrel In The Gallery“ mitgeschnitten wurde. Darauf finden sich dann auch Klassiker wie „My God“ inklusive „Living In The Past“, „Aqualung“ und „Locomotive Breath“. Ganz klar ein Leckerbissen für Nostalgiker.
Die DVDs enthalten DTS & DD 5.1 Surround-Mixe sowie einen 96/24 PCM Stereomix und den 8-minütigen Film, den die Band am 6. Juli 1975 in Paris drehte. Dass Steven Wilson wieder seine Hände im Spiel hat, braucht man nicht extra zu erwähnen, oder? Der Perfektionist holt mal wieder das letzte aus dem Soundmaterial raus. Der Vorwurf von Sterilität wird ihn inzwischen wohl verfolgen – doch so sind eben die Zeichen der Zeit. Wer Knisterklang will, legt die alte Schallplate auf, wer den reinen, störungsfreien Genuss sucht, greift zu den Arbeiten von Wilson.
[itunesButton]Jethro Tull bei iTunes[/itunesButton]
[amazonButton]Jethro Tull bei Amazon[/amazonButton]
Wie steht auf Plakaten und Flyern? „Ian Anderson plays The Best of Jethro Tull“ – aber das ist Jacke wie Hose. Tatsächlich haben Jethro Tull sich offiziell im Jahr 2014 aufgelöst. Wie sich der schottische Sänger und Flötist mit seinem kongenialen Partner Martin Barre in die Haare bekommen hat, ist mir nicht bekannt. Aber wenn Altersstarrsinn mit schottischer Dickköpfigkeit zusammen treffen, gibt es sicher genug Reibungspunkte. Jedenfalls geht Barre seit 2012 mit eigener Band auf Tour und spielt alte Tull-Songs. Im Gegenzug veröffentlichte Anderson sein Werk „Thick As A Brick 2“ unter der Bezeichnung „Jethro Tull’s Ian Anderson“. Aber braucht man solche juristischen Spitzfindigkeiten? Eigentlich ganz egal. Kenner wissen, wer Ian Anderson ist. Und unter dem Publikum in Trier, bei dem ein riesiger Prozentsatz die 50 deutlich überschritten hatte, war wichtig, dass ihr musikalischer Held als Derwisch mit der Querflöte auf der Bühne steht. Mehr nicht.
Das Konzept sah ursprünglich vor, dass Ian Anderson zunächst sein Soloalbum „Homo Erraticus“ komplett zur Aufführung bringt, bevor es dann mit dem Besten von Jethro Tull weiter geht. Doch man konnte sich schon denken, dass er diese Idee im Lauf der Tour fallen lässt. Zu oft habe ich schon erlebt, wie Künstler sich so etwas auf die Fahne schrieben, aber letztlich aufgaben, weil das Publikum bei den neuen Sachen nun mal nicht mit geht und keine Stimmung aufkommt. Ich persönlich find’s schade, denn ich hatte mich sehr auf „Homo Erraticus“ komplett und am Stück gefreut. Aber für die Stimmung im Amphitheater war es wohl besser, die alten und neuen Songs zu durchmischen.
Das altrömische Ambiente war wie geschaffen für einen Rock-Dinosaurier. Ian Anderson ist neben seinen aktuellen Ergüssen sehr auf die Vergangenheit bedacht und bringt mit Unterstützung von Prog-Mastermind Steven Wilson den Backkatalog nach und nach neu zur Geltung. Gerade wurde „A Passion Play“ als Special Edition heraus gebracht. Kein Wunder also, dass die Zuschauer sich an einem extrem schwierigen Song wie „Critique obligue“ erfreuen durften.
Überraschend war dann aber doch, wie die neuen Stücke, beispielsweise „Doggerland“ und „The Engineer“, beim Publikum ankamen. Ian Anderson ist ein fantastischer Songwriter und schreibt lässig im Stil der 70er Jahre. „Homo Erraticus“ ist in Wirklichkeit auch „Thick As A Brick 3“, denn wieder steht Gerald Bostock im Mittelpunkt. Diesmal lautet die Story so, dass Bostock ein Buch namens „Homo Erraticus“ in Songtexte umgewandelt hat. Wiederum also ein astreines Konzeptalbum, das Schlüsselevents der britischen Geschichte mit Bezügen zu Prophezeiungen bis heute und in die Zukunft untersucht. Visionen vergangener Leben hervorgerufen durch Malaria, erschaffen die Charaktere durch deren Augen die Geschichten erzählt werden, wie die eines Steinzeitnomaden, eines Eisenzeit-Schmieds, eines christlichen Mönchs, eines Schankwirtes und sogar Prinz Alberts. Ob ich Konzeptalben liebe? Oh ja, das tue ich.
Man kann Ian Anderson seine Qualitäten im Studio gewiss nicht absprechen. Live blättert der Lack stimmlich ein wenig ab. Kein Problem: Er hat sich einen Musical-Sänger als Unterstützung dazu geholt. Ryan O’Donnell deckte sowohl große gesangliche Bereiche ab, er diente aber auch als dramaturgische Unterstützung und leistete einige schauspielerische Einsprengsel. Das funktionierte so gut, dass er oft Szenenapplaus bekam. Ian Anderson hingegen schonte seine Stimme bisweilen, war dafür aber an der Flöte um so mehr in Action. Schnell, energisch, bisweilen noch in alter Manier auf einem Bein stehend – das war wie in alten Zeiten. Besonders beeindruckend fand ich aber die selbstvergessenen Soloparts, wenn man Andersons Stimme durch die instrumentalen Töne mit hörte und er sich völlig zu verausgaben schien. Was hier an Show geboten wurde, war phänomenal.
Wir hörten „Sweet Dream“ und eine wundervolle Version von Bachs „Bourée“. Es gab „Teacher“ für hartgesottene Altfans und natürlich den Titelsong zu „Thick As A Brick“. Anderson lobte das Amphitheater und fühlte sich anlässlich der historischen Stätte genötigt, „Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die“ anzustimmen. Außerdem gab es das folkige „Songs From The Wood“, das ich gerne mal als Highlight bezeichnen will. Vertrackte Arrangements, ein erzählerischer Vortrag. Die Mischung aus progressiven und folkigen Elementen mit ein klein wenig Musical war einfach stimmig. Den Siedepunkt erreichte das Amphitheater dann bei „Sitting on the park bench“, der ersten Textzeile des Songs „Aqualung“, und beim anschließenden Rausschmeißer „Locomotive Breath“. Da hielt es keinen mehr auf den Plätzen. Alles in allem war das Konzert ein schönes, rockiges Konzerterlebnis. Wie gesagt hätte ich mir mehr Theatralik und Showeffekte für eine Komplettlösung von „Homo Erraticus“ gewünscht. Aber was soll’s – das ist Jammern auf höchstem Niveau.
Die Konzertreihe im Trierer Amphitheater wird fortgesetzt: 1.8.2014 IN EXTREMO
2.8.2014 Adel Tawil
[amazonButton]Hier kannst Du „Homo Erraticus“ bestellen[/amazonButton]